Читать книгу Helle und die kalte Hand - Judith Arendt - Страница 7

Skagen Außentemperatur 8 Grad

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Die Feuchtigkeit drang bis auf die Knochen. Der dicke Wollpulli unter dem Parka, ihre Füße in den Red-Wing-Boots, die Hosenbeine ihrer Jeans – alles fühlte sich feucht, klamm und kalt an. Helles Haare klebten am Kopf, nass vom Regen und schmierig von der salzigen Gischt des Meeres. Ein vollgesogener Schwamm, das war sie, und es wunderte Helle, dass ihre Haut mittlerweile nicht aussah wie die einer Wasserleiche – wellig, grün und aufgeschwemmt.

Seit Wochen und Monaten regnete es. Ende August hatte es angefangen, nun war Mitte November, und wenn es einmal für wenige Stunden trocken blieb, dann schien es, als wolle der Wettergott nur Atem holen, um einen weiteren, noch schlimmeren Regen auf Jütland niedergehen zu lassen. Im vergangenen Jahr hatte der Sommer gefühlte acht Monate angedauert, die Äcker verdorrten, im Fluss trieben tote Fische, und im Oktober hatte Helle sich geweigert, auch nur einmal noch auf der Terrasse zu grillen, sie hatte sich stattdessen nach dem Herbst gesehnt, der einfach nicht gekommen war.

Und nun das.

Sogar der Hund hatte den Regen satt. Emil wollte nicht mehr mit ihr am Strand spazieren gehen. Wenn es an der Zeit war, trat er hinter Helle durch die große Panoramascheibe, durch die man vom Wohnzimmer direkt in die Dünen gelangte, hob sein Bein am allerersten Sandhaufen und setzte sich anschließend trotzig daneben. Er beobachtete sein irres Frauchen dabei, wie diese in ihrem Regenzeug in Richtung Meer stapfte, ihn abwechselnd zu locken versuchte oder autoritär mit dem Fuß aufstampfte, um ihm einen Gehorsam abzuverlangen, den er sein Lebtag nicht besessen hatte.

Jetzt lag der große alte Mischling unter der Wartebank in der Bahnhofshalle von Fredrikshavn, war schlafend zur Seite gekippt, sein helles Fell auf dem pfützennassen Betonboden. Helle vermied es, zu ihm hinunterzublicken, es schmerzte sie, dass ihr alter Geselle diesen feuchten Pelz mit sich herumtragen musste und sich nicht am Kaminfeuer zu Hause wärmen konnte. Sie befürchtete, er würde sich eine Lungenentzündung holen.

Ihre klammen Finger umfassten den Thermosbecher fester, als könne sie sich daran wärmen, aber die Hitze des Kaffees drang nicht nach außen durch. Hoffentlich würde Bengt es noch vor ihnen nach Hause schaffen, den Kamin anheizen und indisches Curry aufwärmen.

Endlich lief der Zug aus Kopenhagen ein. Die blecherne Stimme der Ansagerin schepperte unverständlich aus den Lautsprechern, in der Ferne zeigten sich die gelben Lichter, wie Augen eines Drachen, der sich durch Dunkelheit und strömenden Regen seinen Weg bahnte.

Kurz überlegte Helle, ob sie aufstehen und Amira, ihre ehemalige Polizeianwärterin, auf dem Bahnsteig abfangen sollte, aber dann blieb sie doch sitzen. Sie wollte nicht, dass Emil sich bemüßigt fühlte, ihr zu folgen. Jedes Aufstehen war mit Anstrengung und Schmerzen für den arthrosegeplagten Hundekörper verbunden.

Beinahe lautlos glitt der Zug in den Bahnhof, ein leises metallisches Geräusch zeigte an, dass er zum Stehen gekommen war. Die Türen gingen auf, einige wenige Reisende sprangen aus den Wagen und hasteten den nassen Bahnsteig entlang, die Köpfe tief zwischen die Schultern gezogen. Dunkle Regenjacken, dicke Schuhe, wenige Wollmützen, Schirme, Schals – eine dampfende, feuchte und deprimierte Schar Reisender.

Fünf Uhr am Nachmittag und schon stockfinster im kalten Regen.

»Hej Fredrikshavn«, sagte Amira und grinste.

