Читать книгу Helle und die kalte Hand - Judith Arendt - Страница 5
Råbjerg Mile Im März, Außentemperatur 12 Grad
Оглавление»Steig ein!«
Das Auto bremste neben ihr, der junge Mann hielt die Beifahrertür auf.
Sie kannte ihn. Es war keine schöne Erinnerung. Der Fahrer beugte sich nun ebenfalls hinüber, und auch ihn erkannte sie. Er sagte etwas, sie verstand ihn nicht. Sie schüttelte den Kopf und ging weiter.
Das Auto rollte langsam neben ihr die Straße entlang. Die Männer redeten auf sie ein. Schließlich bremste der Wagen, der junge Mann stieg aus und lief hinter ihr her. Er packte sie am Arm, aber sie riss sich los. Lief schneller. Gerade noch hatte ein anderes Auto sie überholt, aber nun war es weg und weit und breit kein anderes in Sicht.
Weil sie den Bus verpasst hatte, musste sie nach Skagen laufen. Es war kein schöner Weg, und er war weit, führte an der Straße entlang und durch die Dünen, in denen lediglich ein paar versprengte Kiefern standen.
Die Jacke war zu dünn, sie fror. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass dieses Land so schrecklich kalt sein würde. Seit ihrer Ankunft fror sie. Ständig blies ein Wind. Wie hielten die Menschen das nur aus?
Der junge Mann lief hinter ihr her und hatte sie rasch eingeholt. Er packte sie an beiden Armen, nicht besonders fest, aber sie spürte doch, dass es keinen Sinn hatte, sich zu wehren. Er redete auf sie ein, aber sie schüttelte den Kopf. Sie wollte nicht zurückgebracht werden. Sie hatte sich entschlossen, zur Polizei zu gehen, und wollte sich nicht davon abbringen lassen. Aber sie wusste, dass sie gegen die Männer keine Chance hatte, und sie wusste, dass sie hier waren, um sie zurückzubringen.
Der Fahrer legte den Rückwärtsgang ein, hielt schließlich neben ihr mit laufendem Motor, und der junge Mann schubste sie auf den Rücksitz. Er nahm neben ihr Platz, und kaum hatte er die Autotür zugezogen, gab der Fahrer Gas.
Die Männer lachten, aber es war kein Lachen, das ihr die Angst nahm.
Fröstelnd schlang sie die Arme um den Oberkörper und presste die Beine zusammen.
»Home!«, sagte der Mann am Steuer nun zu ihr. Sie sah seine Augen im Rückspiegel. Er versuchte zu lächeln.
»We drive you home«, versuchte er noch einmal, sich ihr auf Englisch verständlich zu machen.
Sie nickte stumm. Was sollte sie auch sagen? Dass sie auf dem Weg zur Polizei war, um alles auffliegen zu lassen? Das wäre ihr nicht gut bekommen. Also schwieg sie. Sie würde es wieder versuchen. Wieder und wieder.
Die Männer fuhren mit ihr die Straße entlang, die zum Haus führte. Aber sie wusste, dass diese Männer nicht dafür bekannt waren, besonders hilfsbereit zu sein. Nicht zu ihresgleichen jedenfalls. Sie hatte Geschichten gehört.
Filipe konnte nichts dafür. Ihr Schwager hatte sicherstellen wollen, dass sie in Sicherheit war. Er wollte ihr helfen. Hätte er gewusst, was hier geschah, er hätte sie angefleht, zu Hause zu bleiben. Zu Hause in Luzon.
Warum musste sie nach Europa fliehen? Warum hätte sie nicht nach Indonesien gehen können? China, Malaysia, ganz egal, einfach nur weg aus ihrem Heimatland? Im Nachhinein wusste man es immer besser. Jetzt wusste sie, dass es ein Fehler gewesen war, nach Europa zu gehen. Alle zurückzulassen.
Besonders ihre geliebte Schwester.
Und so, wie die Dinge lagen, war es ihr besser ergangen als manch anderer. Das Kind war ein Schutz. Das war es schon auf der Überfahrt gewesen. Manche Männer hatten Respekt vor einer Mutter.
Aber nicht alle, dachte sie müde und beobachtete aus den Augenwinkeln ihre zwei Begleiter. Was waren sie? Entführer? Bewacher?
