Читать книгу Die Schlächterin - Vergeltung - J.S. Ranket - Страница 4

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Knapp unter der zulässigen Höchstgeschwindigkeit jagte Taylor Edwards mit ihrem Nissan X-Trail auf der N3 Richtung Norden. Denn dass sie die blitzefreudigen Südafrikaner aus dem Verkehr zogen, konnte sie sich nicht leisten. Sobald Dollenbergs Leiche entdeckt werden würde, brach mit Sicherheit die Hölle los. Und dann wollte sie schon einen gehörigen Abstand zwischen sich und dem wütenden Clan gebracht haben.

Der Familie gehörte ein weitverzweigtes Konglomerat aus Einkaufszentren, Restaurants und Weingütern und sie ging mit denen, die ihnen im Weg standen, nicht gerade zimperlich um. Genau deshalb nahm Taylor auch die über fünfhundert Kilometer bis Johannesburg in Kauf, anstatt einfach über den King Shaka Airport in Durban zu verschwinden. Es war zwar ziemlich unwahrscheinlich, dass jemand ihre Spur aufnahm, doch im Fall der Fälle konnte sie viel leichter auf einem Flughafen untertauchen, der fast fünfmal so viele Passagiere durch seine Terminals schleuste.

Ohne auf die beeindruckende Silhouette der Drakensberge zu achten, die sich am Horizont wie ein urzeitliches Reptil schlängelten, erreichte sie Harrismith und damit den Free State. Wahrscheinlich hatten sich die ersten Buren hier so wohl gefühlt, weil es sie an das flache Land ihrer holländischen Heimat erinnerte. Doch für Taylor war es einfach nur einschläfernd.

Zum Glück meldete sich die Tankanzeige mit einem nervigen Gong und bewahrte sie so vor einem Flug in den Straßengraben. Kurz vor Kafferstad entdeckte sie eine kleine Tankstelle, in der sie ihre Benzin- und vor allem ihre Koffeinvorräte auffüllen konnte. Keine zehn Minuten später war Taylor wieder auf der Nationaltrasse.

Sie klemmte sich das Lenkrad zwischen die Knie und stopfte sich die Reste eines Hot Dogs in den Mund, während im Getränkehalter der Mittelkonsole frisch gebrühter Kaffee dampfte. Mit der Zeit hatte sie sich sogar an das Fahren auf der linken Spur gewöhnt und konnte herzlich darüber lachen, wenn ein Tourist beim Abbiegen statt zu blinken, den Scheibenwischer betätigte.

Hätte ihr Rachel vor über einem Jahr prophezeit, in welche Richtung sich der kleine Freundschaftsdienst entwickeln würde, dann hätte sie ihre Freundin glatt für verrückt erklärt.

Damals hatte Taylors alte Schulkameradin mit jugendlicher Naivität in Las Vegas einen gutaussehenden Herzensbrecher geheiratet und war böse auf die Nase gefallen. Denn anstatt in die gemeinsame Zukunft zu investieren, entwickelte Rachels Noch-Ehemann eine unheimliche kriminelle Energie, die sie fast an den Rand des finanziellen Ruins gebracht hatte. Zwar erhielt sie als Abteilungsleiterin einer IT-Firma ein sehr üppiges Gehalt, doch das wurde vom luxuriösen Lebensstil des Heiratsschwindlers fast aufgefressen.

Wenn nicht bald ein Wunder geschah, oder Joshua Williams von den Trümmern eines abstürzenden Satelliten erschlagen werden würde, dann sehe es für ihre weitere Zukunft sehr schlecht aus. Von einer neuen Beziehung und dem Wunsch nach Kindern ganz zu schweigen.

Mehr aus Verzweiflung hatte Rachel ihr die Scheidungspapiere und eine Verzichtserklärung anvertraut.

