Читать книгу Helle und die kalte Hand - Judith Arendt - Страница 9

Råbjerg Mile Außentemperatur 2 Grad

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Helle brauchte keine fünf Minuten, um den Parkplatz in der Nähe der Wanderdüne zu erreichen. Amira hatte sich ihr angeschlossen, sie waren, ohne ein Wort miteinander zu wechseln, im höchsten Tempo, zu dem Helles Volvo imstande war, dorthin gerast.

Das Blaulicht strahlte ihnen schon von weitem entgegen.

Jan-Cristofer stieg aus seinem Wagen, als Helle neben ihm parkte. Er war ebenfalls in Zivil. Sofort nahm er Amira in den Arm und drückte sie fest.

»Ole ist am Fundort.«

Helle beschloss, schon einmal vorzugehen, sie wusste, dass die beiden gerne ein paar Worte alleine sprechen wollten. Auch Jan-Cristofer hatte bei dem Fall um den Toten im Tivoli Schaden an Körper und Seele erlitten, auch er hatte erst einmal eine Auszeit nehmen müssen. Aber nicht nur das verband die beiden miteinander. Amira hatte im selben Haus gelebt wie Jan-Cristofer, der ihr die Wohnung dort besorgt hatte. Er war doppelt so alt wie sie, geschieden und hatte einen Sohn, Markus. Um Amira hatte er sich immer wie ein Vater gekümmert, sie war wie Familie für den alleinstehenden Kollegen.

Helle stapfte los. Sie hatte ihre Stablampe mitgenommen, die einen Strahl gleißenden Lichts in die Regennacht schickte. Zur Kirche, die Jahr für Jahr ein Stück mehr vom Sand verschluckt wurde, führte ein Weg quer durch die Dünenlandschaft. Im Sommer waren hier viele Touristen unterwegs, im Herbst und Winter trafen sich lediglich ein paar Hundebesitzer und Jogger.

Aber mitten in der Nacht? Bei strömendem Regen?

Kurz vor der Kirche sah Helle in Richtung des Meeres helles Licht.

Sie wollte den Weg verlassen und direkt darauf zulaufen, aber dann hielt sie inne. Sie würde Spuren hinterlassen und damit der Spurensicherung ihre bei diesen Bedingungen ohnehin fast unmögliche Arbeit noch erschweren. Sie griff zum Handy und rief Ole an, der nur ein paar Meter entfernt stand.

»Sag mal, wo seid ihr langgegangen? Ich will nicht auch noch …«

»Vergiss es«, fiel Ole ihr ins Wort. »Das ist ne alte Leiche, die liegt schon lange hier, Spuren gibt’s nicht mehr.«

Helle seufzte, schob das Handy in die Tasche ihres Ölzeugs und stapfte los. Als die Nachricht von Ole gekommen war, hatte sie sich gottlob nicht wieder irgendetwas übergeschmissen, sondern ausnahmsweise auf Bengt gehört, der ihr seine Fahrradregenhose, den gelben Friesennerz und Gummistiefel aufgedrängt hatte. Ihre Jogginghose und den Hoodie hatte sie darunter anbehalten, sie sah aus wie ein Hochseefischer im Sturm, aber immerhin blieb sie trocken und einigermaßen warm.

Sie erreichte den Strand und lief entlang der Abbruchkante einer Düne auf die Fundstelle zu. Ole stand mit hochgezogenen Schultern inmitten eines abgesperrten Quadrats, drei Halogenlampen erhellten die gespenstische Szenerie.

Helle stieg über das Flatterband. Sofort fiel ihr Blick auf das Corpus Delicti: Eine Hand ragte aus dem Sand. In etwa einem Meter Höhe. Sie hing dort zusammenhanglos in der Luft und wirkte wie ein makabrer Garderobenhaken.

Ole folgte ihrem Blick.

»Krass, oder?«

Helle nickte. »Wer hat das gemeldet?«

Sie sah sich um. Keine Zeugen. Sie hoffte auf einen anonymen Anrufer. Das wäre schon ein erster Hinweis, denn das würde bedeuten, dass jemand gewusst hatte, dass sich hier eine Leiche befand.

»Ansgar.«

»Norborg?«

Ole nickte, und Wasser schwappte von seiner Uniformmütze.