Sie hielt sich an dem Gedanken fest, dass die beiden es nicht wagen würden, sich an ihr zu vergreifen. Dafür war die Blonde zu mächtig. Die Blonde hatte ihre schützende Hand über sie und den Kleinen gebreitet, das glaubte sie zu wissen. Deshalb war sie zu dem Ehepaar gekommen. Am Anfang hatte sie sich glücklich geschätzt, die anderen Mädchen hatten es weitaus schlechter getroffen als sie. Aber dann …
Plötzlich setzte der Mann den Blinker. Sie hatten die große Kreuzung erreicht, und der Weg zum Haus führte nach links, nicht nach rechts.
Panik stieg in ihr hoch. Der junge Mann neben ihr bemerkte ihre Nervosität, er legte eine Hand auf ihr Knie und sagte etwas, das sie nicht verstand. Diese verfluchte Sprache.
Sie hasste die Sprache, sie hasste das Land, sie hasste die Kälte, den Wind und die Menschen.
Was in aller Welt hatte sie hierhergetrieben? Warum hatte niemand ihr gesagt, wie es in Wirklichkeit war, warum hatte sie sich das Falsche in den Kopf gesetzt?
Sie kannte die Antwort.
Ein Reh lief plötzlich aus dem Wäldchen am Straßenrand auf die Fahrbahn. Es war weit genug weg, dass der Fahrer es noch rechtzeitig sah und heftig bremste. Der Wagen schlingerte, sie wurden nach vorn geschleudert, der Mann neben ihr nahm seine Hand von ihrem Knie und stützte sich am Vordersitz ab.
Der Fahrer fluchte, der Wagen stand nun quer auf der Straße, das Reh war mit einem großen Satz davongesprungen.
Ohne nachzudenken, öffnete sie die Autotür, rollte aus dem Wagen und lief über die andere Straßenseite in den lichten Kiefernwald. Dahinter konnte sie die langgestreckte Düne erkennen.
Sie rannte, wie von Dämonen gejagt, womit hatte sie das verdient? Sie hatte Sicherheit gewollt, für sich und ihr Kind, aber es war alles noch schlimmer geworden, und jetzt waren sie hinter ihr her.
Dämonen.
Sie wagte einen Blick zurück über die Schulter. Die Männer schienen sich uneins zu sein, ob sie ihr folgen sollten oder nicht, jedenfalls konnte sie sehen, dass die beiden noch auf der Straße am Auto standen und stritten.
Sie blickte wieder nach vorne, versuchte, sich zu orientieren. Hier war sie schon einmal gewesen, das wusste sie, sie hatten einen Ausflug gemacht. Weit dort hinten war das Meer und davor die Kirche.
Es war kein guter Ort, das hatte sie gespürt, als sie hier gewesen waren. Es herrschten Erdgeister tief im Sand. Sie hatte es unter ihren Füßen gespürt, damals, der Sand war tückisch, er vibrierte, und sie wusste, dass hier Geister und Dämonen lebten, die älter und mächtiger waren als die Menschheit. Sie wusste es, weil sie diese Wesen von zu Hause kannte.
Die Geister, die im Wasser lebten und die die Fischer zu besänftigten suchten, indem sie ihnen einen Teil des Fangs opferten.
Die Geister, die im Wald lebten, auf den Bäumen, sie sprangen herab und verbissen sich in die Kehlen der Menschen.
Oder die Dämonen der Luft, die sich durch schlechten Atem bemerkbar machten, sie drangen durch die Poren in die Menschen ein und nahmen von ihnen Besitz. So jedenfalls hatte es ihre Mutter erzählt und ihre Großmutter, und sie glaubte es.
Sie hatte Menschen gesehen, die von Dämonen besessen waren, auch hier in Dänemark.
Einer der Männer brüllte ihr etwas hinterher, und die Stimme war nah. Sie folgten ihr.
Jetzt wagte sie es nicht mehr zurückzublicken.
Stattdessen rannte sie noch schneller.
Die Kirche kam immer näher, sie sah den gestuften Turm, der sich wie ein düsterer Schatten gegen den Himmel abhob. Aber sie wollte keinen Schutz in der Kirche suchen, die Kirche war kein Haus Gottes mehr, Gott hatte diese Kirche verlassen, weil die Dämonen ihn besiegt hatten.