Taylor besaß ein Diplom in Kommunikationsmanagement und arbeitete als freie Mitarbeiterin in derselben Firma. Ihre schrägen Aktionen und ihre höllisch guten Einfälle, die sie meist sehr innovativ in die Tat umsetzte, qualifizierten sie offenbar in Rachels Augen als ultimatives Werkzeug. Auch, weil sie sich selbst für einen halbnackten Lapdance nicht zu schade war. Denn zum einen musste sie sich mit ihrer sportlichen Figur und dem fein geschnittenen Gesicht nicht verstecken. Und zum anderen heiligte ihrer Meinung nach allein der Zweck die Mittel.

Also hatte Taylor sich ein paar Tage später mit Rachel in einem kleinen Café an San Diegos Mission Beach verabredet. Allerdings wollte sie ihre Freundin noch etwas auf die Folter spannen. Deshalb ließ sie es vorerst offen, ob sie es geschafft hatte, Joshuas Unterschrift zu ergaunern.

Gerade als zwei Skateboarder auf dem warmen Asphalt vorbeirauschten, klatschte Taylor den braunen Umschlag auf den Tisch.

„Erledigt!“, stellte sie nüchtern fest.

Überrascht starrte Rachel auf das Päckchen. Dann hob sie den Kopf und blickte ungläubig mit offenem Mund auf ihre Freundin.

Taylor hatte sich ihre braune Mähne zu einem straffen Zopf gebunden und grinste über das ganze Gesicht. Lässig schob sie mit ihrem Fuß einen Stuhl zurück und setzte sich langsam Rachel gegenüber.

„Du kannst den Mund ruhig wieder zumachen und mir ein Bier spendieren“, lachte sie. Dann stippte sie mit dem Finger in den Schaum von Rachels Cappuccino und leckte ihn genüsslich ab. „Selbstverständlich darfst du dich vorher davon überzeugen, dass die Unterschriften auf den Papieren echt sind.“

Immer noch skeptisch öffnete Rachel den Umschlag. Natürlich hatte sie nichts unversucht gelassen, um die Sache gütlich zu regeln, und Joshua sogar eine unverschämt hohe Summe in Aussicht gestellt, sollte er in die Scheidung einwilligen. Doch der gab sich verständlicherweise nicht mit der Milch zufrieden, wenn er die ganze Kuh haben konnte. Sein durchtriebener Anwalt unterstützte das betrügerische Treiben auch noch und begab sich damit auf dasselbe Niveau wie ihr Ehemann. Er hatte ihr auch schon mit einer einstweiligen Verfügung gedroht, sollte sie ihn oder seinen Mandanten weiterhin belästigen. Wie es ihre Freundin geschafft haben könnte, dass Joshua in die Beendigung der sehr lukrativen Beziehung eingewilligt hatte, war ihr rätselhaft.

Natürlich stellte sich Rachel in ihren Tagträumen seit Längerem die verschiedensten Szenarien vor. Meist war sie selbst dabei in schwarze Lederklamotten gekleidet und hielt ihrem Verflossenen eine Kanone an den Schädel. Doch im realen Leben hasste sie Gewalt, auch wenn Joshua wirklich einen Denkzettel verdient hatte.

Bereits zwei Wochen nach der verhängnisvollen Fahrt in die Spielermetropole erhielt Rachel einen Anruf von ihrem Bankberater, der sie über ungewöhnlich hohe Abbuchungen von ihrem Konto informierte. Und eine Stunde später stand fest, dass sie nicht mehr die alleinige Kontrolle über ihre Finanzen hatte. Im Gegenteil. Sie haftete auch mit ihrem zukünftigen Gehalt für die windigen Geschäfte ihres Ehemannes, einschließlich üppiger Unterhaltszahlungen.

Logisch, dass man da nach mehreren Tagen an eine eher blutige Lösung dachte.

Mit spitzen Fingern fischte Rachel die Unterlagen aus dem Umschlag, der vor ihr auf dem Tisch lag, und unterzog sie einer eingehenden Prüfung. Sie erkannte den schwungvollen Krakel sogar im Schlaf, denn sie wäre schon mehr als einmal fast der Versuchung erlegen, die Unterschriften einfach zu fälschen. Aber natürlich würde eine so dilettantische Aktion sofort auffliegen.

