Читать книгу Land der Wölfe - Julia Adamek - Страница 10
Kapitel
Оглавление„Dein Bruder ist ein wahrer Held, ein wirklicher Ritter und Ehrenmann!“
Jessy kam aus dem Schwärmen gar nicht mehr heraus. Die Überraschung war wirklich gelungen. Sobald sie im Gasthof angekommen war, nahm sie eine freundliche Wirtin mit üppigem Busen in Empfang und brachte sie durch eine niedrige Tür in ein kleineres Gebäude hinter dem Haus.
„Als der Herr uns sagte, dass Damen in seiner Truppe sind, haben wir sofort angeheizt“, sagte die Frau mit breitem Lächeln. Sie hatte rote Backen und trug ein strahlend weißes Häubchen. Sie stieß die Tür auf und als Jessy der heiße Wasserdampf ins Gesicht stieg, brach sie in Jubel aus.
Es war ein Badehaus! Zwar so klein, dass sie, Sebel und Amileehna kaum Platz darin hatten, aber das in den Boden eingelassene Becken erschien ihr trotzdem wie ein Geschenk des Himmels. Das Wasser duftete nach Blumen und dass Amileehna sich bereits darin gewaschen hatte und sich nun mit gerötetem Gesicht abtrocknete, machte Jessy gar nichts aus. Sie konnte kaum schnell genug ihre Kleider ausziehen.
„Ist es üblich, dass die Menschen hier so etwas luxuriöses haben?“ fragte sie träge. All ihre Muskeln hatten sich köstlich entspannt und sie hatte sich so lange eingeseift, dass eine dicke Schaumkrone auf dem Wasser schwamm.
„Der Wirt hat ein chronisches Leiden der Gelenke“, sagte Sebel. Sie bürstete Amileehnas langes Haar aus und schien kein bisschen ungeduldig, endlich selbst ins Wasser zu kommen. „Da haben sie es bauen lassen. Es wird von unten beheizt und ist wie eine heiße Quelle. Das Bad bleibt die ganze Zeit warm.
„Ja, es ist herrlich“, seufzte Jessy. „Komm, du bist dran.“
Sie stieg aus dem Wasser und trocknete sich ab. Gerade hatte sie ausgerechnet, dass sie bereits seit zwei Wochen hier war. Zwei Wochen! Davon neun Tage auf dieser Reise. Und nun endlich kam sie das erste Mal zu einem Bad! Daran musste sie sich erst noch gewöhnen.
„Hast du Wiar gesehen?“ fragte Amileehna. Die Sorge um den Status ihrer Tändelei mit dem jungen Mann war ihr anzusehen.
„Nein“, sagte Jessy. „Aber er wird dir sicher nicht mehr böse sein.“
Sie wollte das Mädchen nicht so unglücklich sehen. Nicht jetzt, wo sie sich gerade so herrlich entspannt fühlte. Und prompt erhellte sich Amileehnas Gesicht mit einem Lächeln.
Die Wirtin hatte ihre Kleider zum Waschen mitgenommen und für sie einfache Leinenkleider mit bunten Miedern und Schürzen dagelassen. Jessy schlüpfte in die großzügig geschnittene Wäsche und schmunzelte. Auch an die westländischen Unterhosen würde sie sich noch gewöhnen müssen. Sie kam sich vor, als trüge sie die Boxershorts ihres Freundes.
Sie verließen das Badehaus und umrundeten den Gasthof. Alles war sehr gepflegt und ordentlich, ein paar Schweine grunzten in ihrem Pferch, die Hühner hatten sich schon in ihr Haus zurückgezogen, denn es war dunkel geworden und die Sterne funkelten am Himmel. Die Luft war angenehm abgekühlt und es roch nach gebratenem Fleisch und Brot. Auf dem großen Dorfplatz waren Tische aufgestellt worden und bunte Lampions erhellten die Dunkelheit. Über einem riesigen Feuer brutzelte ein Schwein und Frauen brachten immer mehr Schüsseln und Platten mit Essen. Ein paar Männer zapften gerade ein großes Bierfass an und Musikanten bauten ihre Instrumente auf. Das ganze Dorf war auf den Beinen und hatte in kürzester Zeit alles organisiert um den hohen Besuch zu empfangen. Kinder liefen schreiend umher und genossen die Aufregung. Tychon stand mit seinen Räten in der Nähe des Feuers. Alle hatten sich gewaschen und festlich gekleidet. Jessy sah Bosco und Dennit und schließlich auch Albin.
Er hielt sich abseits und sah wie immer gebeugt aus. Aber nicht verzweifelt. Es war ihm offensichtlich ganz willkommen, dass niemand ihn beachtete. Sie schickte einen stummen Dank zum Himmel. Wenigstens hatte Rheys diese Sache richtig gemacht.
Schließlich bat der Bürgermeister alle, sich einen Platz zu suchen und hielt eine enthusiastische Rede voller Lob auf König Bairtliméad und das ganze Königsgeschlecht, auf das wunderbare Westland und sein Dorf. Die Rührung über die Ehre, den Prinzen empfangen zu dürfen, ließ seine Stimme zwischendurch ganz heiser werden. Tychon stand neben ihm und lächelte bescheiden.
„Noch ein letztes Wort“, sagte der Bürgermeister, der einen dicken Bauch und eine Halbglatze hatte, die im Feuerschein glänzte. Er reichte dem stattlichen Prinzen kaum bis zur Brust. „Ich danke all den fleißigen Händen, die dieses Fest so schnell möglich gemacht haben. Ihr werdet sehen, Herr, kein Koch in der Eisenfaust wird Euch so einen feinen Schmaus auf den Tisch bringen, wie Ihr ihn hier in Laubheim genießen werdet.“ Die Menschen applaudierten und lachten.
„Euch gebührt natürlich auch der erste Schluck Bier.“
Feierlich überreichte er Tychon einen Krug und das Fest begann. Jessy aß von allem und trank reichlich Bier. Es schmeckte herrlich, die fröhliche Musik klang durch die Nacht und überall wurde gelacht. Tychon wechselte oft den Platz und sprach mit vielen Menschen, die keine Scheu kannten, ihm Fragen zu stellen und ihn persönlich zu begrüßen.
