Читать книгу Helle und die kalte Hand - Judith Arendt - Страница 11
Råbjerg Mile Außentemperatur 6 Grad
ОглавлениеHelle hatte zu Hause gefrühstückt, geduscht und drei Stunden geschlafen. Danach war sie wie verabredet auf die Wache gefahren und hatte ihre Leute – Marianne und Ole – instruiert, wie sie die Vermisstenfälle zusammentragen sollten. Nebenbei hatte Helle entschieden, dass sie fünf Jahre (und nicht zwei, wie Ingvar angeordnet hatte) zurückgehen sollten. Jan-Cristofer und Amira sollten erst später wieder zum Dienst kommen, da sie bis weit in die Nacht gearbeitet hatten.
Jetzt bog Helle wieder auf den Wanderparkplatz ein, von dem aus man nach Råbjerg Mile laufen konnte. Aber es bot sich ein vollkommen anderes Bild als in der Nacht, als sie von einem Kollegen abgelöst worden und nach Hause gefahren war. Jeder Zentimeter war zugeparkt, sie fand nirgendwo einen Platz für ihren Volvo. Übertragungswagen, Polizeiautos und jede Menge Privatwagen von Journalisten, aber vermutlich auch von Gaffern.
Helle wendete ihre Schrottkiste und stellte sich an die Straße. Am frühen Morgen hatte es endlich aufgehört zu regnen, eine bleiche Sonne versteckte sich hinter Wolken, die regenschwer und drohend über dem flachen Land hingen, die Erde roch dunkel und feucht wie ein vollgesogener Schwamm.
Sie atmete tief ein und wuschelte sich durch ihre halblangen Haare. Einmal ohne Mütze unterwegs sein, herrlich. Ihre Kopfhaut juckte ständig, die dünnen Haare waren fahl und trocken, weil sie unter einer Wollmütze verborgen waren. Und wenn sie die Mütze einmal nicht trug, auf der Wache oder zu Hause, war die Luft dort trocken von der Heizung. Aber jetzt hatte Helle endlich wieder das Gefühl, durch die Kopfhaut atmen zu können.
Trotz des Schlafentzugs fühlte sie sich frisch und motiviert. Das nächtliche Telefonat hatte viel mit ihrer guten Laune zu tun, Helle hoffte, dass es noch im Lauf des Tages Wirkung zeigte.
»Hej.« Der junge Polizist, der am Parkplatz Wachdienst hatte, winkte ihr müde zu.
»Hier ist ja was los«, kommentierte Helle die vielen Autos.
Der junge Mann nickte. »Seit die Meldung rausgegangen ist. Es war noch gar nicht richtig hell, da waren die Ersten schon hier.« Er zitterte vor Kälte.
Helle ließ ihren Blick über die weite Landschaft schweifen. In der Ferne konnte sie mehrere Grüppchen und versprengte Einzelpersonen ausmachen, die kreuz und quer über die riesige Wanderdüne liefen.
»Schwer zu kontrollieren.«
»Die Leute sind überall.« Der Polizist blickte etwas hilflos über die Schulter.
So war das heutzutage, dachte Helle, meistens waren die Gaffer schneller als die Journalisten. Manche schafften es sogar, vor der Feuerwehr oder den Sanitätern an einem Unfallort aufzutauchen.
In der Ferne beobachteten sie gemeinsam eine gebückte Figur mit einem Koffer, die eiligen Schrittes auf den Parkplatz zusteuerte. Helle erkannte sofort Dr. Runstad aus Aalborg. Keiner hatte so einen Buckel wie er. Sie beschloss, ihm entgegenzugehen, klopfte dem jungen Polizisten noch ermutigend auf die Schulter, obwohl es nichts zu ermutigen gab. Er hatte den miesesten Job bekommen, und sein Tag würde schwerlich besser werden.
»Helle!« Der Doktor hob kurz den Kopf und verzog leicht die Mundwinkel. Das war eine überschwänglich herzliche Begrüßung für den Rechtsmediziner, Helle grinste zurück.