Skeptisch hielt Rachel die Scheidungsunterlagen gegen das Licht. Doch der leichte Abdruck auf dem Papier stammte eindeutig von einem Kugelschreiber und nicht von einem Laserdrucker. Außerdem schien er mit einer einzigen fließenden Bewegung ausgeführt worden zu sein.

„Und, Miss Marple“, lachte Taylor, „wie lautet Ihr fachmännisches Urteil?“

Die Gesichtsfarbe ihrer Freundin wechselte innerhalb einer Sekunde in schlaganfallrot.

„Sorry!“, presste Rachel ertappt hervor. „Ich … also …“ Sie schluckte. „Wie hast du das nur geschafft?“

„Tja …“, wollte Taylor gerade zu einer Erklärung ansetzen, als die Kellnerin auftauchte.

„Bringen Sie ihr, was immer sie will!“, forderte Rachel von der jungen Frau.

„Ein Bier wäre echt toll“, präzisierte Taylor die Bestellung und wartete einen Augenblick bis die Bedienung außer Hörweite war. „Du glaubst gar nicht, was manche Leute alles machen, wenn sie in den Lauf einer Neunmillimeter schauen“, fuhr Taylor an ihre Freundin gewandt fort. Dann presste sie krampfhaft ihre Lippen zusammen, als müsse sie einen Lachanfall unterdrücken.

„Ist schon klar“, prustete stattdessen Rachel los. Sie stützte sich mit den Ellenbogen auf den Tisch und schüttelte demonstrativ ihre dunkle Lockenpracht in den Nacken. „Verarschen kann ich mich selbst. Na sag schon, wie hast du das angestellt?!“

Taylor lehnte sich zurück und verschränkte langsam die Arme. „Neunmillimeter“, antwortete sie trocken.

Rachel wusste nicht so recht, ob sie loslachen oder davonrennen sollte. Doch zum Glück tauchte gerade die junge Kellnerin mit dem eiskalten Miller auf und verschaffte ihr so ein bisschen Zeit zum Nachdenken.

„Ich habe mich schon die ganze Zeit gefragt, warum du dich überhaupt nicht verändert hast, nachdem du dieser perversen Darknet-Community entkommen bist“, begann Rachel mit großen Augen. „Und jetzt wird mir einiges klar.“

„Ach so?“, entgegnete Taylor mit großen Augen. „Was denn?“

„Du bist auf die dunkle Seite der Macht gewechselt“, mutmaßte Rachel scherzhaft und schwang ein imaginäres Laserschwert über ihrem Kopf. „So wie der junge Darth Vader“, fügte sie grinsend hinzu, weil sie nicht im Entferntesten ahnte wie nah sie der Wahrheit damit kam. „Jetzt solltest du nur noch diese komischen Geräusche beim Atmen machen!“

„Du hast wie immer den Nagel auf den Kopf getroffen“, musste Taylor zugeben. Dann lachte sie lauthals los, griff sich das Bier und prostete ihrer Freundin zu. „Was weißt du eigentlich über Opfer von Entführungen?“, schob sie möglichst unverfänglich nach. „Also was so in ihnen vorgeht, während sie sich in der Gewalt der Kidnapper befinden? Und ob und wie sie es zurück ins normale Leben schaffen?“

Rachel verhielt sich zum Glück erfrischend normal und steckte sie nicht in die Schublade der traumatisierten Suizidgefährdeten. Denn in die gehörte sie weiß Gott nicht.