Jessy setzte sich schließlich auf einen freien Platz neben Albin.
„Wie ich sehe sitzt dein Kopf noch auf den Schultern“, sagte sie. Auch er hatte getrunken und sah ein bisschen ruhiger aus. Er lächelte sogar ein wenig.
„Ja, Rheys hat mich nicht ausgeschimpft. Nicht wirklich zumindest. Wir haben auch das Pferd gefunden.“
„Und wie geht es weiter? Bekommst du ein anderes?“
„Nein“, Albin klang beinahe stolz. „Rheys sagt, ich kann Arro durchaus kontrollieren, wenn ich ein paar Kniffe anwende.“
„Arro?“ fragte Jessy verwundert.
„Ja. Rheys meinte, es wäre gut, ihm einen Namen zu geben. Das würde unsere Verbindung stärken. Arro bedeutet wild. Es ist ein Dialekt aus der Gegend aus der Rheys stammt.“
Jessy ärgerte es, dass Rheys so großen Eindruck auf ihren Freund gemacht hatte. Sie mochte ihre Meinung über ihn nicht so einfach ändern.
„Also war er richtig nett zu dir?“
„Ich wundere mich selbst darüber“, antwortete Albin. „Aber ja, er war es. Er hat sogar gesagt, ich hätte mich gegen die Felsenbären gut geschlagen. Und dass es auf Übungskämpfe nicht ankommt.“
Jessy sah hinüber zu Rheys. Er stand in Tychons Nähe, unterhielt sich aber mit einem anderen Mann, während er ein Bier trank. Sein Blick schweifte immer wieder über den gesamten Platz, streifte Gesichter, prüfte dunkle Winkel und Schatten. Dieser Mann entspannte sich niemals.
Er hatte schon eine Menge hinter sich. Jessy respektierte das und auch seine Fähigkeiten als Krieger, auch wenn sie sich darunter nichts vorstellen konnte. Vielleicht musste sie einfach damit leben, dass er ihr misstraute. Und ihm aus dem Weg gehen um Streit zu vermeiden. Aber es machte Spaß, ihn anzustacheln. Sie war neugierig, wie weit sie gehen konnte. Was musste man tun, um ihn aus der Fassung zu bringen. Und sei es nur, ihn wirklich wütend zu machen. Er brüllte nicht, er redete oft laut und streng, aber er fuhr nicht aus der Haut oder fluchte. Doch so einen Menschen konnte es nicht geben. Irgendwo hinter dieser undurchdringlichen Miene musste es eine Emotion geben.
Ein paar junge Leute begannen zu tanzen, die Röcke der Mädchen flogen wild und die Menschen auf den Bänken klatschten und feuerten die Tänzer an.
Zwischen zwei Liedern erschien plötzlich Wiar am Tisch der Prinzessin. Jessy stockte der Atem, sie wäre am liebsten aufgesprungen.
„Er wagt es, sie aufzufordern!“ entfuhr es Albin, der ebenso schockiert war wie sie. Tatsächlich sagte Wiar etwas zu Amileehna und reichte ihr die Hand. Ihr Gesicht strahlte und sie warf einen trotzigen Blick in Richtung ihres Bruders. Wiar lächelte triumphierend und begann, Amileehna herumzuwirbeln. Sie gaben ein schönes Paar ab, das musste Jessy zugeben, aber trotzdem sah sie selbst ein, dass es völlig unpassend war, wenn die Prinzessin mit ihrem Leibwächter tanzte. Die beiden ließen sich nicht aus den Augen, es funkte ganz eindeutig zwischen ihnen. Jessy seufzte, denn jetzt wurde ihr endgültig klar, dass ganz gewaltiger Ärger auf sie zukommen würde.
Rheys wollte losstürmen und das ganze beenden. Tychon hielt ihn zurück und redete leise auf ihn ein. Sicher wollte er seine Schwester nicht vor diesen Leuten bloßstellen. Das war sehr fair von ihm. Doch die Zuschauer hatten selbst begriffen, dass da etwas Aufregendes vor sich ging und tuschelten. Um die Szene zu entschärfen forderte der Prinz ein junges Mädchen auf, das vor Freude beinahe ohnmächtig wurde.
Albin starrte Amileehna an, seine Hände waren zu Fäusten geballt. Ob er jemals den Mut aufbringen würde, um diese Frau zu kämpfen, die er so anbetete? Er hatte schon sein Leben für sie riskiert. Schwieriger konnte es nicht werden. Doch Amileehna bemerkte ihn überhaupt nicht. In dem Augenblick, als ihr Versteck bekannt geworden war und sie Albin nicht mehr als Verbündeten brauchte, schien sie ihn völlig vergessen zu haben.
Jessys Magen fühlte sich ein wenig flau an und die Menschenmenge wurde ihr plötzlich zu viel. Sie stand auf und peilte einen stillen Winkel neben der Werkstatt eines Schmieds an, wo sie kurz für sich sein konnte. Sie schwitzte in dem geliehenen Kleid, das zu eng war und außerdem hatte sie zu viel gegessen. Das Bier war ihr zu Kopf gestiegen. Sie sollte sich wohl besser schlafen legen. Aber die Nacht war so schön und das Fest machte ihr Spaß.
„Verdammtes verrücktes Pack“, murmelte jemand neben ihr und sah, dass Rheys den gleichen Gedanken gehabt hatte, wie sie und sich einen Moment zurückziehen wollte um seinen Ärger über die Königskinder zu mäßigen.
„Und wohin gehst du bitte, wenn man fragen darf?“ fuhr er sie an. Sein Blick loderte. Aber er war nur ärgerlich, bestenfalls ungehalten. Nicht zornig.
„Ich wollte nur kurz ausruhen. Ich gehe nicht weg, keine Angst.“
„Warum hast du das nicht verhindert?“ Er wies auf die tanzende Menge und meinte offensichtlich Amileehna und Wiar. „Ist es nicht deine Aufgabe auf sie aufzupassen?“
„Ist es nicht deine Aufgabe, die Wölfe an der Leine zu halten?“ schnappte sie zurück.