Stattdessen überließ er die Mauern der Kirche dem Sand. Das war kein Zufluchtsort für sie, sie musste weiter, immer weiter. Sie bog ab von dem Weg, der zur Kirche führte. Sie wollte die breite Düne überqueren und zum Meer.
In ihrem Rücken spürte sie die Gegenwart der Männer. Sie konnte sie nicht hören, sie hörte nur das Pulsieren des Blutes in ihren Ohren, ihren Atem, der schwer und stoßweise aus ihr hervorbrach, ein ängstliches Wimmern dann und wann.
Sie verlor ihren Schuh, einen flachen Ballerina, doch davon ließ sie sich nicht aufhalten, sie musste schneller sein.
Der Sand war eiskalt, im ersten Moment glaubte sie, die Füße frören ihr ab. Sie dachte an den warmen, trockenen und weichen Sand ihrer Heimat, die weiße Decke, die jemand in der gleißenden Sonne ausgebreitet hatte wie ein feines Tuch.
Es war mühsam, im tiefen Sand zu laufen. Warum bloß war sie hierhergeflüchtet?
Es war das Meer, dachte sie jetzt, während sie rannte, rannte, rannte. Die Lungen stachen, ihre Beine wurden schwer, aber sie wollte leben. Wollte überleben, sie hatte es so weit geschafft, es durfte nicht enden. Nicht so.
Sie flüchtete zum Meer, weil es ihr vertraut war, sie hätte sonst nicht gewusst wohin. Das Meer war ihr vertraut, es verband sie mit ihrer Heimat, wenn sie am Meer stand und in die endlose Weite blickte. Irgendwo dort, hinter dem Horizont, am anderen Ende der Welt, war ihr Zuhause. Ihre Schwester. Ihr toter Mann.
Sie wagte nicht zurückzublicken, richtete ihren Blick starr nach vorne. Das Dach der Kirche sah sie nicht mehr, dafür in der Ferne das dunkle fremde Wasser, das düstere kalte Meer, das so ganz anders war als das Meer ihrer Heimat. Und ihr trotzdem die Hoffnung gab, sie könnte es nach Hause schaffen. Irgendwann zurückkehren dürfen. Übers Meer war sie gekommen, übers Meer würde sie nach Hause fahren.
Ach, Luzon. Ach, Pilita.
Dann fiel sie. Plötzlich, unvorhergesehen, sie hatte die Abbruchkante nicht rechtzeitig gesehen.
Die Luft blieb ihr weg, sie wollte schreien, biss sich aber fest in den Arm, um sich nicht zu verraten.
Der Fall war weder tief noch schmerzhaft, sie kullerte lediglich im tiefen Sand ein Stück abwärts. Über ihr wölbte sich die Kante.
Sie warf einen Blick nach oben. Vielleicht sollte sie hierbleiben. Sich noch tiefer in die Sandmauer drücken, von oben konnte man sie nicht sofort entdecken. Wenn sie Glück hatte, blieb sie für die Blicke ihrer Verfolger verborgen. Sie war so zart und schmal.
Verzweifelt schaufelte sie mit ihren Händen, klein und starr vor Kälte, eine Kuhle in die Sandmauer. Sie schabte und riss immer mehr Sand aus der Düne, sie war wie von Sinnen, wollte sich im Sand verkriechen, sie dachte nicht mehr an die Erdgeister, nur an die Männer, die ihr auf den Fersen waren.
Ihr Atem ging schwer, sie stöhnte, dann presste sie die Lippen aufeinander, damit man sie nicht hören konnte. Drückte sich mit dem Rücken in die Mauer aus Sand, schloss die Augen, fest, kniff sie zu, wie sie es als Kind getan hatte, wenn ihr Vater den Hühnern die Köpfe abhackte.
Nichts geschah, wenn man es nicht sah.
Sie hörte die Stimmen der Männer nun ganz nah.
Und dann war da plötzlich dieser Druck. Er kam von oben, drückte ihren schmalen Körper nieder, der keine Kraft hatte, sich zu wehren, ihr schoss noch der Gedanke durch den Kopf, dass sie hier rausmüsste, der Unterschlupf war eine Falle.
Aber da war es bereits zu spät.