„Das was so allgemein bekannt ist“, begann Rachel sachlich. „Am Anfang wehren sie sich logischerweise und versuchen vielleicht auch zu fliehen. Aber spätestens wenn die eigene Hilflosigkeit übermächtig wird, buhlen die meisten um die Gunst des Entführers, weil sie ja überleben wollen. Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass manche ihrem Kidnapper vor Dankbarkeit die Füße küssen, wenn er sie nach einem halben Tag endlich mal aufs Klo lässt.“ Dann nippte sie an dem Rest ihres Cappuccinos und verdrehte nachdenklich die Augen. „Schließlich kommt es dann irgendwann zu einer Wahrnehmungsverzerrung und die Geisel entwickelt eine Art Wir-Gefühl, weil sie sich von der Polizei und der übrigen Welt im Stich gelassen fühlt“, fuhr sie fort. „Das Ganze gipfelt dann in einer krankhaften Sympathie für den Geiselnehmer. Ich habe da Sachen gelesen …“ Rachel schüttelte verständnislos den Kopf. „Einige sollen die Arschlöcher später wirklich geheiratet haben. Und das alles hat sogar einen wissenschaftlichen Namen, nämlich Helsinki-Syndrom.“

„Das heißt Stockholm-Syndrom“, berichtigte Taylor mit ernster Miene und tippte sich bedeutungsvoll mit dem Finger an die Lippen. „Du scheinst dich damit ja richtig gut auszukennen“, stellte sie kurz darauf fest.

„Hmmm … es war jedenfalls irgendwas mit Skandinavien.“ Rachel beobachtete die flachen Wellen des Pazifiks, die sich auf den weißen Strand schoben und schien nach den richtigen Worten zu suchen. „Als ich das mit dir erfahren habe, wollte ich natürlich Genaueres wissen und habe mich ein bisschen kundig gemacht. Schließlich sind wir doch Freundinnen und ich wusste nicht so recht, wie ich mich jetzt verhalten sollte. Denn die meisten Entführungsopfer brauchen Jahre und unzählige Sitzungen bei einem Trauma-Therapeuten, um darüber hinwegzukommen. Aber bei dir scheint das irgendwie anders zu laufen.“ In Rachels Gesicht spiegelte sich echte Besorgnis. „Oder kommt der große Hammer vielleicht noch?“

„Ach Süße …“ Taylor beugte sich nach vorn und legte sanft ihre Hand auf den Arm ihrer Freundin. „Das ist ja richtig lieb von dir, aber deine Befürchtungen sind unbegründet.“

Jetzt war sie es, die nach den richtigen Worten suchte.

Wie auf ein geheimes Kommando schob sich eine dünne Wolke vor die tiefstehende Sonne und tauchte den Strand in ein gespenstiges Rot. Die Veränderung, die in der jungen Frau vor sich ging, jagte Rachel eine Gänsehaut über den Rücken. Und die Stelle an der sie ihren Arm berührte brannte plötzlich, als würde glühendes Metall darüber fließen.

„Möchtet ihr noch etwas?“, unterbrach die junge Kellnerin die stumme Unterhaltung der beiden.

Taylor blickte auffordernd zu ihrer Freundin.

„Tequila!“, krächzte sie. Doch die Bestellung klang eher wie eine Frage.

„Zwei Corralejo“, bestätigte Taylor. „Am besten doppelte.“

„Scheiße …, was hast du angestellt?“ flüsterte Rachel, nachdem die Kellnerin außer Hörweite war und ihre Augen wurden groß. „Du nimmst doch nicht irgendwelche Drogen oder so? Du weißt sicher, dass das Zeug nur die natürlichen Verarbeitungsmechanismen unterdrückt und es dich dann umso stärker auf die Bretter haut.“

Taylor holte tief Luft. Rachels rührende Besorgnis war wirklich herzerweichend. Doch jetzt musste sie ihr reinen Wein einschenken, wenn sie ihre Freundschaft nicht gefährden wollte.

„Etwas anderes als Drogen fällt dir wohl nicht ein?“, raunte sie geheimnisvoll.