„Wiar weiß genau, wenn er sie anrührt, wird ihn das mehr als seine Hände kosten. Aber die Prinzessin macht sich lächerlich mit so einem Verhalten.“
„Sie ist fünfzehn! Warum lasst ihr sie nicht ihren Spaß haben? Sie wird sich schon nicht mit ihm in die Büsche schlagen.“
„Wenn doch, weiß ich, wer sie dazu angestiftet hat“, sagte Rheys.
Jessy lachte auf. „Was für ein Blödsinn. Ich habe ihr gesagt, sie soll vorsichtig sein. Aber jeder Mensch muss eine eigenen Erfahrungen machen. Und dazu gehören auch Fehler.“
„Sie ist eine Prinzessin. Für sie gelten andere Regeln.“
„Ja, das habe ich schon gemerkt“, antwortete Jessy plötzlich ein wenig traurig. Rheys schien überrascht, dass der Streit so schnell vorbei war.
„Bleib gefälligst da, wo ich dich sehen kann“, knurrte er und wandte sich halb ab.
„Ach so, du siehst mich also gerne an?“
Es war heraus, bevor Jessy es überdenken konnte. Rheys starrte sie an, eine steile Falte bildete sich zwischen seinen Brauen. Er kniff kurz die Augen zusammen, dann fasste er sich.
„Du weißt genau, dass ich das nicht gemeint habe.“
„Also siehst du mich nicht gerne an?“
Jessy warf sich das offene Haar über die Schulter und achtete darauf, ob seine Augen die Bewegung verfolgten. Aber er schaute nur in ihr Gesicht, keine Spur von Verunsicherung.
„Ich sehe dich überhaupt nicht an. Ich beobachte nur, was du tust. Und jetzt geh zu den anderen oder ich schicke jemanden, der dich in dein Bett begleitet.“
Jessy sagte nichts, grinste nur breit und wartete, ob ihm die Zweideutigkeit seiner Worte bewusst wurde. Als der Groschen schließlich fiel, schüttelte er den Kopf.
„Du bist wirklich ein verrücktes Weib. Mach doch, was du willst.“
Dann verschwand er. Jessy kicherte und bedauerte beinahe, dass er ging. Sie hätte nicht so viel Bier trinken sollen, das machte sich kindisch. Er würde sich wohl kaum von solchen Anspielungen aus der Ruhe bringen lassen. Aber wenigstens hatte sie für ein paar Minuten keine Angst vor ihm gehabt. Das war schon ein kleiner Erfolg.
Ein kräftiges Klopfen an der Tür weckte Jessy aus tiefem, traumlosem Schlaf. Sie brauchte einen Augenblick, bis sie begriff, wo sie sich befand. Zusammen mit Amileehna und Sebel hatte sie die Nacht in einem gemütlichen sauberen Gästezimmer verbracht. Durch die beiden Fenster fiel graues Licht herein, es musste noch früh am Morgen sein. Jessy rieb sich die Augen. Der Schlaf unter einem soliden Holzdach und in einem richtigen Bett mit Matratze und daunengefüllter Decke war dermaßen erholsam gewesen, dass sie lange brauchte um richtig wach zu werden.
Schließlich, nachdem das Klopfen nicht aufhörte, trennte sie sich stöhnend von ihrem kuscheligen Kissen und tappte an die Tür. Amileehna und Sebel schliefen noch fest und schienen gar nichts zu hören. Vor allem die Prinzessin war nach dem ereignisreichen Abend völlig erschöpft ins Bett gefallen.
Jessy öffnete die Tür einen kleinen Spalt. Draußen stand Kaj. Er sah müde und unrasiert aus, hatte wohl die halbe Nacht vor ihrer Tür als Wachposten gesessen. Dabei war es kaum vorstellbar, dass ihnen hier inmitten dieser freundlichen Menschen irgendeine Gefahr drohte. Aber die Wölfe würden es trotzdem nicht wagen, ihre Prinzessin unbeaufsichtigt zu lassen.
„Wie spät ist es?“ krächzte Jessy. Sie hätte nichts dagegen gehabt, noch zwei Stunden im Bett zu bleiben. Wollte Tychon etwa jetzt schon weiter reiten?
„Guten Morgen“, sagte Kaj. „Es ist noch früh. Tychon möchte, dass du ihn unten triffst. Er braucht dich für eine besondere Aufgabe.“
„Wie bitte? Im Morgengrauen?“
Kaj zuckte die Schultern. Ihm war es offenbar egal, wie spät es war oder wie wenig Schlaf er bekommen hatte. Diese Männer waren wirklich an Unbequemlichkeit gewöhnt. Jessy seufzte.
„Ich komme so schnell ich kann“, sagte sie und schloss die Tür. Leise um die Mädchen nicht zu wecken, zog sie ihre Hose und ein frisches Hemd an und kämmte ihre Haare. Dann band sie sie zu einem Pferdeschwanz und wusch sich das Gesicht in einer kleinen Waschschüssel. Es gab keinen Spiegel, aber das machte ihr mittlerweile nichts mehr aus. Es erleichterte ihr das Leben sogar auf eine seltsame Weise. Erst jetzt wurde ihr bewusst, wie viele Gedanken sie sich zuhause um ihr Aussehen machte, obwohl sie nicht besonders eitel war. Hier hatte sie nicht einmal eine Zahnbürste. Die Westländer kauten auf bestimmten Blättern herum, die leicht nach Minze und Zimt schmeckten und ein angenehmes Gefühl im Mund hinterließen. Das war immerhin besser als nichts. Vielleicht landete ja in Kürze die Filiale eines Drogeriemarktes in der Nähe, dann konnte sie sich ausstatten. Mittlerweile kamen Jessy immer wieder solche absurden Gedanken, die sie schmunzeln ließen. Sie hatte angefangen, die Situation mit Humor zu sehen und das nahm ihr einen großen Teil der Angst von den Schultern.
