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Zwei Tage später saß er in einem der kahlen Räume der Agentur, eine Tasse Kaffee und ein Glas Wasser neben sich auf einem Beistelltisch, und sah sich ein Fußballspiel auf dem in die Wand eingelassenen Großbildschirm an. Miller hatte ihn hierher geführt und sich dann entschuldigt, er sei zurzeit „unglaublich beschäftigt“, und zwar mit dem Entwurf einer Kampagne für oder gegen das Tempolimit auf Autobahnen; er hatte es nicht richtig verstanden.

Er musste sich das ganze Spiel anschauen, 90 Minuten, während lokale TV-Stationen und sogar große Privatsender kurze Szenen für ihre „bunten Magazine“ herausgeschnitten hatten, wie ihm von Miller berichtet worden war. Werbebanden, vornehmlich von den Herstellern alkoholischer Getränke, diverser Sportutensilien und von örtlichen Gastronomiebetrieben gestaltet, trennten das Fußballfeld von den mit einigen hundert, vielleicht auch an die tausend fröhlichen Zuschauern. Auf beiden Seiten der Mittellinie stand jeweils ein Fass Bier, aus dem sich die Spieler beider Mannschaften in kurzen, aber unregelmäßigen Abständen Plastikbecher voll schenken ließen. Von professionellen Zapfern, die auch darauf zu achten hatten, dass kein Spieler das Bier heimlich wegschüttete, hatte Miller erklärt, „damit es fair zugeht“. Denn am Ende der neunzig Minuten musste jedes Team sein Fass, fünfzig Liter Pils, geleert haben, gleichgültig, wie oft oder wie viel der einzelne Spieler trank. Ersatzleute waren nicht zugelassen. Sie mögen das ein wenig ordinär finden, hatte Miller nach einem Blick in das Gesicht seines Gegenübers gesagt, aber für unsere Agentur war das etwas Neues: Wir holen die Leute dort ab, wo sie stehen; wir nehmen ihre Freizeitbedürfnisse ernst.

Miller hatte den Ton abgestellt und scheinbar die Fernbedienung mitgenommen. So wusste er bis zum Schluss nicht, mit welcher Elf er nach Mexiko fliegen würde. Er versuchte, die Tore mitzuzählen, kam aber durcheinander, weil vor der Pause etliche auf beiden Seiten fielen und die Kamera immer wieder zu den Fässern an den Seitenlinien schwenkte, wo sich einige Spieler schon in den Anfangsminuten recht häufig bedienten. Einige Akteure trugen Bäuche von einem Umfang vor sich her, wie man ihn auf Sportfeldern relativ selten sieht, aber es gab auch Männer in jedem Alter bis Mitte Fünfzig, die austrainiert wirkten; und dann waren da noch ausgemergelte Alkoholiker mit scharfgeschnittenen Gesichtern, die zäh und heimtückisch kämpften, gegen Ende des Spiels sich jedoch meist nahe der Mittellinie aufhielten, offenbar in Sorge um die schwindenden Biervorräte. Vor allem behäbige Verteidiger fanden sich während der Angriffe ihrer Mannschaft an den Fässern ein, und der eine oder andere verließ diesen Posten auch dann nicht mehr, wenn das eigene Tor in Gefahr war. Schwerer taten sich die Keeper, da sie einen ziemlich weiten Weg zum Bier zurückzulegen hatten. Mit fortschreitender Matchdauer verloren sie allerdings mehr und mehr die Scheu oder ihr Pflichtgefühl und warteten Spielunterbrechungen nicht mehr ab. So rollte mancher Ball ins leere Tor. Zwar rannten sich einige ehrgeizige Spieler die Lunge aus dem Leib, dribbelten, grätschten, flankten und foulten, hatten keine Zeit zum Trinken, doch dafür übernahmen andere ihren Part an den Fässern und ließen sich allenfalls auf halbherziges Mittelfeldgeplänkel ein, so dass die Bilanz zwischen Sport und Alkoholisierung einigermaßen ausgeglichen war. Die Wirkung hatte zunächst auf sich warten lassen, da es sich offenbar in der Mehrzahl um Männer handelte, die nicht zum ersten Mal über den Durst tranken, aber sie kam - für einige sogar recht heftig gegen Ende der Begegnung, zumal die leichte Bekleidung der Zuschauer und die scharfen Schatten auf dem Rasen darauf schließen ließen, dass in voller Sonne und bei hohen Temperaturen gespielt wurde. Ein Elfmeter wurde fünf, sechs Meter neben das Tor geschossen, und ein Spieler flog dem Ball, den er einwarf gleich hinterher. Schließlich wankten doch einige der eifrigeren Trinker, einer übergab sich an der Seitenlinie. Dann war Schluss. Zwei Unparteiische hoben die Metallfässer hoch und schüttelten sie, doch beide Teams hatten bereits die letzten Tropfen herausgekippt. Ein Mann in einer Art legerer Uniform mit der Inschrift GERMAN MEGA trat in den Mittelkreis und verkündete offenbar das Ergebnis. Die Spieler der einen Mannschaft hoben die Arme, hüpften umher, fielen sich um den Hals oder drehten sich nur trunken um die eigene Achse, sie hatten gewonnen. Und er wusste, mit wem er nach Mexiko fliegen würde.