„Aber natürlich …“, antwortete Rachel aufbrausend und hob theatralisch die Hände. „Da fallen mir sogar sehr viele Sachen ein.“ Dann atmete sie geräuschvoll aus. „Du könntest zum Beispiel auf so einem irren Rachetrip sein und scharenweise Perverse umlegen. Das Ganze verschafft dir dann so einen Kick, dass du gar nicht auf die Idee kommst, dass du eigentlich auf eine Couch beim Psychiater gehörst.“

Taylor verkniff sich eine deftige Bemerkung, weil gerade der Tequila serviert wurde, und klatschte stattdessen applaudierend in die Hände.

„Nein …, das kann unmöglich dein Ernst sein!“ Rachels Augen drohten aus dem Kopf zu fallen. „Du willst mir, deiner aller allerbesten Freundin, weismachen, dass du glaubst, nur weil du genug Rache-Thriller gesehen hast, kannst du jetzt selbst eine Hauptrolle übernehmen?“

„Neunmillimeter“, antwortete Taylor lakonisch und grinste.

„Du hast sie echt nicht mehr alle.“ Rachel schüttelte entgeistert den Kopf.

„Ich möchte weiß Gott nicht, dass du vor mir auf die Knie fällst, aber ein einfaches Danke wäre wirklich nicht schlecht“, stellte Taylor gespielt beleidigt fest.

Die Erwiderung blieb Rachel im Hals stecken. Vor nicht einmal zehn Minuten hatte sie sich eine blutige Lösung ihres Problems gewünscht und jetzt benahm sie sich ihrer Freundin gegenüber wie eine undankbare Zicke. Auch wenn die offensichtlich nicht auf ganz legalem Wege an Joshuas Unterschrift gelangt war.

„Du bist die Beste“, raunte Rachel deshalb im Brustton der Überzeugung. „Du hast mir im wahrsten Sinne des Wortes mein altes Leben zurückgegeben.“ Sie zog einen Tequila zu sich und schob den anderen in Taylors Richtung über den Tisch. Dann stupste sie einen Limettenschnitz in das kleine Salznäpfchen, das zusammen mit der Bestellung serviert wurde, und hob ihr Glas. „Cheers …!“

Bereits nach wenigen Sekunden breitete sich in Rachel eine angenehme Ruhe aus. Doch als sie Taylors Gesicht sah, musste sie sofort loslachen. Ihre Freundin mochte Tequila, genau wie sie selbst, aber mit den Limetten schien sie ein echtes Problem zu haben.

„Puhhh, … ist der gut.“ Taylor sog hörbar die Luft ein und spülte die Säure sofort mit dem kalten Bier hinunter.

„Jetzt bin ich auf alles vorbereitet“, stellte Rachel fest, „und will die ganze Geschichte hören!“ „Aber wenn du noch einmal Neunmillimeter sagst, dann renne ich schreiend davon.

„Na dann …“ Taylor zog ihr Smartphone aus der Tasche, öffnete eine Videodatei und schob es zu Rachel. „Da du ja gewissermaßen meine Auftraggeberin bist, hast du schließlich ein Recht auf sämtliche Informationen“, grinste sie und beobachtete gespannt die Reaktion im Gesicht ihrer Freundin.

„Wo zum Teufel ist denn das?“ Rachel ließ sich keine Sekunde der makaberen Vorführung entgehen.

„In einer alten Industrieruine“, antwortete Taylor wahrheitsgemäß. „Ich habe eine Kopie des Videos bereits bearbeitet und werde das Original löschen, wenn du fertig bist.“ „Da sieht man dann nur noch wie dein Ex die Papiere unterschreibt“, grinste sie hintergründig. „Okay, er ist ein bisschen aufgeregt, aber das ist halb so schlimm.“

„Du bist tatsächlich auf die dunkle Seite gewechselt“, stellte Rachel ungläubig fest, als sie die ganze Datei gesehen hatte. „Was ist nur aus meiner lieben, netten Freundin geworden?“ In ihrem Gesicht spiegelte sich echte Sorge.