»Jens, hej. Lange nicht gesehen.«
»Wie man hört, hast du den letzten Fall mit Hilfe aus Kopenhagen gelöst.«
Jens Runstad blieb neben Helle stehen, setzte seinen Koffer ab und kramte aus der Manteltasche ein zerknittertes Päckchen Lexington. Er war Kettenraucher und seit Helle ihn kannte, hatte sie ihn nie ohne Zigarette gesehen. Meistens drückte er eine halbgeraucht aus, während er sich schon wieder die nächste anzündete.
Der Doktor sog den ersten Zug tief in seine Lungen. Er war ein schmächtiger Mann mit eingefallener Brust, ungesunder Hautfarbe und schütterem farblosem Haar. Aber er hatte die klugen und freundlichen Augen einer Haselmaus, und mit diesen musterte er die Kommissarin aufmerksam. In den Augenwinkeln bildeten sich freundliche Fältchen.
»Ist ’ne interessante Sache.« Er deutete mit dem Kopf in Richtung des Fundortes.
»Erzähl mir mehr.« Helle streckte den rechten Arm in seine Richtung aus und spreizte auffordernd Zeige- und Mittelfinger. Runstad reichte ihr seine Zigarette. Sie nahm einen tiefen Zug und gab sie ihm zurück. Igitt, war das widerlich. Sie hatte vor Sinas Geburt mit dem Rauchen aufgehört, aber manchmal, meistens wenn sie betrunken, erschöpft oder besonders übermütig war, so wie jetzt, überkam sie die alte Sehnsucht. Wann immer sie ihr jedoch nachgab, reute es sie. Der Rauch biss am Gaumen, legte sich wie Teer auf die Zunge und trübte ihre Geschmacksnerven für mindestens vierundzwanzig Stunden.
Runstad lachte und schüttelte den Kopf. »Kann ich nicht. Ich fahre wieder zurück. Die müssen sie erst mal freilegen, das dauert.«
»Sie? Du meinst, es ist eine Frau?«
»Die Leiche!« Der Rechtsmediziner packte sein Köfferchen, schmiss die brennende Kippe in den nassen Sand und sagte im Gehen über die Schulter. »Ich hab schon zu viel gesagt. Ihr bekommt den Bericht.«
Helle verkniff sich die Frage, wann das sein würde. Sie wusste, dass Runstad niemals Informationen preisgab, bevor er seiner Sache nicht vollkommen sicher war. Dafür war er besonders gründlich und gut. Seine Befunde hielten jedem Gericht stand, niemals konnte etwas angezweifelt werden, er irrte sich unter keinen Umständen. Er war der Mann für alle schwierigen Fälle. War man sich unsicher, zog man Runstad hinzu, den »Leichenleser«, wie Ingvar ihn einmal treffend genannt hatte.
Helle war erleichtert, dass er mit im Boot war und Ingvar sich nicht durchgesetzt und Dr. Holt hinzugezogen hatte. Vielleicht war auch das ein Resultat ihres nächtlichen Anrufs.
Sie bückte sich, um die Kippe des Mediziners aufzuheben, und steuerte dann den Fundort der Leiche an. In der Nacht hatte sie kaum Orientierung gehabt, aber nun musste sie nur in die Richtung der Menschenansammlung gehen.
Kaum war sie auf wenige Meter an die Gruppe der Neugierigen und Journalisten herangekommen, wurde sie auch schon belagert. Die meisten der Presseleute kannte sie, aber es waren auch einige darunter, die sie noch nie gesehen hatte. Die kamen nicht aus Fredrikshavn, sondern waren von den großen Sendern und Zeitungen. Jemand hielt ihr ein Mikro vors Gesicht.
»Weißt du, wer der Tote ist? Ist es ein Mann oder eine Frau? Wer hat die Leiche gefunden?«
Helle schüttelte nur lächelnd den Kopf und versuchte, sich mit den Ellenbogen durch die Menge zu drücken. Eine Kollegin, die die Absperrung zum Fundort überwachte, hob das Flatterband für Helle an, und sie schlüpfte darunter hindurch.