In dem großen Speiseraum des Gasthofs waren bereits Tychon, Morian, Albin und Rheys versammelt. Auch Sketeph war dabei. Jessy wurde neugierig darauf, was das zu bedeuten hatte. Tychon lächelte sie strahlend an.
„Guten Morgen, meine Liebe. Hast du gut geschlafen?“ fragte Tychon. Die lange Nacht war ihm nicht anzusehen.
„Großartig, danke. Das war wirklich nötig.“ Sie lächelte. „Und was ist das hier für eine geheime Zusammenkunft?“
„Nicht wirklich geheim“, sagte Tychon. „Ich wollte nur kein großes Aufhebens machen. Wir sollten nicht zu viel Aufmerksamkeit erregen.“
„Im Gespräch mit den Dörflern hat der Prinz herausgefunden, dass es ganz in der Nähe einen Magier gibt“, sagte Morian mit seinem typischen undurchsichtigen Lächeln. Doch seine Augen forschten in ihrem Gesicht nach etwas verräterischem, das ihm Antworten geben würde. Jessy merkte es genau.
„Ich dachte, es darf keine Magier mehr geben“, sagte sie. „Wie kann hier dann einer leben?“
„Selbstverständlich praktiziert er seine Künste nicht“, sagte Sketeph. „Er ist ein ehemaliges Mitglied der Gilde und wird von den Menschen geduldet, weil er keine Unannehmlichkeiten verursacht. Aber jeder weiß, wer er ist, obwohl er sehr zurück gezogen lebt.“
„Wir werden ihn aufsuchen und ihm einige Fragen stellen“, sagte Tychon begeistert. „Daher müssen wir unserem Freund Albin beinahe dankbar sein für sein kleines Missgeschick gestern.“ Er legte Albin die Hand auf die Schulter. „Ohne ihn hätten wir diese außergewöhnliche Gelegenheit verpasst.“
„Ist es sicher? Ich meine, könnte er gefährlich für uns sein?“ fragte Jessy unruhig. Dabei wanderte ihr Blick automatisch in Rheys‘ Richtung. Wenn er Gefahr witterte, würde er Tychon sicher nicht gehen lassen.
„Ich glaube nicht“, sagte Rheys wie aufs Stichwort. „Der Mann ist ein Greis und darf seine Fähigkeiten nicht anwenden. Trotzdem, Euer Vater wäre nicht begeistert.“
Tychons Miene verfinsterte sich ein wenig. „Mein Vater ist aber nicht hier. Und ich verzichte auch bewusst darauf, Fabesto mitzunehmen. Er wird es mir zwar übel nehmen, aber er ist zu sehr von seinen Vorurteilen und seinem Hass auf die Magie beherrscht. Er wird uns keine Hilfe sein.“
Bevor jemand weiteren Widerspruch einlegen konnte, scheuchte Tychon sie hinaus. Bosco und Rojan warteten mit den Pferden.
Es war ein grauer Tag, nach dem vielen Sonnenschein waren nun endlich Regenwolken aufgezogen und es war kühl. Sie verließen das Dorf und ritten über einen schmalen Weg in ein kleines Wäldchen. Jessy fühlte, wie ihre Aufregung wuchs. Obwohl die Vögel zwitscherten, war dies ein unheimlicher Ort. Vielleicht weil er von den Menschen gemieden wurde.
Ein junger Mann aus dem Dorf hatte sie bis hier her geführt und hielt nun sein Pferd an.
„Verzeiht mir, Herr, aber ich reite nicht weiter mit. Seit ich ein Kind bin hat man mich gelehrt, nicht an diesen Ort zu gehen. Ich betrete ihn niemals. Aber die Hütte ist nicht zu verfehlen“, sagte er respektvoll aber bestimmt.
Tychon nickte und für einen kurzen Moment richteten sich alle Blicke auf das unscheinbare Dickicht. Dann gab Tychon seinem Hengst entschlossen die Sporen. Rheys ritt voran und seine Hand lag auf dem silbernen Schwertknauf. Schon nach kurzer Zeit sahen sie die Hütte. Sie war mehr ein alter Schuppen, halb verfallen und ohne eine schützende Umzäunung. Wahrscheinlich hielten sich sogar die Tiere und Waldgeister instinktiv von hier fern. Unter dem Dachfirst hingen getrocknete Kräuter und Pflanzen und auf einem schlampig gefertigten Gitter war ein großes Fuchsfell zum Trocknen aufgespannt. In einem kleinen Gehege scharrten magere Hühner. Jessy hatte noch nie eine glaubwürdigere Version eines Hexenhauses gesehen.
Ein junger Mann trat aus der schiefen Tür. Er trug einen schmutzigen Kittel und keine Schuhe. Sein Haar war einmal geschoren gewesen und stand nun wirr in alle Richtungen. Doch sein Gesicht war sauber und seine Augen misstrauisch.
„Seid Ihr der Prinz von Westland?“ rief er ihnen nicht gerade freundlich entgegen.
„Zeig etwas mehr Respekt, Junge“, sagte Rheys streng.
„Mein Herr erwartet Euch“, antwortete der Junge. Keine Verneigung, kein Zeichen der Ehrerbietung. Ein bitterer Zug lag um seinen schmalen Mund, der sein Gesicht viel älter wirken ließ. Sie saßen ab und Jessy wischte sich die feuchten Handflächen an ihrer Hose ab. War dieser junge Kerl etwa der Magier?
Die Männer duckten sich unter dem schiefen Türsturz hindurch ins Innere der Hütte. Es roch nach verbrauchter Luft und einer kalten Feuerstelle. Außer dieser, einem wackeligen Tisch mit zwei Stühlen und zwei niedrigen Pritschen gab es nichts. Die Wände waren kaum mehr als roh gezimmerte Bretter und das kleine Fenster war nicht verglast. Die Armut dieses Hauses überraschte Jessy. Aber wenn ein Zauberer nicht zaubern durfte, konnte er sich auch keinen Luxus schaffen.
Am Tisch saß ein Mann, der sicher noch keine sechzig Jahre alt war und trotzdem alt wirkte. Er war mager und das weiße Haar schütter. Trotzdem waren seine Augen hellwach und strahlten scharfe Intelligenz aus.