„Die sitzt genau vor dir.“ Taylor nahm Rachels Hand und drückte sie beruhigend. „Aber es gibt Situationen im Leben, in denen du dich entscheiden musst, ob du Jäger oder Gejagter sein willst.“ Sie machte eine kurze Pause. „Und glaube mir, dieses eine Mal auf der falschen Seite hat mir gereicht.“

„Das ist echt heftig“, presste Rachel hervor. „Also ich brauche jetzt definitiv noch einen kleinen Mexikaner.“ Sie wedelte auffordernd mit ihrem leeren Glas der Kellnerin zu, die gerade vorbeieilte.

„Zwei!“, ergänzte Taylor und knuffte ihre Freundin. „Na komm schon, eigentlich bist du doch nur ein bisschen sauer, weil du es diesem Idioten nicht selbst heimzahlen konntest.“ „Außerdem steht mir das böse Mädchen eindeutig besser als dir“, fügte sie nach einer kurzen Pause hinzu.

„Wie bitte …?“ Rachel musste sich ein Lachen verkneifen. Offensichtlich war die junge Frau, die ihr gegenübersaß, doch ihre alte Freundin.

„Ja klar … am Ende ruinierst du dir noch deine Frisur oder brichst dir einen Fingernagel ab.“ Taylor blies theatralisch ihre Wangen auf.

„Du bist dämlich“, prustete Rachel los. „Wo lernt man eigentlich solche Sachen?“, wollte sie wissen, als sie wieder normal atmen konnte. „Ich meine gibt es da eine Killer-Akademie oder so?“

„Na ja …“ Taylor verdrehte ihre Augen.

„Halt … ich weiß“, beantwortete sich Rachel selbst die Frage und schnippte mit den Fingern. „Das war diese komische Freundin von deiner Tante“, fügte sie hinzu, während sie die Stirn in Falten zog. „Die kam mir schon früher äußerst verdächtig vor.“

„Zum Wohl“, flötete die junge Kellnerin, als sie erneut die großzügig gefüllten Gläser auf den Tisch stellte. „Möchtet ihr vielleicht auch eine Kleinigkeit essen?“, erkundigte sie sich anschließend besorgt. In der Hitze des späten Nachmittags konnten zwei doppelte Tequila leicht ins Auge gehen.

Taylor drehte sich langsam zu der schlanken Blondine und musterte sie übertrieben von oben bis unten.

„Im Moment nicht“, hauchte sie mit einem verheißungsvollen Augenaufschlag, „aber vielleicht bekommen wir ja später Appetit.“

Der jungen Kellnerin wich schlagartig die Farbe aus dem Gesicht. Schützend drückte sie sich die Speisekarte an die Brust, bevor sie in Richtung Küche davoneilte.

„Eins zu null für dich“, kicherte Rachel und hob ihr Glas. „Na dann Cheers, du kleines Miststück!“

„Selber Miststück“, gab Taylor zurück und kippte den Tequila hinunter.

Auch diesmal kam sie mit den Limetten nicht besser zurecht, doch ihre Freundin schien sich kaum mehr für ihre Grimassen zu interessieren. Stattdessen hatte Rachel ihr Kinn auf die Hand gestützt und starrte irgendwie durch sie hindurch.

„Weißt du was mir gerade durch den Kopf geht?“, raunte Rachel nachdenklich.

„Sobald ich über telepathische Fähigkeiten verfüge, gebe ich dir Bescheid“, versprach Taylor.

„Du glaubst gar nicht, wie viel Scheiße auf der Welt passiert“, fuhr Rachel fort, als hätte sie die dämliche Bemerkung nicht gehört.

„Ach …“, warf Taylor ein, „wie bist du denn zu dieser Erkenntnis gelangt?“

„Kannst du nicht einmal ernst bleiben?“ Rachel bedachte ihre Freundin mit einem vernichtenden Blick, der jede Erwiderung im Keim erstickte. „Das ist ja wie im Kindergarten!“

„Sorry“, murmelte Taylor peinlich berührt. „Ich benehme mich nicht gerade altersentsprechend.“

„Ich fasse das als Entschuldigung auf“, stellte Rachel wohlwollend fest, bevor sie fortfuhr. „Also was ich eigentlich sagen wollte ist, dass es auf der Welt schon sehr ungerecht zugeht.“

„Genau, das stimmt“, musste Taylor zugeben.