Mit einer routinierten Armbewegung schob Amira kurz darauf die leeren Tüten von Knabberkram, Wasserflaschen, eine Dose mit Emils Leckerli, die Hundeleine und zwei leere CD-Hüllen (Helle konnte sich verflixt noch eins nicht daran erinnern, wem sie die Patti Smith ausgeliehen hatte und warum die Hülle, nicht aber die CD da war) vom Beifahrersitz.

»Hat sich nichts verändert«, bemerkte die junge Frau und schickte einen strengen Blick zu Helle.

Die nickte und schämte sich kurz ihrer rollenden Müllkippe, während sie die sperrige Rampe aus Hartplastik für Emil aufklappte. Anders schaffte er es nicht mehr in den Kofferraum. Während der Hund mürrisch über die Rampe hochtrottete, schob Helle Amiras Rucksack auf den Rücksitz ihres Volvos. Direkt neben die große Kiste mit der Fritteuse, die Bengt von Kollegen zum Geburtstag geschenkt bekommen hatte und die seitdem – ein halbes Jahr immerhin – von Helle durch die Gegend gefahren wurde in der Absicht, sie bei nächster Gelegenheit irgendwo zu verkaufen. Wahrscheinlicher war, dass das ungeliebte Ding im Lauf des nächsten halben Jahres im Keller bei all dem anderen Lebensmüll landete, der Helles Energiekanäle verstopfte.

»Eine Fritteuse, ernsthaft?« Amira hatte sich zu ihrer ehemaligen Chefin nach hinten gedreht und beobachtete, was diese mit dem Rucksack anstellte, der auf der Rückbank ebenso wenig Platz hatte wie der Karton und die Hunderampe.

»Frag nicht«, antwortete Helle mit zusammengebissenen Zähnen. Sie schichtete mühsam um, kleiner Müll wurde in den Fußraum verbannt, die Kiste rutschte hinter den Beifahrersitz, der Rucksack wurde aufrecht danebengepresst und die Rampe – Emil hatte sich bereits stöhnend im Kofferraum zusammengerollt – zusammengeklappt hinter den Fahrersitz geklemmt.

»Ich finde, du solltest rauchen.« Jetzt lachte Amira.

Helle ließ sich hinters Lenkrad plumpsen, schickte ein stummes Stoßgebet an den Anlasser und drehte schließlich wagemutig den Zündschlüssel. Ihr Gebet wurde erhört, der Volvo räusperte sich und zeigte durch sonores Tuckern an, dass er bereit zum Start war.

»Warum das denn?«

»In dieser Dreckskarre fehlt der übervolle Aschenbecher.«

Helle warf Amira einen gutmütigen Seitenblick zu, legte den ersten Gang ein und freute sich. Sie hatte die junge Afghanin wirklich vermisst.

Auf der Fahrt nach Skagen tauschten sie ein bisschen Klatsch aus, und Helle erzählte von Amiras früheren Kollegen aus der Skagener Polizeistation – Marianne, Jan-Cristofer und natürlich Ole.

»Habt ihr immer noch keinen Nachfolger für mich gefunden?«, erkundigte sich Amira.

Helle schüttelte den Kopf. »Ingvar hat die Stelle einfach gestrichen. Er würde Skagen sowieso am liebsten dichtmachen. Und wenn es seine letzte Amtshandlung ist.«

»Das ist doch …« Amira musste den Satz nicht vollenden, sie war mit Helle einer Meinung, dass es höchste Zeit für den sturköpfigen Chef aus Fredrikshavn war, in Rente zu gehen. Sonst würde er noch mehr Unheil anrichten.

»Wenn Ingvar weg ist, beantrage ich die Stelle einfach noch mal, was soll’s.« Helle zuckte mit den Schultern. »Oder ich warte, bis du zurückkommst.« Sie traute sich nicht, zu Amira hinüberzuschauen, sie hatte Angst davor, sie würde den Kopf schütteln.

Aber die antwortete erst gar nicht. »Seit wann ist Leif weg?«, fragte sie.