Mit dieser feinen Truppe sind Sie also unterwegs. Ohne dass er es bemerkt hatte, war Miller in den Raum gekommen. Zum ersten Mal klang etwas wie Ironie oder Geringschätzung in der Stimme mit, die sonst Wertungen allenfalls als subtile Dehnungen ahnen ließ. Morgen haben Ihre Reisegefährten Clubabend, eine gute Gelegenheit, sie kennen zu lernen. Sie werden doch sicherlich Zeit haben, Sie haben doch nicht anderes zu tun? Mit sanftem Sarkasmus deutete Miller an, dass er die Verhältnisse einzuschätzen wusste, in denen sein Reiseleiter lebte.

Das Treffen fand im Hinterzimmer eines Vereinslokals statt, einer langgezogenen Baracke, die sich an die moderne Sporthalle des relativ renommierten Zweitligaclubs anschmiegte. Es roch nach altem Friteusenfett und kaltem Rauch, und als er kam, saßen die meisten Spieler schon vor ihrem ersten Bier. Ein paar erkannte er von den Filmausschnitten, den schnauzbärtigen Torhüter beispielsweise, einen großen, breiten Mittvierziger, den sie Emil nannten, einen jüngeren schlanken Mann mit dunklem Teint, der einer der besten Techniker im Match gewesen war und den er nicht ein einziges Mal zum Fass hatte gehen sehen, dann zwei ruhige, stämmige Verteidiger, von denen der eine stotterte. Der Dunkelhäutige, ein Nordafrikaner, wie er bald erfuhr, wurde von den anderen Ali gerufen. Es waren auch ein langer, hagerer Mann mit einem fahlgelben Haarkranz um die Glatze und extrem abstehenden Ohren, der Otto hieß und pausenlos schmutzige Witze erzählte, denen er ein wieherndes Gelächter folgen ließ, und zwei, drei kleine, wieselige Burschen, die wie Pariser Apachen wirkten, dabei. Er würde sie alle noch kennen lernen. Haben Sie einen Film, eine PowerPoint-Präsentation oder irgendeine Animation zum Thema Mexiko? Hatte Miller ihn gefragt, und er musste verneinen und auf ein paar Dias verweisen. Fotos, die etwa fünfzehn Jahre alt und mit einer Billig-Kamera geschossen waren, aber das hatte er Miller nicht gesagt. Also stand er da mit zweiundzwanzig gerahmten Dias, justierte den Projektor und scherzte müde, sein Bildervorrat sei so bescheiden, weil ohnehin nach zwei Dutzend Urlaubsfotos noch jeder in Tiefschlaf gesunken sei. Zu Beginn zeigte Miller einen Werbestreifen, der die Bucht von Acapulco und die Strände von Cancun zeigte, wobei verschwiegen wurde, dass die Reiseroute, die er inzwischen kannte, beide Orte nicht berühren würde. Die Männer schienen angetan vom Anblick weißen Sandes, hoher Palmen, kühler Drinks und brauner Mädchen in Bikinis. Danach verhielt sich die Gruppe zunächst noch ruhig, als er die ersten Motive, den Zócalo von Ciudad de México, die Pyramiden von Teotihuacan und das pulsierende Oaxaca, an die Wand warf, als er dann aber einige Erklärungen zur Geschichte des Landes versuchte, von Cortés’ Feldzug gegen die Azteken und der Mexikanischen Revolution sprach, wurde sie ungeduldig. Und als die Zwangschristianisierung der Indianer und die sozialen Ungerechtigkeiten erwähnt wurde, relativ kurz, schließlich wusste er, dass er künftige Urlauber ohne historische oder politische Bildungsbedürfnisse vor sich hatte, schwatzten einige bereits ostentativ desinteressiert miteinander. Als er versuchte, wenigstens ihr Interesse für die geographischen und demographischen Fakten zu wecken, waren sie am Ende der Geduld. Mexiko ist übrigens in jeder Beziehung größer als Deutschland, sagte er, weil er ihnen damit imponieren wollte. Größer sind hoffentlich die Titten da, sagte Otto und wieherte. Ja, was ist mit den Weibern? wollte ein schartiger Kleiner wissen, dessen Namen oder besser Künstlernamen, Stan, er erst später erfahren sollte, ihn sich aber nicht lange würde merken müssen. Der Frager fuhr sichtbar angesäuert fort: Scheiß auf die Zahlen und die Namen, die eh keiner aussprechen kann, wir sind hier schließlich nicht auf der Penne. Und was säuft man da unten? Von Tequila und so Fusel kann man ja wohl nicht leben. Emil grinste ihn an, und er glaubte eine versteckte Drohung in der Miene des Torwarts zu lesen, eine Warnung vor der nächsten Zukunft, die er sich so übersetzte: Du hältst uns für primitive Kaffern, aber wir nehmen dich nicht ernst, und da drüben haben wir das Sagen. Zwei, drei Ernsthaftere hatten sich die Dias mit verhaltenem Interesse angeschaut und verhielten sich auch jetzt ruhig. Immerhin, dachte er, immerhin nicht alle.