Die Leiche aus der Wanderdüne – so hatten beinahe alle Medien heute früh getitelt – war mit Planen abgeschirmt, außerdem hatten Helle und die Kollegen bereits in der Nacht ein Zelt über dem Fundort aufgebaut, damit nicht alle Spuren vom Regen weggewaschen werden konnten.
Zwei Spurensicherer machten sich mit Löffelchen und Pinselchen und was sie sonst noch an Spezialwerkzeug hatten, daran, die Leiche Millimeter für Millimeter vom Sand zu befreien. Allerdings war noch nicht viel geschehen, der zur Hand gehörende Unterarm lag frei, man erkannte einen Teil der Kleidung, es sah aus wie der Ärmel eines wattierten Anoraks.
In einigem Abstand standen sich zwei Kollegen – Linn und Bjarne aus Fredrikshavn – die Beine in den Bauch, pusteten in ihre Kaffeebecher und schlugen die Zeit tot.
»Hej Helle. Kaffee?« Linn deutete auf eine große Thermoskanne.
Kaffee war ein Angebot, das Helle niemals ausschlug. Sie pumpte die braune Flüssigkeit in einen Becher und stellte sich dann zu ihren Kollegen.
»Hast du den Leichenleser getroffen?« Bjarne zwinkerte ihr zu.
Helle nickte. »Aber er hat nichts rausgelassen.«
»Er war dreißig Sekunden hier. Hat einen Blick auf die Hand geworfen, eine halbe Kippe geraucht, und dann war er wieder weg«, kommentierte Linn.
»Er wollte warten, bis die Leiche freiliegt.«
»Das dauert noch ’ne Zeitlang«, sagte Björn seufzend.
Sie blickten nun alle drei zu den beiden Leuten von der Spurensicherung hinüber. Die Kollegen trugen weiße Overalls und waren völlig vertieft in ihre Arbeit. Sie befreiten den in der Düne steckenden Körper peu à peu vom Sand und sahen dabei aus wie Archäologen, die jahrtausendealte Mumien freilegen.
Als sie die Blicke in ihrem Rücken spürten, drehte sich einer der beiden zu ihnen um.
»Davon geht es auch nicht schneller«, grummelte er missgelaunt.
»Glaubst du, mir macht es Spaß, dir dabei zuzugucken?«, gab Bjarne nicht minder übellaunig zurück.
»Kaffee?«, ging Helle nun dazwischen und hielt dem Spusi ihren Becher entgegen.
»Drei Löffel Zucker und viel Milch.«
Helle nickte und zapfte ihm einen Becher.
»Fährst du gleich zum Meeting?«, erkundigte sich Linn bei ihr. »Würdest du mich mitnehmen?«
»Klar.« Helle reichte dem Kollegen von der Spurensicherung den Becher und besah sich bei der Gelegenheit die Hand genauer. Es war eine zierliche Hand, eine Frauenhand. Die Hautfarbe war ziemlich dunkel, aber Helle konnte nicht einschätzen, inwieweit das auf die Verwesung oder Mumifizierung zurückzuführen war. Der Sand schien den Körper gut konserviert zu haben – oder der Mensch in der Düne war noch nicht lange dort versteckt.
»Sieht mumifiziert aus.« Der Spurensicherer kam zu Helle, nahm ihr dankend den Becher ab und streifte sich die Kapuze vom Kopf. Ein junger Mann in den Zwanzigern kam zum Vorschein, blasse Haut, dunkle Haare.
»Rami.« Er lächelte Helle an. »Wir kommen aus Aalborg.« Der andere weiß verpackte Spurensicherer nickte kurz zu Helle herüber, widmete sich dann aber wieder der Leichenfreilegung.