»Vier Wochen.« Helle seufzte. »In den ersten Tagen hat er noch Fotos geschickt oder mal eine Sprachnachricht. Jetzt höre ich gar nichts mehr.« Sie lachte. »Aber dank Instagram weiß ich, dass es ihn noch gibt. Irgendwo da draußen.«

Leif war der Sohn von Helle Jespers, Polizeihauptkommissarin von Skagen, und ihrem Ehemann Bengt. Sie hatten noch eine ältere Tochter, Sina, die in Kopenhagen studierte. Hoffentlich noch studierte, Helle war sich da nicht immer so sicher. Leif dagegen hatte im Sommer tatsächlich sein Abitur bestanden, mit Hängen und Würgen, eine Zeitlang hatte es so ausgesehen, als würde es nicht klappen. Im Sommer hatte er im örtlichen Kvickly-Markt gejobbt und war Anfang Oktober mit seinem Freund David, einer vollen Mastercard und absolut keinem Plan nach Thailand geflogen. Auf Instagram konnte Helle den strahlenden Leif in Bangkok verfolgen, mit David vor einer Tempelanlage, weiße Strände – alles wirklich bestens, nur seine Eltern zu Hause im fernen Jütland schien der Junge vergessen zu haben.

Helle vermisste ihren Sohn. Das leere Zimmer, das leere Haus, nur Bengt und Helle. Und der alte Hund.

Sie war deprimiert.

Seit vier Wochen übernahm Helle häufig die Nachtschichten, machte Überstunden, auch wenn es gar nichts zu arbeiten gab. Aber sie scheute sich, nach Hause zu kommen. Sie hielt es nicht aus ohne ihre Kinder. Bengt versuchte, dafür Verständnis aufzubringen, vor allem weil Helle immer beteuerte, es läge nicht an ihm, dass sie so viel Zeit in der Wache verbrachte – und das stimmte! –, aber langsam war auch seine Geduld am Ende.

Da war Helle auf die Idee mit Amira verfallen.

Die junge Frau aus Afghanistan hatte im vergangenen Winter bei der Aufklärung eines Falles die Attacke eines Mörders nur knapp überlebt. Sören Gudmund, Leiter der Kopenhagener Mordkommission, hatte sich anschließend dafür eingesetzt, dass Amira nach ihrer Genesung und Therapie nach Kopenhagen kommen solle. Weg von Skagen, vom Ort des Geschehens. Und weg von der Arbeit auf der Straße, sie sollte eine Zeitlang im Innendienst arbeiten. Inga, die die IT-Abteilung der MK leitete, nahm Amira unter ihre Fittiche, und nach allem, was Helle berichtet wurde, lag Amira der Job. Sie war gut darin, mehr als gut, und es machte ihr Spaß.

Helle musterte die junge Frau auf dem Beifahrersitz verstohlen. Amira sah gut aus. Erwachsener. Sie war Anfang zwanzig, aber sie wirkte reifer. Vor allem im Vergleich zu Helles Tochter, die sich immer noch wie ein Hundewelpe benahm.

»Wie geht’s dir mit dem Stadtleben?«

Jetzt wandte Amira sich direkt Helle zu. »Es ist toll. Wirklich. Ich habe immer gedacht, ich kann auf das hier nicht verzichten. Die Dünen, der Strand, aber …«

Sie lächelte und sah wieder aus dem Fenster ins dunkle Nichts.

Helle fragt sich augenblicklich, ob es richtig war, Amira wieder hierherzuholen, wenn auch nur für kurze Zeit.

Sie hatte es sich so schön ausgemalt. Nachdem Ingvar alle ihre Anträge auf Digitalisierung und Neuausstattung ihrer Polizeistation mit leistungsfähigen PCs und Tablets rundheraus abgeschmettert hatte, war ihr Sören Gudmund zu Hilfe gekommen. Er hatte sich dafür eingesetzt, dass Skagen den Anschluss an das digitale Zeitalter bekommen würde und vor allem: ins System eingegliedert wurde, sodass Helle und ihre Kollegen Zugriff auf zentrale Ermittlungsergebnisse hatten. Bislang waren sie ein Wurmfortsatz des Polizeiapparates in the middle of nowhere. Helle war auf die Idee gekommen, dafür ihre ehemalige Polizeianwärtern anzufordern – zum einen, weil sie Amira wirklich vermisste, zum anderen, weil ihre eigenen Kinder ihr fehlten und sie es sich schön vorstellte, wieder jemand Junges im Haus zu haben. Darüber, dass es für Amira vielleicht noch nicht Zeit war, an den Ort ihres Traumas zurückzukehren, hatte sich Helle nicht allzu viele Gedanken gemacht. Es hatte ihr genügt, dass sie eingewilligt hatte.

Amira drehte die Musik lauter. »Was ist das?«

»Tim Buckley. Kennt heute keiner mehr. Nur den Sohn.«

»Schön.« Amira rieb sich über die Oberschenkel, eine Geste, die Helle so gut von ihr kannte.