Später saßen Miller und er in einem Bistro in der City. Miller, der Pastis mit Wasser trank, übergab ihm eine Liste der Hotels, in denen sie absteigen würden. Die Leute wirken ein wenig ungehobelt, sagte der Agentur-Mann mit feinem Lächeln, aber sie sind leicht zu lenken. Vor allem, wenn sie in einem Land sind, dessen Sprache sie nicht verstehen. Übrigens haben wir für Sie zwei Führer oder Assistenten, ganz wie Sie wollen, verpflichtet, zwei Spanier, die Mexiko gut kennen. Die beiden werden den Mannschaftsbus fahren, bei der Einquartierung helfen, Kontakt mit den Vereinen aufnehmen, bei denen die Freundschaftsspiele stattfinden, und Ihnen in punkto Freizeitgestaltung zur Hand gehen. Sie sprechen allerdings kein Deutsch.

Er trank sein Bier aus und bestellte ein neues. Er hatte die Ungeduld in den Augen der meisten Fußballspieler gesehen, die Gier nach besoffenem Vergnügen und exotischer brauner Haut, nach all dem, was sie unter „Abenteuer“ verstanden, den libidinösen Amoklauf weit weg von Familie, Freundin oder Vorgesetztem. Und wortlos hatten sie ihm, den sie eigentlich eher für einen Pedanten und Spielverderber hielten, die Forderung gestellt, es sie erleben zu lassen. Ohne Rücksicht auf Verluste, ohne Schonung der Gastgeber, seien es Kneipenwirte, Geistliche oder indianische Nutten. Und er war verantwortlich für die Show, schließlich wurde er dafür bezahlt. Er betrachtete Millers Gesicht, das ewig um die schmalen Lippen spielende Lächeln, die linke Augenbraue ständig zu einem stumpfen ironischen Winkel hochgezogen, das energische Kinn auf eine schlanke Hand mit langen Fingern und perfekt manikürten Nägeln gestützt, und er wusste, warum der Mann nie selbst eine solche Himmelfahrtstour leiten, ja nicht einmal den Einsatz eines subalternen, aber unentbehrlichen Angestellten riskieren würde. Dennoch fragte er: Reizt Sie eine solche Reise nicht? Erstens ist Mexiko ein faszinierendes Land, zweitens handelt es sich doch um eine Art spannendes Gruppenexperiment. Miller erklärte, dass er genug damit zu tun habe, die einlaufenden Gelder zusammenzuhalten und zu reinvestieren. Dazu braucht man Ideen, sagte er, man muss ständig neue Events kreieren, neue Bedürfnisse schaffen, neue Nischen finden, die Durchführung planen, Kosten, personelle Ressourcen und Werbewirksamkeit im Auge behalten. Meine Abenteuer sind virtueller oder geistiger Natur, sagte er, sie spielen sich in meinem Kopf ab. Ich muss die Sponsoren finden, die Medien aufmerksam machen, die Akteure kontrollieren (ohne dass sie es merken), die Gewinnmarge berechnen und für einen Flop gerade stehen. Gerade jetzt habe ich eine Veranstaltungsreihe konzipiert, deren Formate ich als sophisticated, zumindest aber als fashionable bezeichnen würde, die meines Erachtens aber Massenpotential hat. Aber zurück zu Ihnen: Für Mexiko und das Fußballturnier habe ich Fernsehsender und sogar die überregionale Presse und für die Werbung etliche Firmen von der Schnapsfabrik über Fitness-Studios bis zu Großschlachtereien gewonnen, nur leider keinen Reiseveranstalter. Und so müssen wir auf das Know-how erfahrener, landeskundiger Fachleute zurückgreifen, um unsere Schäfchen sicher durch die wilden Kordilleren zu schleusen. Hier vertiefte sich Millers Lächeln, und zum ersten Mal schien er ehrlich belustigt. Und deshalb – er hob das Glas, wie um einen Toast auf einen gefeierten Stargast auszubringen – brauchen wir Sie.

Verbrannte Schiffe

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