»Was zum Teufel macht der hier? Um die Zeit, bei dem Wetter?«

»Als er die Leiche gefunden hat, war es gerade erst dunkel, aber bis er auf der Wache war und ich mit ihm hier rausgefahren bin …«

»Moment! Nur, dass ich das verstehe.« Helle war ungehalten. »Ansgar treibt sich also hier herum und sieht mal eben zufällig eine Hand. Dann geht er in aller Ruhe zurück und denkt sich …«

»Er hat trainiert«, unterbrach Ole wieder. »Er ist gelaufen. Ohne Handy. Er trainiert für den Ironman. Und deshalb läuft er hier um die Nordspitze.«

Helle nickte nur, war aber in Gedanken schon woanders. Obwohl es eine Menge Sachen gab, die besser waren, als hier im eiskalten Novemberregen an der jütländischen Küste herumzustehen und sich mit einer Leiche zu befassen, durchströmte sie Energie. Denn war es nicht das, nach was sie sich so dringend gesehnt hatte? Ein Fall. Ein echter Fall, hier in Skagen, dort, wo man sich mit Ladendieben und Falschparkern herumschlug.

Seit dem Mord an Gunnar Larsen Anfang des Jahres hatte Helle immer wieder darüber nachgedacht, ob Bengt nicht recht hatte. Er glaubte, dass sie unterfordert war mit ihrer kleinen Skagener Polizeiwache. Sie war erst fünfzig, im besten Alter, um Verantwortung zu übernehmen. Wenn du es noch mal wissen willst, hatte er mehr als einmal zu ihr gesagt, dann jetzt. Aber Helle war unsicher. Mehr zu wollen hätte bedeutet, aus Skagen wegzugehen. Ein Angebot der Mordkommission Kopenhagen lag auf dem Tisch. Aber sie wollte eigentlich nicht weg. Nicht von Bengt und Emil, ihrem Haus, dem Meer und den Dünen. Ihrer Comfort Zone.

Helle starrte auf die Hand. Das war ein Fall. Ihr Fall.

»Wo ist Ansgar jetzt?«

»Ich habe seine Aussage aufgenommen und ihn nach Hause geschickt.« Ole fröstelte.

Helle zog aus ihrer Manteltasche eine kleine Thermosflasche. Die hatte Bengt ihr zugesteckt, und nun gab sie sie Ole.

»Nimm. Heiße Brühe.«

Ole nahm dankbar die Flasche entgegen. Seine Hände waren rotgefroren, und er zitterte.

»Du hast das toll gemacht, Ole«, lobte Helle ihn endlich. Besser spät als nie. »Wie im Lehrbuch.«

Ole schüttelte den Kopf, während er versuchte, das heiße Getränk in den kleinen Becher zu gießen, ohne etwas zu verschütten.

»Doch, doch. Es ist dein erster Tatort.« Helle zeigte um sich herum. »Gut gesichert, alles organisiert, die Richtigen benachrichtigt …«

Ole schlürfte vorsichtig die Brühe, guckte Helle über den Becherrand an und schüttelte vorsichtig den Kopf.

»Ich habe mir etwas Zeit gelassen, bevor ich Ingvar informiert habe.«

Sie sahen sich an. Helle verstand sofort, was Ole ihr damit sagen wollte. Er wusste genau, dass niemand mehr etwas zu melden hatte, wenn Ingvar erst hier aufkreuzte. Er war ihr Vorgesetzter und würde die Ermittlungsarbeit sofort an sich reißen, sobald er witterte, dass aus diesem Fall etwas Größeres werden könnte.

Und das würde es, ganz ohne Zweifel.

Helle warf erneut einen Blick auf die Hand.

»Wann hast du es gemeldet?«

»Du hast eine Viertelstunde Vorsprung. Sie müssten gleich hier sein.«

Helle nickte und beschloss, keine Zeit zu verlieren. Ole hätte sofort in Fredrikshavn anrufen müssen. Bei einem Kapitalverbrechen war es seine Dienstpflicht, die übergeordnete Stelle zu benachrichtigen. Stattdessen hatte er sie informiert. Sie zog ihr Smartphone aus der Tasche und machte Fotos von der Hand und der Umgebung, die sie mit ihrer Stablampe ausleuchtete.

Die Hand war in erstaunlich gutem Zustand, entweder war der dazugehörige Mensch noch nicht lange tot, oder aber Sand konservierte ausgezeichnet.