„Und damit meine ich nicht nur die globalen Sachen“, fuhr Rachel fort und machte eine ausladende Handbewegung. „So wie die immer größer werdende Schere zwischen Arm und Reich. Oder der uneingeschränkte Zugang zu den Ressourcen, wie zu sauberem Trinkwasser zum Beispiel.“

Taylor nickte und hatte trotzdem keine Ahnung, worauf ihre Freundin eigentlich hinauswollte.

„Ich meine so eher die kleinen Gemeinheiten“, kam Rachel schließlich zum Punkt. „Der Hausbesitzer, der sich nicht gegen die großen Immobilienhaie zur Wehr setzen kann, und so sein Grundstück verkaufen muss. Und das meist zu einem Spottpreis. Ganz zu schweigen von den vielen anderen Arschlöchern, die sich mit Hilfe von Winkeladvokaten oder Bestechung ihrer Verantwortung entziehen.“ Rachel ballte ihre Fäuste, so dass ihre Knöchel weiß hervortraten. „Wie zum Beispiel der Vergewaltiger, der das Geschrei seines Opfers irgendwie falsch interpretiert hat, und dank einer günstigen Sozialprognose mit einer milden Strafe davonkommt. Um dann natürlich weiter Frauen zu belästigen.“

„Oder auch der betrügerische Heiratsschwindler, der seiner hart arbeitenden Ehefrau jeden Cent aus der Tasche zieht“, ergänzte Taylor und hob vorsichtshalber sofort beschwichtigend die Hände. „Und bevor du etwas sagst, musst du wissen, dass ich das ernst meine. Du bist da mit Sicherheit kein Einzelfall.“

„Ich weiß“, stellte Rachel fest. „Natürlich habe ich für mein Problem auch im Netz nach Lösungen gesucht und musste feststellen, dass es da die dramatischsten Sachen gibt. Herzzerreißende Schicksale, bei denen mir plötzlich meine Sorgen richtig lächerlich vorkamen.“

„Tja“, antwortete Taylor mit einem bedauernden Schulterzucken, „es kann nun mal nicht jeder so eine Freundin haben wie du.“ Dann trank sie langsam den Rest ihres Bieres.

Rachel legte den Kopf schief, zog ihre Augenbrauen nach oben und grinste vielsagend.

Taylor verschluckte sich an ihrem Miller. „Das ist jetzt nicht dein Ernst“, hustete sie. „Weißt du, was du mir da gerade vorschlägst?“

„Iiich …? Rachel machte große Augen. „Ich schlage gar nichts vor“, antwortete sie abwehrend. „Ich wollte dich bloß ein bisschen zum Nachdenken bringen. Denn irgendwie hatte ich den Eindruck, dass dir die Sache mit Joshua richtig Spaß gemacht hat.“

„Das hast du sicher missverstanden“, stellte Taylor energisch fest. Sie atmete tief durch und klackte aufgeregt mit ihren Fingernägeln auf der Tischplatte. „Nur mal so rein hypothetisch …“, begann sie schließlich. „Wie sollte das denn deiner Meinung nach ablaufen?“ Sie spitzte die Lippen. „Hätten Sie etwas dagegen, wenn ich ihrem Vergewaltiger kurz ins Knie schieße?“, presste sie mit verstellter Geheimagenten-Stimme hervor.