„Eure Majestät“, sagte er und seine Lippen verzogen sich zu einem beunruhigenden Lächeln. Er neigte ein wenig den Kopf. „Vergebt, dass ich mich nicht erhebe und auf die Knie falle. Aber mein Leib versagt mir langsam den Dienst. Odon“, rief er dem jungen Mann zu, der sich auch noch in die Hütte gequetscht hatte. Mit den wenigen Möbeln und den breitschultrigen Männern war der Raum fast völlig ausgefüllt. „Bring den Gästen Wasser. Mehr kann ich Euch leider nicht anbieten. Der Wein ist uns gerade ausgegangen.“
Die Ironie dieser Worte entging niemandem. Wahrscheinlich hatten die beiden Männer kaum genug zum Überleben, geschweige denn Wein.
„Du wusstest, dass ich kommen würde?“ fragte Tychon. In seinen feinen Kleidern und mit seinem strahlenden Aussehen schien er die kleine Stube zu erhellen.
„Auch wenn ich die Gabe der Hellsichtigkeit aufgegeben habe, so bleiben mir doch Augen und Ohren. Und mein Diener Odon, der sich im Dorf nach Neuigkeiten umhört.“
Odon stellte gerade einige Becher auf die rohe Tischplatte, als er grob von Bosco gepackt wurde. Der zerrte seinen Arm in die Höhe, so dass das fahle Licht auf eine Tätowierung am Handgelenk des Jungen fiel.
„Dein Diener? Er trägt die Abzeichen der Magiergilde. Ist er ein Novize?“
„Es ist verboten, das Wissen der Magie weiterzugeben und zu lehren“, fuhr Morian auf. „Das solltet ihr wissen!“
Der Magier ließ sich von den harschen Worten überhaupt nicht aus der Ruhe bringen. Noch immer lächelte er und wandte sich Morian zu.
„Mein edler Herr, Ihr werdet wohl nichts dagegen haben, dass ein alter Mann wie ich sich einen Helfer ins Haus holt. Wie sollte ich auch sonst zurechtkommen? Verlasse ich diesen Wald, bewirft man mich mit Steinen und Schlimmerem. So habe ich wenigstens jemanden, der für mich zum Markt gehen kann. Und der ab und zu ein Gespräch mit mir führt. Glaubt mir, er ist kein Novize.“
„Wir sind gekommen, weil wir Fragen an dich haben“, sagte Tychon, ohne auf die Vorwürfe einzugehen. Jessy verstand plötzlich, während sie den alten Mann beobachtete, warum die Menschen den Magiern so sehr misstrauten. Obwohl er hier in Armut lebte und nichts mehr besaß, ging eine Aura der Macht und der Überlegenheit von ihm aus. Vielleicht hatte Fabesto doch Recht mit seinen Warnungen.
„Wir haben gehört, dass die Magier sich versammelt haben. Zu einem Treffen. Was weißt du darüber?“
Der Alte schwieg und musterte die Männer. Dann lachte er.
„Mein Prinz, Ihr kommt hier her mit Euren Männern, die vor Waffen starren und wollt, dass ich dazu etwas sage? Damit man mir die Zunge herausschneidet, sobald ich meinen Satz beendet habe? Das kann nicht Euer Ernst sein.“
„Ich gebe dir mein Wort, nichts wird dir geschehen. Die Männer sind zu meinem Schutz hier, nicht, um dich zu prüfen. Hast du nicht der Magie und den Gesetzen der Westland-Gilde abgeschworen und bist nun ein treuer Diener dieses Landes? Dann ist es deine Pflicht, uns Auskunft zu geben“, sagte Tychon. Seine Stimme zitterte nie und er fand immer die richtigen Worte. Jessy bewunderte die Reife und Intelligenz dieses jungen Mannes.
„Abgeschworen…“, murmelte der Alte und sein Blick wurde für einen Moment bitter und zornig. „Mit kalter Klinge an der Kehle habe ich abgeschworen, ja das ist die Wahrheit.“
„Euch wurde das Leben und die Möglichkeit für einen Neuanfang geschenkt“, sagte Tychon eindringlich. „Ihr seid es dem Land schuldig, zu helfen. Denn es kommt eine Gefahr auf uns zu.“
„Ich weiß nichts über ein Treffen“, antwortete der Alte barsch. „Ich habe keine Kontakte zu irgendjemandem aus der Gilde. Die Überlebenden sind in alle Winde zerstreut worden.“
„Und trotzdem hat es ein Treffen gegeben“, sagte Morian. „Wage es nicht, meinen Herrn zu belügen!“
Der Magier schaute den Kronrat mit so kaltem und bedrohlichem Blick an, dass Jessy glaubte, die Temperatur im Raum würde sich verändern. Selbst Morian wich ein wenig zurück.
„Ich spreche mit dem Prinzen, nicht mit dir“, zischte er. „Ich weiß von keinem Treffen. Und ich weiß auch nichts von einer Gefahr. Aber es würde mich nicht wundern.“
„Was meinst du damit?“ fragte Albin. Sein Gesicht war vor Aufregung gerötet.
Der Alte erhob sich ächzend von seinem Stuhl und humpelte durch den Raum, um die Fensterläden aufzustoßen. Doch heller wurde es trotzdem nicht.
„Ihr mögt den Orden zerschlagen haben“, sagte er bedeutungsschwer. „Aber ihr habt nicht die Wurzel des Übels ausgerissen. Skarphedinn ist am Leben. Und er wird nicht zur Ruhe kommen.“
Der Name stand wie ein übler Geruch nach Unheil deutlich im Raum. Jessy schauderte.
„Niemals hat es einen Meister wie ihn gegeben“, sagte der Magier, während er gedankenverloren nach draußen blickte. „Einen Menschen, so durchdrungen von der Gier nach Macht, dass ihm die Menschlichkeit verloren ging. Ja, er war ein großer Magier und wir folgten ihm bereitwillig. Wir vertrauten ihm. Er versprach ein besseres Leben für uns alle. Reichtum, Anerkennung, Respekt. Doch der Krieg… einen solchen Krieg hatte niemand gewollt. Zumindest ich nicht.“
„Und nun denkst du, Skarphedinn könnte die Magier wieder zusammenrufen? Einen neuen Vorstoß wagen?“ fragte Tychon nach einer Pause.