»Helle. Ich bin von der Wache in Skagen. Freut mich, Rami.«
»Leitest du hier die Ermittlungen?«
»Nein. Das macht Ingvar aus Fredrikshavn. Er ist unser Vorgesetzter.«
Rami dachte nach und kratzte sich ausgiebig am Kopf. »Ich dachte nur, weil …«
Helle unterbrach ihn rasch. »Was meinst du mit mumifiziert?«
»Sand konserviert.«
Rami ging zu dem aus der Düne ragenden Unterarm und zeigte auf die dunkle, lederartige Haut. »Er schließt den Körper luftdicht ab, dadurch bleibt dieser weitestgehend erhalten, er trocknet lediglich aus. Ein Dörrsystem.«
Helle schauderte. Sie dachte an den Dörrapparat, den Bengt sich vor ein paar Jahren zugelegt hatte. Er hatte alles Mögliche darin getrocknet – Pilze, Kräuter, Obst, aber auch Streifen von Fleisch. Hirsch vor allem. Die lederartigen Streifen sahen der Haut der toten Hand ekelerregend ähnlich.
»Ich habe kaum Ahnung von Rechtsmedizin«, fuhr Rami fort, »aber ich vermute erstens, dass die Leiche schon länger hier vergraben ist. Und zweitens könnte ich mir vorstellen, dass sie ziemlich gut erhalten ist.«
Auch Bjarne und Linn waren nun näher gekommen und hörten dem Spurensicherer zu.
»Der Sand ist in den tieferen Schichten trotz der vielen Unwetter in den letzten Wochen weitestgehend trocken geblieben – oder zumindest haben die feuchten Sandschichten den Körper noch nicht erreicht.«
»Und wenn doch?«
»Dann würde der Körper verfaulen, und es wäre vermutlich nur noch das Knochengerüst vorhanden.«
Sein Kollege wies auf den feuchten Sand oberhalb der Hand.
»Ich vermute, dass ihr Kopf irgendwo da ist. Wenn wir Pech haben, dann ist die Feuchtigkeit schon bis dorthin durchgedrungen.«
»Und dann wäre von ihrem Gesicht nicht mehr viel übrig«, ergänzte Helle den Gedankengang.
Der Spurensicherer nickte.
Bjarne verzog leicht angewidert das Gesicht.
»Wir denken alle, dass es eine Frau ist, oder?«, fragte Linn interessiert.
Rami zog die Schultern hoch. »Wenn der Leichenleser das hört, macht er mich einen Kopf kürzer – aber ja, ich denke schon.«
Bjarne wandte sich an Helle. »Ihr geht die Vermisstenfälle durch, oder? Habt ihr schon was?«
»Weißt du, wie bescheuert das ist?« Helle war im Nu auf hundertachtzig, was einen überfallartigen Schweißausbruch hervorrief. »Ausgerechnet wir sollen die Vermisstenfälle im Land durchgehen, dabei haben wir die lahmsten Computer und sind noch nicht mal im Zentralsystem. Wir müssen die Distrikte einzeln anfragen!« Sie zog mit einem Ruck den Reißverschluss ihrer Wachsjacke herunter, weil sie das Gefühl hatte, keine Luft mehr zu bekommen. »Wir brauchen ewig und drei Tage! Und Ingvar beschwert sich, weil es ihm nicht schnell genug geht. Aber ja. Meine Leute sind dran.«
Bereits am frühen Morgen hatte Helle mit Ole, Jan-Cristofer und Marianne gesprochen, die sich bemühten, die Vermisstenfälle der letzten fünf Jahre zusammenzutragen. Helle hoffte inständig, dass die Leiche nicht schon zehn, zwanzig oder noch mehr Jahre hier verborgen war, da würde einiges zusammenkommen.
Sie pustete sich die Haare aus der Stirn und zerrte den dicken Schal von ihrem Hals. Skagen und die Digitalisierung, das war ihr Reizthema. Oder einfach nur Ingvar. Ingvar war das eigentliche Problem.
