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Aalborg Innentemperatur 22 Grad

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Elins Hände waren schweißnass, während sie über die Tasten huschten. Sie konnte nicht aufhören, nach neuen Schlagzeilen zu suchen. Immer und immer wieder aktualisierte sie die Google-Seite, klickte sich durch die News, die sie schon auswendig kannte. Aber es gelang ihr nicht, mehr zu erfahren. Überall die gleichen Informationen, die Polizei schien nicht viel zu wissen.

Mehr würde sie im Moment nicht erfahren. Heute nicht, aber es war nur eine Frage der Zeit, bis man herausgefunden hatte, wer die Leiche in Råbjerg Mile war.

Angeblich wusste die Polizei noch nicht, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelte.

Elins Herz pochte. Pochte so laut, dass sie meinte, es hören zu können. Vielleicht war sie es ja gar nicht? Vielleicht spuckte die Wanderdüne alle paar Jahre eine Leiche aus? Konnte das nicht sein?

Wie gerne hätte sie daran geglaubt, aber Elin wusste, dass dem nicht so war. Die Wanderdüne war kein Friedhof.

Råbjerg Mile war das Grab von Imelda.

Es konnte nur Imelda sein, die man gefunden hatte. Es hatte gar keinen Sinn, das zu leugnen, es war die Stelle, die Kieran beschrieben hatte. Die Stelle, an der sie seitdem immer und immer vorbeigegangen war, um nachzusehen, ob man etwas erkennen konnte. Ob Imelda sich zeigte.

Aber es war wie ein später Triumph, dass sie sich erst offenbarte, als alle sie schon fast vergessen hatten.

Als die Spuren vernichtet, die Erinnerung getilgt war.

Als Elin alles geregelt, sogar das Unbehagen von Sven zerstreut hatte.

Imelda hätte gesagt, dass das ein Zeichen aus dem Reich der Toten war. Sie hatte an alle möglichen Götter und Dämonen geglaubt.

Sie hatte aber nicht daran geglaubt, dass die Götter sie beschützen würden. Deshalb wollte sie zur Polizei gehen.

Elin sah noch immer, wie Imelda das Haus verlassen hatte. Wütend. Sie hatte versucht, sie aufzuhalten, aber Imelda war fest entschlossen gewesen.

Was hätte Elin schon ausrichten können? Sie war so schwach. Und so hatte sie Kieran angerufen.

Er sollte das in Ordnung bringen.

Imelda zurückholen.

Mehr nicht.

Niemand hatte gewollt, dass das passierte.

Würde die Polizei herausfinden können, wie lange der Körper schon im Sand verborgen war?

Elin hätte es ihnen sagen können.

Auf den Tag genau.

Jetzt drückte sie eine Valium aus dem Blister und spülte sie mit dem Latte macchiato runter. Das Schlucken fiel ihr schwer, ihr Hals war trocken. Ihr Körper aber war nass, kalter Schweiß, überall. Und das Herzrasen. Sie hätte sich keinen Kaffee machen sollen. Aber sie war nicht fähig, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen, seit sie die Nachricht gelesen hatte.

Was sollte sie tun? Konnte sie etwas tun? Sie musste noch einmal mit Kieran reden. Oder mit ihrer Schwester?

Nein. Elin schüttelte den Kopf. Auf keinen Fall. Es war ein Geheimnis zwischen ihr und Kieran. Und das musste es bleiben. Niemand durfte erfahren, dass sie wusste, dass Imelda sich dort im Sand verbarg.

Am allerwenigsten Sven.

Bei dem Gedanken an ihren Mann wurde Elin augenblicklich schlecht. Sie schaffte es gerade noch ins Bad und beugte sich über das Waschbecken. Würgte. Da kam nicht mehr viel, nur noch Kaffee und Galle.

Elin sank auf den Badvorleger. Sie drückte ihre heiße Stirn an das kalte Porzellan der Kloschüssel.

Seit heute Morgen, seit sie die Eilmeldung auf ihrem Smartphone gesehen hatte, hing sie über dem Waschbecken. Dazu der kalte Schweiß. Und ihre Stirn so glühend heiß.

Sven hatte sich natürlich Sorgen gemacht, als er sie in dem Zustand gesehen hatte, er hatte befürchtet, Elin würde ihn oder den Kleinen anstecken. Deshalb hatte er ihn zu seiner Mutter gebracht. Elin hätte gerne protestiert, aber sie war zu schwach, zu konfus, und sie wusste natürlich, dass Sven recht hatte.

Wie immer.

Im Moment war sie froh, dass ihr Sohn nicht hier war, sie hätte sich mit ihm beschäftigen, mit ihm spielen, spazieren gehen müssen. Ihm etwas kochen, ihn füttern, vorlesen. Dazu war sie nicht in der Lage. Aber sie vermisste ihn. Ganz fürchterlich vermisste sie ihn. Sobald sie sich einigermaßen eingekriegt hatte, würde sie ihn abholen.

Elin schloss die Augen und dachte an das weiche, glänzende Haar ihres Sohnes. Am Anfang hatte er nicht viel mehr als Flaum auf dem Kopf gehabt, aber jetzt wuchsen die schwarzen Haare, sie wurden richtig dicht. Und glänzten. Sie musste ihm ständig über den Kopf streicheln, so stolz war sie auf ihn. Das wundervolle Haar, die großen runden Augen, sein glucksendes Lachen. Der erste Zahn!

Er war ein Wunder. Ihr Sohn.

Bertram bedeutete alles für Elin. Für ihn würde sie töten.

Könnte Sven ihn doch auch so lieben, wie sie es tat. Manchmal beobachtete sie Sven, wie er ihren Sohn ansah. Ihrer beider Sohn. Auf der Stirn eine steile Falte. Nachdenklich. Besorgt? Kritisch?

