Читать книгу Helle und die kalte Hand - Judith Arendt - Страница 10

Skagen Innentemperatur 19 Grad

Оглавление

»Achthundert Stück.« Mit einem Ächzen stellte der Praktikant den großen Karton neben Kierans Schreibtisch ab. Der warf nur einen kurzen Seitenblick darauf.

»Zähl nach.«

»Was?« Der Praktikant starrte ihn ungläubig an. »Aber …«

»Wenn ich sage, zähl nach, dann zählst du nach.«

Er hatte keinen Bock, sich mit dem Typen auseinanderzusetzen. Die waren doch alle strohdumm, diese Praktikanten. Und das war noch nicht einmal das Schlimmste. Obendrein waren sie faul. Eine Kombi, die Kieran Jensen verachtete wie nichts sonst. Seiner Meinung nach konnte man gerne entweder das eine oder das andere sein. War man dumm, sollte man zum Ausgleich doppelt so tüchtig sein. Dumme waren gute Arbeiter, er wusste das aus seiner Zeit als Vorarbeiter. War man faul, hatte man bei ihm nichts verloren. Faule konnten an die Uni gehen oder was im kulturellen Bereich machen, da fielen sie nicht auf und richteten keinen Schaden an. Aber in seiner Nationalpartiet, unter seinen Augen hatten Faule nichts verloren.

Frauen zum Beispiel, die konnten sich Faulheit erst recht nicht leisten. Seine Frau wusste das ganz genau. Sie hatte alles im Griff, Haushalt, die Kinder, den Garten. Und Kieran wusste das zu schätzen. Mehr noch: Seine Frau tat es nicht ihm zuliebe. Nicht nur. Sie war fleißig und pflichtbewusst, weil sie es so wollte. Es gefiel ihr, dass sie ihr eigenes Reich so gut unter Kontrolle hatte. Scheiß auf die Emanzipation.

»Na, wird‘s bald?« Er hatte aus den Augenwinkeln gesehen, dass der Praktikant – er hatte keinen Namen, niemals würde sich Kieran den Namen eines Praktikanten merken – keine Anstalten gemacht hatte, den Karton zu öffnen. »Wenn auch nur einer fehlt, ziehe ich das der Druckerei von der Rechnung ab.«

Der Praktikant starrte in den Karton. Dort lagen die Flyer säuberlich gebündelt nebeneinander.

Es würde kein Flyer fehlen, dessen war Kieran sich sicher. Eventuell waren es sogar ein paar mehr. Er kannte die Druckerei, die Nationalpartiet ließ immer schon dort drucken. Der Inhaber war Mitglied der ersten Stunde. Und Kieran kannte ihn persönlich. Sie waren nebeneinander marschiert, auf den frühen Demonstrationen, als die Nationalpartiet sich gezeigt hatte, als sie aus den Hinterzimmern in die Öffentlichkeit getreten war.

Und jetzt taten sie sich gegenseitig den einen oder anderen Gefallen. Eine Hand wäscht die andere.

Aber es schadete nie, Kontrolle auszuüben, und dieser Praktikant sollte lernen, was er im Leben noch früh genug würde lernen müssen: Es krümmt sich das Häkchen beizeiten, das ein Haken werden will.

Guter Spruch von seiner Großmutter. Er hatte sich immer daran gehalten. Und hatte er tatsächlich mal vergessen, sich danach zu richten, dann setzte es was. Da waren weder seine Großmutter noch sein Vater zimperlich gewesen. Kieran führte das auf seine deutschen Vorfahren zurück. Deutsche waren diszipliniert. Und fleißig. Die Preußen!

Er bewunderte die Deutschen, allerdings hatte das Bild 2015 einen tiefen Riss bekommen. Dass die einfach ihre Grenzen öffneten, das war doch vollkommen verrückt! Und was machten die ganzen Kriminellen? Genau, sie zogen weiter in den Norden. Nach Dänemark.

Wo sie nicht hingehörten.

Keine Diskussion.

Wie die Wildschweine, die durften sie in Deutschland ja auch nicht einfach so schießen. Und jetzt kamen die Schweine über die grüne Grenze. Ganz selbstverständlich, ohne dass das jemand kontrollierte.

Sauerei. Zum Glück hatten sie jetzt den Zaun.