„Was weiß ich schon“, sagte der Alte schulterzuckend. „Aber glaubt mir, Skarphedinns Wille ist ungebrochen. Ihr habt ihn geschwächt und vertrieben und seine Armee zerstreut und vernichtet. Aber wenn es in diesem Land eine Gefahr für König Bairtliméad und sein Geschlecht gibt – dann ist er es.“
Die Männer schwiegen bestürzt. Jessy wagte kaum zu atmen. Das waren wirklich schlechte Neuigkeiten. Ein neuer Krieg? Das wünschte sie hier wirklich niemandem. Vor allem nicht sich selbst. Auf Schlachtengetümmel konnte sie absolut verzichten. Aber sie spürte das Entsetzen ihrer Begleiter und kam sich egoistisch vor. Immerhin ging es hier um das Schicksal eines ganzen Landes.
„Wonach kann Skarphedinn streben?“ fragte Tychon. „Will er die Wiederherstellung der Gilde erzwingen? Eine Anerkennung der Magie, Schutz vor dem Gesetz?“
Der alte Magier lachte bitter.
„Ihr seid ein kluger Junge“, sagte er dann und humpelte zurück zu seinem Stuhl. „Eure Herrschaft würde dem Land wahrlich gut tun. Stellt Euch Skarphedinn nicht in den Weg. Er wird Euch vernichten. Wer weiß schon, was seine Ziele wirklich sind. Womöglich strebt er sogar nach dem Königsthron.“
„Herr, dieser Mann verspottet und bedroht Euch“, zischte Morian. „Ich kann das nicht dulden. Euer Vater würde es nicht dulden.“
Tychon antwortete nicht. Seine Kiefer waren fest aufeinander gepresst und die Muskeln arbeiteten.
„Ich danke dir für deine offenen Worte“, stieß er dann hervor und zog einige Münzen aus seiner Börse, die er auf den Tisch warf. Der Magier starrte angewidert darauf. Einmal war er wahrscheinlich ein reicher, angesehener Mann gewesen. Nun musste er Almosen annehmen. Die Demütigung musste ihm unerträglich sein.
Ohne ein weiteres Wort stürmte Tychon aus der Hütte zu den wartenden Pferden. Jessy konnte gar nicht schnell genug folgen und an die frische Luft kommen. Bevor sie losritten, trat der Alte an die Tür und stützte sich dabei auf seinen Diener.
„Es hat mich gefreut, Euch kennenzulernen“, rief er spöttisch. „Richtet dem König die besten Grüße aus. Und meinen Dank für mein Leben und für den wunderbaren Neuanfang!“
Kreischend flogen zwei Krähen auf, aufgeschreckt von den lauten Rufen. Jessy zog erschrocken die Schultern hoch. Nur weg von diesem Ort und von diesen düsteren Prophezeiungen.
„Glaubt Ihr, er hat die Wahrheit gesagt?“ fragte Albin.
Sie hatten sich ein gutes Stück von dem Wäldchen und seinem unangenehmen Bewohner entfernt und Jessy konnte wieder durchatmen.
„Ich sehe keinen Hinweis darauf, dass er gelogen hat. Und warum sollte er es auch tun?“ meinte Tychon. „Wenn er zu denen gehört, die sich Skarphedinn wieder anschließen, hätte er uns das alles nicht erzählt. Ich glaube ihm, dass er bereut, im Krieg Schlimmes verbrochen zu haben.“
„Für mich klang es eher wie die Worte eines verrückten Einsiedlers“, sagte Morian. „Ihr solltet nicht zu viel darauf geben. Große Mutter, wir haben keinerlei Hinweise darauf, dass Skarphedinn wirklich noch am Leben ist. Oder in der Lage irgendjemanden zu rufen.“
Jessy dachte an ihre Nacht im Kerker und den Besuch von Sketeph. Er hatte sie gefragt, ob Skarphedinn sie geschickt hatte. Also glaubte er, dass der Magiermeister noch lebte. Und sollte man ihm, dem Spion aus dem feindlichen Lager, nicht glauben schenken?
„Dann kann es doch genauso gut sein, dass er irgendwo in den Bergen sitzt und etwas Finsteres ausheckt, oder?“ meinte sie und schaute unauffällig zu Sketeph hinüber. Er zeigte keinerlei Reaktion.
„Herr, ich weiß, Ihr wollt das nicht hören“, sagte Rheys. „Aber wir haben in den letzten Tagen vieles erfahren, das beunruhigend genug ist, um umzukehren. Wäre es nicht besser, wenn wir uns in der Eisenfaust für das Bevorstehende rüsten würden? Was auch immer es ist.“
„Ach, Unsinn“, fuhr Morian dazwischen. „Umkehren wegen den vagen Aussagen von Wegelagerern und alten Verrückten?“ Er wandte sich direkt an den Prinzen. „Wäre das nicht zu voreilig? Immerhin habt Ihr Monate gebraucht, dem König die Erlaubnis abzuringen. Und das Volk liebt Euch und ist von Eurem Erscheinen hier im Hügelland begeistert. Meiner Meinung nach, sollten wir nicht vor einem Schatten fliehen, den wir noch gar nicht gesehen haben.“
Jessy beobachtete Tychon. In seinem ebenmäßigen Gesicht arbeitete es, seine Brauen waren zusammengezogen und die Lippen fest aufeinander gepresst.
„Wenn der König anfängt, das Heer aufzustellen, müssen wir in Ovesta sein“, sagte Bosco grimmig.
„Wir alle wissen, dass es die Wölfe immer nach einer neuen blutigen Schlacht gelüstet, in der sie ihre Überlegenheit beweisen können“, sagte Morian spöttisch. „Aber ich bitte Euch, Herr, wir sprechen doch noch lange nicht von Krieg oder dem Aufstellen des Heeres. Wir haben Gerüchte gehört, das ist alles!“
„Genug jetzt“, rief Tychon. „Wir werden auf keinen Fall umkehren. Aber mein Vater muss all das erfahren. Wir werden ihn umgehend benachrichtigen.“
„Man könnte vielleicht einen kleinen Suchtrupp in die Berge schicken lassen. Wenn es kürzlich eine Zusammenkunft von Magiern dort gegeben hat, müssen Spuren vorhanden sein“, schlug Albin leise vor.