Er sollte sich doch auch freuen, dass sie nun endlich eine richtige Familie waren.

Nichts anderes hatten sie und Sven sich gewünscht. Viele Jahre lang.

Es war ein so übermächtiger wie vergeblicher Wunsch gewesen, und jetzt war er endlich wahr geworden.

Elin wollte alles dafür tun, dass dieses Glück nicht bedroht wurde.

Sie hatte alles dafür getan.

Niemand durfte dieses Glück zerstören. Imelda hätte es beinahe geschafft, sie war eine Bedrohung gewesen, und jetzt sollte sie endlich Ruhe geben.

So sah Elin das.

Sie setzte sich auf und zog sich schließlich am Waschbecken hoch. Spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht. Ein paar Spritzer von dem Hyaluron-Feuchtigkeits-Booster hinterher und auf die Augen kühlende Pads, dann würde sie einigermaßen okay aussehen. Man durfte ihr die Panik nicht anmerken. Sie durfte sich jetzt nicht gehenlassen.

Was war der Plan? Hatte sie einen Plan? Es war nicht vorgesehen, dass Imelda plötzlich wieder auftauchte. Elin hatte es in den letzten Monaten fast geschafft, nicht mehr daran zu denken.

Sie ging auf wackligen Beinen zum Küchenblock, goss sich Wasser aus der Karaffe ein und bemühte sich, die Atmung unter Kontrolle zu bekommen und ihre Gedanken zu ordnen.

Ganz ruhig. Keine Panik schieben.

Elin blickte auf ihre zitternden Hände. Sie ging in den großen Wohnraum, legte sich auf die Chaiselongue und drückte sich die Pads auf die Augen. Dann zwang sie sich nachzudenken.

Wenn die Polizei Imelda aus dem Sand geholt hatte, würde sie doch nicht mehr zu erkennen sein, oder? Wen konnte sie das fragen? Ihre Schwester kannte Leute. Den Polizeipräsidenten. Der wusste so etwas kaum, aber vielleicht war es möglich …

Sie verwarf den Gedanken.

Ob Kieran jemanden bei der Polizei kannte?

Wie auch immer, es würde lange dauern, bis man die Tote identifiziert hatte. Sie war nicht in Dänemark gemeldet, hatte keine Papiere, außerdem hatten sie dafür gesorgt, dass Imelda nicht unter Leute ging. Was sie natürlich doch getan hatte, und das war ein Teil des Problems gewesen.

Gottlob lebten sie in einer Großstadt, die Nachbarn interessierten sich nicht füreinander. Und hier, in den Neubauvillen, guckten die Leute einander auch nicht ständig über den Zaun. Elin wusste noch nicht einmal, wie die Leute, die neben ihnen wohnten, hießen. Zur Linken eine Diplomatenfamilie, Chinesen, die bekam man nie zu Gesicht.

Die Villa zur Rechten war erst kürzlich fertiggestellt worden, Sven meinte, ein kinderloses Paar sei dort eingezogen, aber die beiden schienen immer zu arbeiten. Licht sah man nur am späten Abend. Nein, von den Nachbarn hier in Aalborg drohte wohl keine Gefahr.

Ein philippinisches Hausmädchen, wer scherte sich darum?

Natürlich würde es Menschen geben, die Imelda erkennen könnten – vorausgesetzt, es gab noch etwas zu erkennen.

Wie war das eigentlich mit Gesichtsrekonstruktion, fragte sich Elin, zog die Pads von ihren Augen und setzte sich auf. Heutzutage konnten Computer doch schon von nackten Schädeln ablesen, wie ein Gesicht ausgesehen haben musste. Von Menschen, die seit Jahrhunderten tot waren.

Keine Frage, sollte die Polizei ein wie auch immer geartetes Phantombild von Imelda veröffentlichen, würde irgendjemand sie auch erkennen. Ihre Schwester, die Schwiegermutter und wer weiß wer noch.

Was würde Sven sagen, wenn er erfuhr, dass ihre Leiche aufgetaucht war?

Elin schauderte.

Normalerweise war er auf Reisen, hielt Reden auf diesem Kongress und jenem, ständig, nur in dieser Woche, da war er ausnahmsweise hier.

Als Imelda bei ihnen anfing, war Sven alles andere als begeistert gewesen – nicht ganz zu Unrecht, wie sich herausstellte. Er war sofort skeptisch gewesen, ob es eine gute Idee war. Schließlich war es Elins Idee und nicht seine.

Wenn alles gut lief, dann würde die Polizei in dieser Woche kein Phantombild veröffentlichen. Dann blieb die Leiche aus der Wanderdüne eine unbekannte Leiche. Vermutlich würde die Polizei erst einmal die Vermisstenfälle abarbeiten.

Der Gedanke tröstete Elin, und sie beschloss, alles auf diese Karte zu setzen. Einfach so weiterzumachen. Nicht nervös zu werden.

Sie durfte nicht zulassen, dass ihre Gedanken wieder verrücktspielten, sich im Kreis drehten, immer schneller, sodass sie den Überblick verlor. Das war ihr einmal im Leben passiert, und es hatte nicht besonders gut geendet.

Wie sagte ihre Freundin Sara? Aufstehen, Krönchen richten, weitermachen.

Elin kicherte. Genau so würde sie es machen. Und jetzt würde sie Bertram von ihrer Schwiegermutter abholen. Mit ihm in ein Café gehen und sich etwas gönnen. Ein kleines Törtchen, ein Petit Four oder Macarons. Ein Gläschen Champagner. Und für Bertram würden sie ein hübsches Bilderbuch kaufen, in der Buchhandlung direkt gegenüber dem Café.

Herrlich.

Das Leben konnte so schön sein.

Helle und die kalte Hand

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