»Mach dir keine Gedanken, Helle. Ich freu mich, euch alle wiederzusehen.«

Anscheinend konnte Amira Gedanken lesen.

»Marianne kocht und backt seit Tagen. Sie denkt wohl, du bekommst in Kopenhagen nichts zu essen.«

Marianne, die gute Seele der Wache. Sie war seit mehr als dreißig Jahren dort als Sekretärin und Empfangsdame angestellt. Aber sie war so viel mehr als das. Sie fühlte sich verantwortlich für das körperliche und seelische Wohl der Polizisten, besonders für Amira hatte sie mütterliche Gefühle entwickelt.

Nun bog Helle in die schmale Anliegerstraße ein, die zu ihrem Haus führte. Die Familie Jespers wohnte am Rand von Skagen, in einem Haus in den Dünen. Hier war das Ende der Welt, eine Sackgasse am Ende eines Landes, danach kam nur noch das Meer. Oder eher: die Meere, denn nur wenige Kilometer nördlich von hier gelangte man nach Grenen, dem Strandabschnitt, an dem sich Kattegat und Skagerrak begegneten.

Zu Helles großer Enttäuschung lag das große Holzhaus dunkel da. Bengt war also noch nicht zu Hause. All ihre Hoffnung auf einen warmen Empfang zerschlugen sich, und Helle hatte Mühe, ihren Frust darüber hinunterzuschlucken.

Während Helle die Rampe ausklappte und den muffeligen Hund aus dem Kofferraum entließ, zerrte Amira ihren Rucksack von der Rückbank.

»Zum Glück hast du Bengt«, sagte sie.

»Wie meinst du das?«

Amira richtete sich auf und sah Helle verwundert an. »Na, wie ich es sage. Zum Glück hast du Bengt.«

Helle lachte verlegen. »Jaja, das stimmt schon, aber ich meine, wie kommst du jetzt darauf?«

»Weil es sonst bei dir zu Hause genauso aussehen würde wie in diesem Schrotthaufen.«

Amira stellte sich unter das schützende Vordach, während Helle die vermaledeite Rampe wieder ins Auto bugsierte. Dreißig Sekunden ohne Kapuze, und schon war ihr Kopf tropfnass. Das Wasser lief ihr von den Haaren in den Kragen, und Helle wünschte sich jetzt nichts sehnlicher als eine heiße Badewanne und danach ein Glas Wein am Kamin, eingemummelt in viele Decken und dicke Socken. Emil würde heute Nacht jedenfalls keinen Spaziergang mehr bekommen. Wenn er dringend musste, würde sie lieber nachts kurz aufstehen und ihn rauslassen.

Das Haus war über den Tag ausgekühlt. Sie heizten noch nicht, aber der große Raum mit der offenen Küche und der Sofalandschaft wurde schnell warm, wenn der Kamin erst ordentlich loderte und jemand kochte.

Helle machte alle Lampen an, stapelte Holz im Kamin und entzündete es. Die nassen Jacken und Schuhe hatten sie im Windfang gelassen, Amira verstaute ihren Rucksack in Leifs Zimmer, in dem sie während der vier Wochen in Skagen wohnen sollte.

Helle verschwand im Schlafzimmer, um sich die klammen Sachen vom Körper zu reißen und in einen Hoodie sowie mollige Jogginghosen zu schlüpfen. Dabei streifte ihr Blick den Spiegel. Eine fremde Frau sah sie gehetzt an. Ein trauriger Blick aus verschatteten Augen, triefnasse dünne Haarsträhnen klebten an Wangen und Stirn. Unter dem Sport-BH wölbte sich ein weißer Bauch in mehreren Rollen, der zu kleine Baumwollschlüpfer verschwand fast darunter.

Helle hielt inne und richtete sich auf. Sie zwang sich, der Frau im Spiegel in die Augen zu blicken. Wer war das? Und warum zum Teufel ging es der so schlecht?

War sie krank? Nein.

Jemand gestorben? Auch nicht.

Musste sie auf der Straße leben? Helle schüttelte den Kopf und sah weg. Stell dich nicht so an, Helle Jespers, dachte sie. Was ist denn verdammt noch mal mit dir los?

Dabei wusste sie ganz genau, was los war. Sie hatte sich gehenlassen. Der fürchterliche Fall vor einem Dreivierteljahr, die Anspannung wegen Leifs Abitur, die Abwesenheit gleich zweier Kollegen – Amira und Jan-Cristofer – und, last but not least, die Erkenntnis, dass Leif nun auch erwachsen war und sie verlassen würde, hatten dazu geführt, dass sie in ihrem eigenen Leben keine Rolle mehr gespielt hatte.