„Eine gute Idee“, sagte Tychon. „Morian, du wirst unverzüglich einen Bericht verfassen und einen Botenvogel an meinen Vater schicken.“
Morian lächelte und übernahm den Auftrag mit einer kleinen Verneigung. Jessy hatte das sichere Gefühl, dass dieser Vogel die Eisenfaust nicht erreichen würde. Was hatte Morian vor? Arbeitete er etwa für diesen Skarphedinn? Eine irrwitzige Idee, die Jessy nicht äußern würde. Dem wichtigsten Kronrat im Land Hochverrat zu unterstellen war sicher nicht unbedingt der beste Weg, sich Tychons Vertrauen zu erhalten. Wahrscheinlich hatte er Recht und alles war nur die Spinnerei eines verbitterten alten Mannes. Was wusste sie schon darüber.
„Wie konnte dieser Skarphedinn einfach so verschwinden?“ fragte sie nachdenklich. „Konnte man ihn am Ende des Krieges nicht festnehmen?“
„Als die Schlachten vorbei waren, herrschte blankes Chaos in Westland. Die Magie wurde bei Todesstrafe verboten“, erklärte Albin. „Die Magier wurden noch eine Weile gejagt und gezwungen, ihrer Kunst abzuschwören und schließlich verkrochen sie sich vor den Westländern in die Wälder und Höhlen und abgelegenen Gegenden. Skarphedinn wurde zuletzt an der Spitze seiner Armee gesehen, dann verschwand er.“
„Aber es gab noch ein paar Einheiten, die nicht aufgeben wollten“, sagte Rheys düster. „Sie gingen in die Berge, auf eigene Faust und ohne Befehl, um Skarphedinn zu jagen. Es gibt viele Gerüchte, was geschah. Manche sagen, sie hätten ihn gefunden und grausam hingerichtet. Andere meinen, Skarphedinn hätte sie alle niedergemetzelt. Kaum einer ist zurückgekommen um davon zu berichten.“
„Wenn Ihr mich fragt, Herr“, brummte Bosco. „Dann riecht das alles gewaltig nach Ärger. Auch wenn wir nicht wissen, aus welcher Richtung.“
„Da hast du wohl recht“, murmelte Tychon. „Aber ich muss Morian zustimmen. Wir fliehen nicht vor einem Schatten. Mag er auch noch so dunkel sein.“
Mit gedrückter Stimmung kehrten sie zurück ins Dorf, packten ihre Sachen zusammen und machten sich wieder auf den Weg.
„Ich würde es Euch lieber nicht beschreiben, Herrin“, sagte Wiar besorgt. „Es war so schrecklich. Ich möchte nicht, dass Ihr Euch ängstigt.“
Er zwinkerte ihr zu, natürlich wusste er, dass Amileehna so etwas nicht auf sich sitzen lassen würde. Aber sie verstand, dass er sie nur neckte.
„Nun erzähl schon, wie das Ungeheuer ausgesehen hat! Muss ich es dir befehlen?“
Jessy lauschte dem Gespräch seit einer gefühlten Ewigkeit. Die beiden Turteltauben hatten sich wieder versöhnt. Wiar war offenbar bereit, sich nicht so schnell von seinen Vorgesetzten einschüchtern zu lassen. Und immerhin konnte man ihnen ja nicht verbieten, sich zu unterhalten.
„Was uns angriff war doppelt so groß wie ein Felsenbär“, fuhr er nun in seiner Geschichte fort. „Seine Zähne waren lang wie Euer Unterarm und ich bin sicher, sein Speichel war voller todbringendem Gift. Wir umstellten Euren Vater sofort, doch es kamen immer mehr dieser Biester aus dem Unterholz, riesig und schwarz wie der Schlund des Todes.“
Ein Schnauben unterbrach ihn. Wiar blickte ungehalten auf. Es war Albin, der vor ihnen her ritt und der mittlerweile so gut mit seinem Hengst zurechtkam, dass er Wiars Erzählung hatte verfolgen können. Nachdem sie den Rappen eingefangen hatten, war er etwas frommer und Rheys gab Albin immer wieder Ratschläge, wie er mit dem Tier umgehen sollte. Vor allem ging es wohl darum, entspannt zu bleiben und zu zeigen, wer der Tonangebende war. Albin schlug sich gut.
„Hast du irgendetwas zu sagen?“ fragte Wiar herablassend.
„Ich frage mich nur, wie lange du der Prinzessin noch dieses Märchen erzählen willst“, antwortete Albin. Jessy machte große Augen. So mutige Worte aus seinem Mund?
„Nennst du mich einen Lügner?“ fragte Wiar und beugte sich mit zusammen gekniffenen Augen vor.
„Die Angreifer, die du beschreibst sind Blutdämonen aus dem hohen Norden. Sie wurden von Skarphedinn im Krieg heraufbeschworen und fast vollständig von unseren Armeen ausgerottet. Die letzten Exemplare hat man vor über zehn Jahren aus dem Westland vertrieben“, sagte Albin. „Und wann sagtest du, fand dieses Ereignis statt?“
„Stimmt das, Wiar?“ fragte Amileehna. „Hast du all das nur erfunden?“
Sie starrte ihren Angebeteten mit großen unschuldigen Augen an. Wiar zögerte einen Moment, dann lächelte er verschmitzt.
„Nur um Euch zu unterhalten, Herrin. Ich weiß, dass Ihr solche Geschichten gerne hört. Ich möchte nur, dass Ihr Euch amüsiert.“
Amileehna presste die Lippen aufeinander. „Ich bin kein kleines Mädchen, das man mit Lügenmärchen unterhalten muss!“
„Verzeiht mir, ich wollte Euch nicht beleidigen. Es war dumm von mir. Bitte seid mir nicht böse.“
„Ich glaube es ist Zeit, dass Kaj dich ablöst. Er kann den Rest des Tages auf mich aufpassen“, sagte die Prinzessin spitz.