Jetzt hörten sie die Polizeisirenen. Ingvar kam also mit Getöse und Aufgebot. Die Kollegen kamen näher, das Licht ihrer Stablampen zuckte über den nachtschwarzen Strand, Helle und Ole hörten ihre Rufe.

Da ragte auch schon Ingvars großer Oberkörper über die Dünenkante.

»Das eiskalte Händchen«, er lachte laut. »Na, so was haben wir hier auch noch nicht gehabt.«

Er stapfte zu ihnen hinunter und tauchte in dem abgesperrten Bereich auf, nickte Ole zu und klopfte Helle auf die Schulter. »Na, mein Mädchen, was habt ihr da aufgetan?«

Ohne eine Antwort abzuwarten, beugte er sich nah zu der Hand und nahm sie in Augenschein. Er pfiff durch die Zähne.

»Donnerwetter. Wie es aussieht, hängt da noch mehr dran.«

Er wandte sich wieder an Helle, während hinter ihm nach und nach Kollegen aus Fredrikshavn auftauchten, die sich nun alle neugierig um den makabren Fund drängten.

Helle referierte, was sie von Ole wusste. Dass Ansgar Norborg, der Apotheker, der für den Ironman trainiert hatte, die Entdeckung gemeldet hatte.

»Offensichtlich hat der Dauerregen der letzten Woche dazu geführt, dass hier ein Stück von der Dünenkante abgewaschen wurde.« Helle zeigte auf den langgestreckten Sandhaufen, der sich am Fuß der Düne über ein paar Meter erstreckte.

»Dadurch wurde die Hand freigelegt. Sonst hätte man die Leiche vermutlich nie gefunden.«

Ingvar nickte und nahm die Gesamtsituation in Augenschein.

Ein Kollege hatte inzwischen eine Kamera hervorgeholt und machte Fotos.

»Als Erstes brauchen wir ein Zelt, um den Fundort vor dem Regen zu schützen. Habt ihr eins?«

Helle nickte, und Ingvar schien zufrieden.

»Pia, du rufst in Aalborg an. Die Spurensicherung soll ihren Arsch hierherbewegen, und zwar schnell. Und Dr. Holt benachrichtigen, der soll auch sofort kommen. Vielleicht kann er schon etwas darüber sagen, wie lange der Körper sich hier befindet.«

»Wie lange der Mensch tot ist«, fiel Helle ihm ins Wort. »Vielleicht wurde er oder sie woanders getötet und dann hier versteckt. Und Dr. Holt ist vielleicht nicht der Richtige, er …«

»Willst du mir meinen Job erklären?« Ingvar knurrte verärgert. Auf Dr. Holt, Allgemeinmediziner aus Fredrikshavn, mittlerweile in Rente, ließ er nichts kommen, es war einer seiner Weggefährten von Anfang an. Er spielte Rechtsmediziner und leistete die ersten Begutachtungen bei Unfällen und kleineren Gewaltdelikten. Bei Mord war er hoffnungslos überfordert.

»Aber schön, dass du so viel von mir gelernt hast«, schickte Ingvar hinterher.

Einer der Fredrikshavner Kollegen feixte. Helle streckte ihm die Zunge raus.

»Skagen, schaut euch an, wer als vermisst gemeldet wurde. Vielleicht passt etwas zu unserem Fund hier.« Ingvar richtete sich auf und blickte streng wie ein Herbergsvater in die Runde. »Sagen wir mal die letzten zwei Jahre.«

»In Skagen und Fredrikshavn?«, erkundigte sich Ole. »Ich glaube nicht …«

»In Dänemark! Herrgott noch mal, Halstrup! Wie beschränkt bist du?« Ingvar schüttelte genervt den Kopf.

Ole sah beschämt zu Boden.

»Ole ist nicht …«, wollte Helle sich vor ihren jungen Kollegen stellen, aber Ingvar sprach einfach weiter, als existierte sie nicht.

»Am besten wird es sein, wenn du das selbst machst, Helle. Die Vermissten durchgehen. Du bleibst hier am Tatort, Halstrup. Mit Amira, wenn sie schon mal da ist.«

Den Seitenhieb konnte Ingvar sich nicht verkneifen. Er sah seine Autorität untergraben – schließlich hatte er die Digitalisierung der Skagener Wache abgelehnt, und dass Sören Gudmund sie beim Polizeipräsidenten doch für Helle durchgedrückt hatte, erregte sein Missfallen. Und das ließ er Helle bei jeder Gelegenheit spüren. Allerdings hatte sie beschlossen, auf Durchzug zu schalten.