Manchmal begriff Helle selbst nicht, warum ihr Chef auf einmal so ein rotes Tuch für sie war. Bengt meinte, sie hätte sich endlich aus dem Schatten ihres Übervaters gelöst und ihn mit dem Fall um den toten Gymnasiallehrer, den Helle gelöst und dafür viele Meriten eingeheimst hatte, überflügelt. Tatsächlich war Ingvar seitdem nicht mehr so gut auf Helle zu sprechen, »sein Mädchen«, dem er alles beigebracht hatte. Anstatt stolz auf sie zu sein, bremste er sie aus. Und Männer, die sich ihr in den Weg stellten, hatten Helle Jespers immer schon zur Gegenwehr gereizt. Wenn einer daherkam und einzig und allein qua seiner Autorität oder eines höheren Dienstgrades meinte, ihr Anweisungen geben zu müssen, dann fuhr sie die Krallen aus.
Wie auch immer, ob es nun an ihrem Ärger über Ingvar lag oder daran, dass sie zu dick angezogen war, der Schweiß brach Helle jetzt aus allen Poren, stand auf der Oberlippe, klebte auf der Stirn und sammelte sich unter den Achseln.
»Wir müssen los«, sagte Helle schroff zu Linn, sie wollte jetzt weg hier, musste wieder Luft bekommen. Der heiße Kaffee, die hellen Lampen, die die Spurensicherung aufgestellt hatte, die vielen Leute – Helle fühlte sich bedrängt, am liebsten hätte sie sich an Ort und Stelle sämtliche Klamotten vom Leib gerissen.
Bevor sie den Fundort verließ, machte Rami noch ein Foto von den bisher freigelegten Leichteilen und schickte es an das Kommissariat in Fredrikshavn, um den Stand der Freilegung zu dokumentieren.
Helle und Linn bahnten sich stumm einen Weg durch die Gruppe von Journalisten, die ihnen die gleichen Fragen stellten wie zuvor, und gingen nebeneinanderher zum Parkplatz.
Als Helle ihrer Kollegin die Beifahrertür zum Volvo öffnete, lachte Linn.
»Nicht dein Ernst!«
»Ist ja nicht mein Dienstfahrzeug«, gab Helle zurück und räumte die Tüte mit den leeren Flaschen, die sie seit ein paar Tagen mit sich herumfuhr, weil sie es nicht zum Altglascontainer schaffte, aus dem Fußraum.
Linn setzte sich grinsend und hielt sich die Nase zu.
»Wie hältst du das aus?«
Helle schüttelte nur den Kopf, drehte Joni Mitchell noch lauter und fuhr los.
Die Sonne kam hinter den Wolken hervor. Das flache Land, weiße Dünen, Heideland, vereinzelte Kiefernwäldchen, alles strahlte nun im Licht der Herbstsonne, die erstaunlich kräftig war. Das Meer im Osten reflektierte die Sonnenstrahlen und erzeugte ein magisches Leuchten.
»They paved paradise and put up a parking lot.«
Die Fahrt von Råbjerg Mile bis Fredrikshavn dauerte eine Dreiviertelstunde, Linn gewöhnte sich währenddessen an den Hundegeruch im Wagen, vielleicht hatte aber auch Jonis Stimme – hell, mädchenhaft und doch streng – sie versöhnt. Linn war erst ein paar Jahre in Fredrikshavn, sie war aus Aalborg dorthin gekommen und eine Jütländerin durch und durch. Erdverbunden, so nannte es Bengt. Bäuerisch, würde Helle sagen. Eine Frau Mitte dreißig, freundlich, gut gelaunt, Doppelbödigkeit war ihr fremd. Sie sagte, was sie meinte, und dahinter gab es keinen Interpretationsspielraum. Helle hielt sie für eine gute Polizistin, glaubte aber nicht, dass Linn das Zeug zu einer guten Ermittlerin hatte, weil sie sie nicht für phantasiebegabt hielt. Vermutlich hatte Linn auch keinerlei Ambitionen in diese Richtung.