Jessy verkniff sich ein Grinsen. Beeindruckend, wie Amileehna ihn zurechtwies. Vielleicht waren ihre warnenden Worte doch auf fruchtbaren Boden gefallen. Wiar verzog den Mund, dann gab er seinem Pferd die Sporen. Im Vorbeireiten, stieß er Arro mit der Scheide seines Schwertes in die Flanke, was den Hengst nervös zur Seite tänzeln ließ. Doch Albin hielt ihn unter Kontrolle und sprach beruhigend auf ihn ein. Einen Moment später erschien Kaj schweigend an Amileehnas Seite.
„Amüsierst du dich wirklich über diese Geschichten?“ fragte Jessy. „Das alles klang doch schon ein bisschen übertrieben, oder? Vielleicht solltest du dich an Albin halten. Der kennt ziemlich viele Geschichten, die wahr sind.“
Amileehna schaute zu Albin auf, die Enttäuschung war ihr nun deutlich anzusehen.
„Ich will keine langweiligen Berichte vor Forschern“, sagte sie schmollend. „Ich mag Dinge von wilden Schlachten und Gefahren hören.“
„Na ja, Albin hat sich ganz alleine einem Felsenbären gestellt um dich zu retten – und diesen ziemlich fachmännisch erlegt, wenn ich das richtig beurteile. Das finde ich schon ziemlich gefährlich.“
„Tatsächlich?“ fragte die Prinzessin erstaunt. „Das habe ich gar nicht gewusst.“
Albin hörte ihnen genau zu, Jessy sah es an seinen angespannten Schultern und nun breitete sich die Röte, die sein gesamtes Gesicht überziehen musste, langsam zu seinem Nacken hin aus.
„Dann muss ich mich wohl bei dir bedanken“, sagte Amileehna beinahe schüchtern.
„Selbstverständlich nicht, Herrin“, sagte Albin. „Jeder andere hätte es auch getan.“
Amileehna lächelte ihm ein wenig zu. Jessy sah, das Albin beinahe das Herz stehen blieb vor lauter Glück. Nach ein paar Minuten sagte Amileehna:
„Glaubst du, Wiar ist jetzt böse auf mich? Ich hoffe nicht…“
Jessy seufzte. Das Mädchen war hoffnungslos verloren.
Am Nachmittag, als die Sonne schräg stand und die Felder und Hügel um sie orangerot leuchteten, schlugen plötzlich die Hunde an. Rojan ließ die Kette locker und folgte der davonjagenden Hündin auf seinem Pferd. In einiger Entfernung erkannte Jessy, dass etwas Großes dort im hohen Gras lag. Rojan hatte angehalten und winkte.
Sie folgte Tychon, Rheys und Fabesto und erkannte schon aus der Entfernung, dass es sich um ein riesengroßes Schlauchboot handelte. Es sah aus wie eine Rettungsinsel, in der Schiffbrüchige auf Hilfe warten und war rund und leuchtend rot, so dass es ihnen im Abendlicht nicht aufgefallen war. Jessy hätte beinahe laut gelacht, so unmöglich war der Anblick.
„Was ist los?“ fragte Rheys alarmiert.
„Nichts“, antwortete Jessy. „Keine Angst, es ist nicht gefährlich. Es ist ein Boot. In seinem Inneren ist Luft, so dass es schwimmt. Vielleicht sollten wir es mitnehmen, es könnte nützlich sein. Kommen wir irgendwann an ein Gewässer?“
„Leider nicht“, sagte Tychon, der das Ding sicher gerne ausprobiert hätte. „Vor uns liegen Steppe und Dschungel. Wir haben keine Verwendung dafür. Und wie sollten wir es transportieren?“
„Wenn man die Luft heraus lässt, kann man es zusammenfalten“, sagte Jessy. „Es ist nichts Magisches daran“, fügte sie mit einem Seitenblick auf Fabesto hinzu, der das Boot grimmig anstarrte. Er war höchst verärgert darüber, dass Tychon ihn nicht zu dem Magier mitgenommen hatte. Und nach dem, was er über den Besuch gehört hatte, bedrängte er den Prinzen ständig, nach Hause zu reiten.
„Das alles ist sehr beunruhigend, Herr. Ich kann nur noch einmal inständig empfehlen, dass wir umkehren. Die Dinge, die erscheinen, werden immer größer! Was hat das zu bedeuten? Und sollten wir uns nicht viel mehr auf eine Bedrohung durch Skarphedinn konzentrieren?“
„Ich weiß deine Sorge wirklich zu schätzen, aber wir reiten weiter“, sagte Tychon knapp.
Fabesto widersprach nicht mehr, machte aber ein sehr unglückliches Gesicht.
Als sie am Abend in ihrem Zelt lag, lauschte Jessy auf die Geräusche draußen. Sie war müde und die Erinnerung an die wunderbare Nacht im Gasthof machte es umso schwerer, sich auf der harten Pritsche wieder wohlzufühlen. Aber auch abgesehen davon war sie unruhig. Irgendetwas Seltsames schien in der Luft zu liegen, sie fror und schwitzte zugleich und hatte Kopfschmerzen. Vielleicht schlug das Wetter wieder um. Und dann all diese bedrohlichen Gespräche über Krieg und Ungeheuer und Magier, die angreifen könnten. Und Schlauchboote in herrlichen Sommerwiesen…
Während sie eindöste, wanden sich die gedämpften Stimmen von draußen in ihren Halbschlaf und ihre beginnenden Träume. Dennit hatte eine helle Jungenstimme, Boscos war tief und rau wie die eines alten Kapitäns. Wiar redete leiser als die anderen und es schwang immer ein Grinsen darin mit. Und wenn Rheys redete, klang es wie das Rauschen des Meeres, stetig und beruhigend. Seine Stimme in diesem Tonfall zu hören bedeutete, dass alles in Ordnung war. Heute Nacht würde ihr nichts geschehen.