Sein Blick fiel auf Katrine, die von draußen ins Büro kam. Unwillkürlich musste er lächeln. Was für eine Frau. Sie war der Sechser im Lotto, das Pfund, mit dem sie wucherten. Niemals wäre die Nationalpartiet da, wo sie jetzt stand, ohne Katrine. Sie war schön, sie war klug – ein bisschen zu klug für Kierans Geschmack –, und sie war tough. Du meine Güte, er hatte sie erlebt, wenn sie so richtig in Fahrt war. Sie war vermutlich härter als manch ein Mann in ihrer Partei. Sie hatte es verdient, gewählt zu werden. Die Kommunalwahl war die Feuertaufe. Diese Hürde würde sie mit Leichtigkeit nehmen. Irgendwann würde sie Ministerpräsidentin werden, da war sich Kieran ganz sicher. Und er wollte helfen, dass es wahr wurde. Dann würde ein für alle Mal Schluss sein. Mit allem, was Kieran nicht passte.

Sie klopfte an den Türrahmen.

»Knock, knock.«

»Immer rein in die gute Stube!«

Kieran sprang sofort auf und zog den Drehstuhl für Gäste vor seinen Schreibtisch. Dem Praktikanten gab er einen Klaps auf den Hinterkopf.

»Du kannst nachher weiterzählen.«

»Hundertachtundzwanzig …«

»Nachher! Und jetzt raus.«

Der Praktikant bemerkte erst jetzt, dass Katrine in das Büro gekommen war, und bekam große Augen. So ging es allen, die sie das erste Mal live sahen, dachte Kieran stolz. Sie ist in Wirklichkeit noch schöner und beeindruckender als auf den Plakaten oder im Fernsehen.

Katrine nahm ihm gegenüber Platz, lächelte und schlug die langen Beine übereinander.

»Wie geht es dir, Kieran?«

Er wusste, dass es sie einen feuchten Kehricht interessierte, wie es ihm ging. Aber das gehörte zu ihrer Art, sie war jedem gegenüber verbindlich. Sie kannte alle, die für sie arbeiteten, mit Namen. Auch die, die nicht für sie oder sogar gegen sie arbeiteten. Ja, vielleicht wusste sie über die Letzteren besonders viel.

Manchmal beobachtete er, wie sie einen kritischen Journalisten mit Vornamen begrüßte und sich nach irgendetwas Persönlichem erkundigte: Wie geht’s deiner Tochter? Geht sie noch in den Kindergarten? Deine Frau hat eine neue Haarfarbe, ich habe sie neulich beim Frisör gesehen. Wie fühlt sich dein Vater im Altenheim, geht es ihm gut?

Nicht selten waren die von ihr Angesprochenen befremdet, sie wussten nicht, wie sie ihre Freundlichkeit und Verbindlichkeit einordnen sollten.

Ging ihm genauso. Kieran hatte das Gefühl, dass es gar nicht so gut war, wenn Katrine zu viel von einem wusste. Das bedeutete, dass sie einen auf dem Radar hatte. Und das war nicht immer ein gutes Zeichen.

Er schauderte kurz und sah, dass sie ihn mit ihren grünen Augen fixierte. Zwischen ihren schmalen Brauen zeichnete sich eine steile Falte ab.

»Kieran, alles in Ordnung?«

»Ja, sorry.« Er schüttelte sich. »Ich war in Gedanken. Magst du einen Kaffee?«

Sie schüttelte den Kopf. »Danke. Ich war gerade im Bürgerzentrum. Ich habe aus Freundlichkeit keinen Kaffee abgelehnt, gefühlt waren das zehn Liter.«

Sie lachte, und er fiel mit ein.

»Wie ist es gelaufen?«, erkundigte er sich.

Katrine zuckte mit den Schultern. »Es war okay. Ich habe mich bemüht, aber das ist natürlich nicht wirklich meine Welt. Die Arbeit für die Kinder und die Alten – das müssen wir unterstützen. Darauf werden wir auch in der Pressemitteilung gehen. Wir haben ein paar schöne Fotos.«

Sie reichte ihm ihr Smartphone über den Tisch. Katrine, strahlend schön und blond, mit einem kleinen Mädchen auf dem Schoß. Es war ebenso blond wie sie, trug dünne abstehende Zöpfe und schien direkt aus einem Buch von Astrid Lindgren entsprungen. Perfekt!

Auf einem anderen Foto sah man Katrine mit drei alten Menschen am Tisch sitzen, sie aßen Kekse – oder taten so – und tranken Kaffee. Katrine umschloss mit ihrer Hand die runzlige Hand einer der Frauen. Wunderbar. Das wollten die Leute sehen. So eine wurde gewählt.