Sie hatten sich ein bisschen über Ingvar unterhalten, aber Helle war es nicht gelungen, ihrer Beifahrerin auch nur das allerkleinste skeptische Wort über ihren Vorgesetzten zu entlocken. Sie stand felsenfest zu ihm, so wie es auch Helle ihre gesamte Dienstzeit über getan hatte. Jetzt aber fand sie, dass es Zeit für ihn war, sich in den Ruhestand zu verabschieden. Nur noch zwei Monate, dann würde er Platz machen für einen Nachfolger.
Oder eine Nachfolgerin.
Die Polizeiwache in Fredrikshavn war fünfmal so groß wie die kleine Skagener Station. Dreißig Polizisten, darunter fast die Hälfte Frauen, externe Festangestellte für Sekretariat und Empfang, vier Arrestzellen und ein Archiv. Sie hatten sogar eine Art Asservatenkammer in einem umfunktionierten Abstellraum.
Das von Ingvar anberaumte Treffen fand in einem Sitzungszimmer statt, in dem alle Polizisten Platz fanden. Es gab ein Whiteboard, einen Beamer und jemanden, der das alles bedienen konnte. Dieser Jemand war selbstverständlich nicht Ingvar selbst, wie Helle amüsiert feststellte.
Nach den üblichen Begrüßungsfloskeln rekapitulierte der Chef, was sie bisher hatten. Und das war nichts – außer der Hand.
»Solange Runstad uns keine Einschätzung gibt, solange die Leiche noch nicht freigelegt wurde, wissen wir nichts und können im Prinzip auch nicht wirklich mit den Ermittlungen loslegen.« Ingvar sah nicht sehr glücklich aus, als er seinen Leuten den Stand der Dinge zusammenfasste.
»Skagen arbeitet an den Vermisstenfällen der letzten fünf Jahre, aber das bringt uns im Moment noch nicht viel weiter. Vielleicht liegt die Leiche dort seit zwanzig Jahren oder länger. Wir wissen nicht einmal, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelt. Oder ob ein Gewaltverbrechen zugrunde liegt. Kurz gesagt: Wir haben absolut keinen Anhaltspunkt.«
»Was ist mit dem Zeugen?«, fragte einer der Kollegen.
»Danke, Oliver.« Ingvar nahm einen Schluck Kaffee, bevor er fortfuhr. »Ja, also, der Mann …«
Hinter ihm erschien auf dem Whiteboard ein Foto von Ansgar Norborg sowie eine Kurzzusammenfassung seiner Biographie, Adresse und der Aussage. Ingvar drehte sich irritiert um, als er merkte, dass alle Augen nicht länger auf ihm, sondern auf dem Whiteboard ruhten.
»… ist meines Erachtens völlig unverdächtig. Die Leiche ist ja wahrscheinlich nicht erst gerade eben dort platziert worden, und es ist nicht anzunehmen, dass Ansgar jemanden umbringt, verbuddelt und sich Monate, wenn nicht sogar Jahre später bei uns meldet, weil die Leiche aus der Düne herausragt.«
»Alles schon vorgekommen!«, rief einer aus dem Plenum, und alle lachten. Ingvar grinste ebenfalls, fuhr dann aber fort.
»Er stand noch ziemlich unter Schock, als ich mit ihm gesprochen habe. Allerdings, er trainiert regelmäßig, läuft jeden zweiten Tag an dieser Stelle vorbei und schwört Stein und Bein, dass er die Hand bemerkt hätte, wenn sie schon vor zwei Tagen da herausgeguckt hätte. Was sagt uns das? Smilla?«
Er zeigte auf eine junge Frau in der ersten Reihe. Wie in der Schule, dachte Helle empört, aber diese Smilla schien das gar nicht zu stören, stattdessen antwortete sie fröhlich: »Dass der Regen den Sand an der Stelle weggewaschen hat.«
»Sehr gut.« Ingvar brummte zufrieden, und Helle ärgerte sich noch ein bisschen mehr über dieses oberlehrerhafte Getue.