»Linn, du gibst eine Pressemitteilung raus. Vielleicht kommt das noch morgen in die Blätter, und es melden sich Zeugen.«

Helle konnte förmlich sehen, wie Ingvar zu Höchstform auflief. Er schien regelrecht ein paar Zentimeter zu wachsen. Sie verzichtete auf den Einwand, dass es nicht besonders klug war, die Presse zu benachrichtigen, bevor irgendetwas über die Leiche in der Düne bekannt war. Ein Zeitungsbericht würde nämlich vor allem Neugierige und Gaffer auf den Plan rufen. Und ein paar Spinner, die irgendeine Nebensächlichkeit beobachtet hatten und sich wichtigmachen wollten.

»Da wir die Ergebnisse der Spurensicherer und des Rechtsmediziners abwarten müssen, treffen wir uns erst morgen um elf. In meinem Büro.«

Er drehte sich zu Helle und Ole um. »Es reicht, wenn einer von euch kommt. Am besten du, Helle. Dann kannst du uns die Ergebnisse deiner Recherche mitteilen.«

»Übernimmst du den Fall?« Helle kannte die Antwort, aber sie musste trotzdem fragen.

»Natürlich. Es ist ja meine Zuständigkeit.« Ingvar sah sie milde lächelnd an. »Ich weiß gar nicht, warum du fragst.«

Damit wandte er sich ab und machte seinen Leuten ein Zeichen, den Tatort zu verlassen. Helle und Ole blieben im strömenden Regen in der Dunkelheit zurück.

»Du gehst nach Hause, nimmst eine heiße Dusche und legst dich aufs Ohr«, wies Helle Ole an.

»Aber …«

»Ist mir scheißegal. Ich brauch dich lebendig und nicht mit einer Lungenentzündung. Hol dir eine Mütze Schlaf, dann treffen wir uns in der Wache. Sagen wir um sieben. Ich halte hier die Stellung.«

Ingvar würde gar nicht merken, dass sie seiner Anweisung nicht Folge leisteten, dachte Helle. Hauptsache, es wartete hier jemand auf die Leute aus Aalborg und sorgte dafür, dass der Tatort gesichert blieb. Sie gab Ole noch ein paar weitere Instruktionen, dann verließ der junge Mann sichtlich erleichtert den Strand.

Helle kauerte sich in die Hocke, zog den Südwester noch tiefer in die Stirn, goss sich einen Becher heiße Brühe ein und starrte auf die gespenstisch erleuchtete Hand.

Sie hörte durch den Regen, der ihr auf Kopf und Schultern prasselte, die Wellen an den Strand branden. Roch den nassen Sand, frisch und sauber, den salzigen Tang, muffiges Treibholz.

Helle spürte, wie sie ruhig wurde. Und fokussiert. Es war gerade gut, so wie es war. Allein hier in der Nacht in der Düne. Mit einer Hand. Niemand quatschte, keiner lenkte sie von ihren Gedanken ab.

Unter dem Regenzeug war Helle trocken und warm, die depressive Stimmung, die sie in den letzten Tagen und Wochen umklammert gehalten hatte, war verflogen, ihr Herz schlug kräftig und gleichmäßig, sie fühlte sich lebendig und energiegeladen.

Je länger sie die Hand betrachtete, desto sicherer war sie sich, dass sie die Ermittlungsarbeit nicht allein Ingvar und seinem Team in Fredrikshavn überlassen wollte. Ingvar war kein schlechter Polizist, aber er stand kurz vor der Pensionierung, war starrköpfig und seine Methoden von gestern. Sicher stellte er sich vor, wie er den spektakulären Fall brillant lösen und mit einer Auszeichnung vom Polizeipräsidenten in den Ruhestand verabschiedet werden würde.

Helle zog ihr Handy aus der Tasche. Ohne nachzudenken leitete sie die Nachricht von Ole – das Foto mit dem Text »Råbjerg Mile« – weiter.

Sekunden später kam der Anruf.

Helle und die kalte Hand

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