Sie war müde und fühlte sich ausgelaugt. Helle setzte sich aufs Bett und starrte die Frau im Spiegel an.

So nicht, dachte sie.

Morgen würde sie Unterwäsche kaufen. Immerhin ein Anfang. Sie rubbelte sich die Haare halbtrocken und kramte aus der Schminkschublade ein altes Cremerouge hervor. Es roch ranzig, aber Helle schmierte sich trotzdem ein paar Tupfer auf die Wangenknochen. Sie sah gleich frischer aus. Was fand Bengt nur immer noch attraktiv an ihr? Nach zwanzig Jahren Ehe. Sie nahm sich vor, sich ein bisschen mehr Mühe zu geben. Mit sich, aber auch mit ihrem Mann. Er war – neben Emil – einer der wenigen, die sie noch aushielten.

Sie hatten ein Abendessen improvisieren müssen, denn Helle hatte nichts eingekauft – in der irrigen Annahme, das würde wie immer Bengt übernehmen. Als der schließlich nach Hause kam, hatten sie fast alles aufgegessen: geröstete Roggenbrote mit Sardinen aus der Dose, stinkigen Käse, selbst gemachte Hagebuttenmarmelade und Ziegenfrischkäse mit gegrillter Paprika. Ein Kopf Salat hatte sich noch in der Gemüseschublade versteckt, Helle peppte ihn mit geriebener Karotte, dem Rest Gurke, einer Handvoll Kerne, hart gekochtem Ei und leckerem Dressing auf. Ein wahres Festmahl – der Kühlschrank war nun wirklich ratzekahl –, zu dem der schwere Bordeaux wunderbar schmeckte. Amira blieb wie üblich bei Tee.

»Ich musste noch zu Papa.« Bengt kam aus dem Windfang herein, rotbäckig, dampfend vor Wärme in dem kalten Regen, in seinem Bart glitzernde Feuchtigkeit. Er brachte zwei große Tüten aus dem Bioladen mit hinein, stellte sie ab und begrüßte seine Frau mit einer liebevollen Umarmung und einem Kuss. Bevor er sie losließ, kniff er die Augen zusammen und musterte sie.

»Du siehst gut aus.«

Helle grinste. Ranziges Rouge vermochte Wunder zu vollbringen.

Amira freute sich sehr, Helles Mann wiederzusehen, und ließ sich bereitwillig von dem gut gelaunten Wikinger drücken.

»Und dir tut die Großstadt auch gut, wie ich sehe.«

Bengt zwinkerte Amira zu, während er sich mit der einen Hand ein Brot in den Mund stopfte und mit der anderen sein Weinglas füllte.

»Kopenhagen ist super, wirklich.« Amira rieb sich wieder die Oberschenkel. »Und ich habe wahnsinnig nette Kollegen.«

»Pah!« Helle machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ricky und Sören, hör mir bloß auf!«

Sie lachten. Ricky Olsen war ein grobschlächtiger Hauptkommissar in Sören Gudmunds Truppe, und die Skagener hatten weder ihn noch den Leiter der Mordkommission ausstehen können, als die beiden damals im Fall Gunnar Larsen bei ihnen aufschlugen. Allerdings war die durchaus gegenseitige Antipathie im Lauf der Ermittlungen in Sympathie und Respekt umgeschlagen.

»Wie geht es deinem Vater?«, erkundigte sich Amira bei Bengt, der gerade antworten wollte, als Helles Handy den Eingang einer Nachricht vermeldete. Seit Leif auf Reisen war, hatte Helle den Apparat stets in greifbarer Nähe, sie wartete sehnsüchtig auf ein Lebenszeichen von ihrem Sohn.

Aber die Nachricht war von Ole. Er hatte ein Foto geschickt. Helle begriff nicht gleich, was darauf abgebildet war, ein Gegenstand im grellen Blitzlicht, außen herum schwarze Nacht.

Dann erkannte sie es. Eine Hand. Die Finger, absurd gekrümmt, ragten mahnend in die Nacht. Das war die Hand eines Toten, und so, wie es aussah, war er oder sie schon lange tot.

Ole hatte nur zwei Worte daruntergeschrieben.

»Råbjerg Mile.«

Helle und die kalte Hand

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