»Super.« Kieran reichte ihr das Handy zurück. »Damit machst du Stimmen.«

Sie lächelte. »Danke. Das ist auch eure Arbeit. Ihr macht das alle großartig.«

Kieran spürte, wie seine Brust anschwoll. Himmel, sie wusste, wie es lief. Ein paar warme Worte hier, ein paar da. Aber wenn es galt, klare Kante zu zeigen, dann war niemand schärfer als sie. Erst letztens war sie überall zitiert worden: »Muslimische Männer, die mit gezückten Messern durch unsere Städte laufen und ihre Frauen unter die Burka prügeln, haben in Dänemark nichts verloren.« Das hatte gesessen! Katrine hatte viel Schelte dafür einstecken müssen, von den »redlichen« Bürgern, aber sie hatte noch viel mehr Applaus von den Richtigen dafür geerntet.

»Wie sehen die Bilanzen aus?«

Kieran nickte. »Gut. Wir haben gut gehaushaltet. Ein paar der versprochenen Spenden stehen noch aus, aber …«

»Wer?« Sofort wurde ihre Stimme scharf.

»Eckdahl hat noch nichts überwiesen. Du hattest doch gesagt …?«

Sie nickte. »Typisch. Er reißt immer das Maul auf, und dann kommt nichts. Ich spreche ihn noch einmal an.« Sie tippte etwas in ihr Handy.

Kieran wurde schon wieder mulmig. Er bewunderte ihre Effizienz, aber sie machte ihm auch Angst. Ihm! Er beschloss, dass es besser wäre, keine weiteren Spendensünder beim Namen zu nennen, stattdessen hatte er seine Excel-Tabelle mit den Wahlkampfkosten geöffnet. Er drehte den Bildschirm zu Katrine, und sie studierte konzentriert die Zahlen.

»Für die Plakate haben wir null Kosten gehabt, die hat Markus Ingberg gesponsert. Du weißt schon, die Druckerei. Das hat uns ein bisschen Luft verschafft. Der TV-Spot ist auch günstiger gekommen.« Er deutete mit dem Kugelschreiber auf das entsprechende Kästchen. »Also, du hast noch was zur Verfügung.«

Sie nickte. »Sehr gut. Ich denke, wir könnten in der heißen Phase noch mal nachlegen. Ein Spot oder ein Jingle, ich weiß nicht. Ich werde das mit Signe besprechen.« Sie stand auf. »Sehr gute Arbeit, Kieran, ich sag’s gerne noch mal. Weiter so.«

Sie schenkte ihm ein strahlendes Lächeln, und er erwiderte es erleichtert.

»Bevor ich es vergesse«, Katrines Lächeln wurde starr, »meine Schwester möchte, dass du sie anrufst.«

Kieran schluckte. Verdammt.

Katrine musterte ihn. Er nickte. Jetzt bloß nicht rechtfertigen. Nichts erklären.

»Ich ruf sie an.«

»Gut.« Sie drehte sich auf ihren hohen Absätzen um und verließ das Büro. Im Stechschritt, so erschien es ihm. Er schwitzte. Er wusste genau, dass es ihr nicht gefiel, dass er und Elin miteinander zu tun hatten.

Nun, genau genommen gefiel es ihm auch nicht.

»Hast du schon Zeitung gelesen?« Elins Stimme schnappte über.

Kieran hasste das. Er hasste hysterische Frauen. Und diese war eine von der schlimmsten Sorte. Hätte er sich doch bloß auf nichts eingelassen. Die Bürotür hatte er wohlweislich geschlossen. Niemand sollte mitbekommen, dass er mit Katrines Schwester telefonierte. Er benutzte außerdem das Prepaidhandy.

»Überall steht es, sie haben es sogar im Fernsehen gebracht!«

»Wovon redest du?«

Sie senkte die Stimme. »Von der Leiche.«

Ohne dass er wusste, von was sie sprach, brach ihm der Schweiß aus.

»Bei Råbjerg Mile. Sie haben die Leiche einer Frau gefunden. Im Sand.«

Kieran beendete sofort das Gespräch. Die Beine sackten unter ihm weg.

Fuck, dachte er.

Fuck, fuck, fuck.

In was für eine Scheiße war er da geraten?

Helle und die kalte Hand

Подняться наверх