»Wir haben uns mit dem Küstenschutz darüber unterhalten. Henning?«
Der Mann, der neben Ingvar vorne am Pult saß, tippte auf seinen Laptop, und sofort erschien auf dem Whiteboard ein Mann im Anorak, die Mütze tief im Gesicht. Er stand am Strand vor dem abgesperrten Tatort. Es schien sich um die Aufzeichnung eines Skype-Gesprächs zu handeln, in dem der Mann vom Küstenschutz etwas über Erosion und die Bewegungen der Wanderdüne erzählte.
Man konnte kaum etwas verstehen, weil der Wind im Mikro Knattern und Rauschen verursachte. Aber Helle war eigentlich auch egal, was der Typ sagte. Er referierte über die Bewegungen der Wanderdüne, wann sich Råbjerg Mile von wo nach wo verschob. Das interessierte sie viel weniger als die Tatsache, dass Ingvar hier in seiner Station in Fredrikshavn auf dem modernsten Stand der Technik war – für ihn offenbar ein Buch mit sieben Siegeln –, ihr aber Laptops und neue Computer verweigert wurden.
Nach der Video-Einspielung sprach Ingvar noch ein wenig davon, dass man nichts wisse, nichts wissen konnte und folglich auch nicht ermitteln konnte. Dann fasste ein Kollege all die Anrufe zusammen, die bei den Polizeistationen eingegangen waren, seit die Meldung über den Ticker gelaufen war. Natürlich war nicht ein einziger wirklich sachdienlicher Hinweis dabei.
Helle schaltete ab und blickte aus dem Fenster. Sie dachte, wie dumm jemand sein musste, wenn er die Leiche im Westen der Düne vergraben hatte. Jeder, der in der Umgebung wohnte, wusste, dass sich die Düne nach Osten bewegte. Wenn man also wollte, dass der Körper in den nächsten Jahrzehnten nicht mehr aus dem Sand auftauchte, hätte man die Leiche am Ostrand der Düne verbuddeln müssen, dort, wohin sich Råbjerg Mile Jahr für Jahr um fünfzehn Meter verschob.
Das ließ nur drei Schlüsse zu: Die Leiche müsste entweder seit mehr als zwei Jahrhunderten dort stecken, nämlich seit einer Zeit, als an der Stelle noch keine Düne gewesen war. Dagegen sprach der Anorak. Oder der Mörder war nicht von hier. Last but not least: Es gab keinen Mörder, sondern es war ein schrecklicher Unfall gewesen.
»Helle?«
Ingvars Stimme, lauter als zuvor, riss sie aus ihren Gedanken. Alle im Raum hatten sich zu ihr umgedreht und starrten sie an. Helle starrte zurück.
»Fünfzehn Uhr. Pressekonferenz.« Ihr Chef am anderen Ende des Raumes tippte ungehalten auf seine Armbanduhr. »Ist das klar?«
Sie zuckte mit den Achseln. »Von mir aus. Muss ich dabei sein?«
Vereinzelte Lacher und genervtes Gestöhne einiger Kollegen.
»Du leitest die Sonderkommission ›Düne‹. Ich denke, du solltest dabei sein.« Verärgert steckte Ingvar einen Stift in seine Brusttasche und verließ als Erster den Raum, ohne sie noch einmal anzusehen.
Es hätte ein großer Moment für sie werden sollen, ein Triumph, Genugtuung, so hatte Helle es sich vorgestellt. Stattdessen hatte sie den großen Moment verpasst, indem Ingvar verkündet hatte, dass nicht er – wie alle erwartet hatten –, sondern Helle Jespers aus Skagen die Sonderkommission leiten würde. Jetzt spürte sie einen Stich in ihrem verräterischen Herzen, als sie ihren ehemaligen Mentor abserviert aus dem Raum gehen sah.
War sie zu weit gegangen?