„So ähnlich“, antwortete Rachel euphorisch und strahlte. „Sieh mal, als freie Mitarbeiterin hast du jede Menge Zeit“, stellte sie fest. „Außerdem spricht du fast eine Million Sprachen …“

„Ich spreche gerade einmal Englisch und Spanisch, wie fast alle in San Diego“, korrigierte Taylor ihre Freundin. „Okay, ein bisschen Deutsch geht auch. Und Italienisch ähnelt ja dem Spanischen ganz verblüffend. Nur mit dem ganzen asiatischen Zeugs habe ich überhaupt nix am Hut.“ „Außerdem schieße ich hundsmiserabel“, log sie. „Du siehst also, dass ich nicht gerade die perfekte Kandidatin für dein Programm bin.“

„Aber …“, versuchte es Rachel noch einmal.

„Na dann vielen Dank für das Bier und den Tequila, aber ich muss jetzt los“, verabschiedete sich Taylor fast schon etwas überstürzt. „Am besten du fragst mich so in zehn Jahren noch einmal.“

Doch als sie mit ihrem kleinen Nissan vom Parkplatz rollte, musste sie sich eingestehen, dass sie bereits an Rachels Angel hing.

„Dieses scheinheilige, kleine Luder!“

An Schlaf war in dieser Nacht wirklich nicht zu denken, denn selbst nach einem Joint und zwei doppelten Wodka rotierte Taylors Gehirn noch immer wie ein Brummkreisel. Selbstjustiz ist zwar der erste Schritt zur Anarchie, doch manchmal gab es eben keine Alternative, um der Gerechtigkeit zum Sieg zu verhelfen. Außerdem war die Vorstellung einfach zu verlockend.

Noch sehr genau erinnerte sie sich an den Abend, an dem sie ihre Unschuld verlor und zum ersten Mal getötet hatte. Das Gefühl der Unbesiegbarkeit hatte sie in ungeahnte Höhen katapultiert und dummerweise süchtig werden lassen. Süchtig nach dem Adrenalin, das ihre Adern flutete, und süchtig nach der warmen Welle der Befriedigung, in der sie danach schwerelos davontrieb.

Entschlossen schnappte sich Taylor ihren Autoschlüssel und stürmte aus ihrem Appartement.

„Scheiß auf den Wodka!“

Mit quietschenden Reifen schoss der kleine Nissan auf die Straße in Richtung Osten. Taylors Finger trommelten nervös auf das Lenkrad, während die Laternen wie Leuchtspurgeschosse an ihrem Fenster vorbeirasten.

Was könnte sie nicht alles mit Rachels Hilfe erreichen?!

Die brillante Informatikerin müsste nur die richtigen Tools entwickeln, um die wirklich ernsten Fälle von dem ganzen Schwachsinn zu trennen. Denn nur weil jemand glaubte, dass er das Opfer einer Verschwörung geworden war, entsprach das natürlich nur in den seltensten Fällen den Tatsachen.

Erst als eine rote Ampel sie stoppte und sie versonnen aus dem Fenster grinste, erschrak Taylor vor sich selbst. Beschämt musste sie zugeben, dass ihre Freundin gar nicht so unrecht hatte und es ihr irgendwie Spaß machte. Das dämliche Gesicht von Rachels Ex war aber auch wirklich zu komisch gewesen. Was war denn schon dabei, wenn sie ihre Talente nutzte und dabei das Angenehme mit dem Nützlichen verband? Wer sagte denn eigentlich, dass Robin Hood unbedingt ein Mann sein musste? Außerdem standen ihr ein kurzer Rock und Strumpfhosen eindeutig besser.

Mit einer entschlossenen Handbewegung wischte Taylor ihre Bedenken beiseite und gab Gas. Sie hielt nur noch kurz an einem Starbucks, um sich mit zwei riesigen Kaffee Americano und Schokoladenmuffins zu bewaffnen, und klingelte wenige Minuten später ihre Freundin aus dem Bett.

„Weißt du eigentlich wie spät es ist?“, nuschelte Rachel durch die Sprechanlage, nachdem sie sich gemeldet hatte.

„Früh …“, korrigierte Taylor sie euphorisch, „… es ist früh, Süße.“ „Und jetzt mach auf, wir haben viel zu besprechen!“

Die Schlächterin - Vergeltung

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