Читать книгу Land der Wölfe - Julia Adamek - Страница 7

Kapitel

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Sich am nächsten Morgen wieder in den Sattel zu setzen kostete Jessy einige Überwindung. Sie hatte gut geschlafen und fühlte sich ausgeruht. Aber ihr Hintern und die Rückseite ihrer Schenkel schmerzten und an den Innenseiten ihrer Knie hatte sie große Blutergüsse von den Schnallen an ihrem Sattel. Aber Lia schnaubte ihr freundlich zu, als sie im zarten Morgenlicht zum Pferch mit den Pferden hinüber ging. Sie streichelte den Kopf der Stute und sagte mit Blick auf Albins Rappen:

„Sag doch diesem schwarzen Scheusal, es soll ein bisschen netter zu seinem Reiter sein, hm?“

„Habt ihr euch bereits angefreundet?“ fragte Kaj, der es geschafft hatte, sich trotz seiner Größe und Breitschultrigkeit zwischen den Pferden zu verstecken.

„Das ist nicht schwer, sie ist sehr freundlich zu mir“, antwortete Jessy. Kaj legte seinem Pferd, einem großen Schimmel, ein Halfter an.

„Ist es nicht unter der Würde eines Mannes der Königsgarde, sein Pferd selber zu satteln?“ fragte sie. Ihr kamen die Männer in der grauschwarzen Uniform eher vor wie Ritter, als wie einfache Wachposten. Aber sie wusste, die meisten von ihnen kamen aus armen Familien und waren nur dank ihres Könnens in die Garde aufgenommen worden. So ziemlich jeder Junge in Westland wünschte sich eine Karriere bei den Wölfen.

„Oh nein“, widersprach Kaj. „Das Pferd ist für einen Krieger die wichtigste Waffe. Die Verbindung zu ihm kann zwischen Leben und Tod entscheiden. Wer bei den Wölfen aufgenommen wird, erhält ein Schlachtross als Geschenk vom König, so ist es Brauch. Für uns ist es der wertvollste Besitz. Kein Wolf würde einen Stallknecht an sein Pferd heranlassen.“

Während er sprach betrachtete er das Tier an seiner Seite mit so großer Zärtlichkeit, dass Jessy auf diese wortlose Freundschaft direkt neidisch wurde. Sie beschloss, baldmöglichst alles zu lernen, was sie wissen musste, um Lia zu versorgen. Obwohl das für Frauen wahrscheinlich nicht üblich war.

Benoas bereitete ein Frühstück in einem großen Kessel zu, der über dem Feuer hing. Alle waren bereits auf den Beinen und in freudiger Aufbruchsstimmung. Nur Albin hockte leichenblass und in seine Decke gewickelt auf dem Boden. Er sah aus, als habe er keine Minute geschlafen.

„Ach, nichts geht doch über einen heißen Haferschleim am Morgen. Da fühlt man sich fast wie im Feld“, sagte Bosco und hielt die Nase in seine dampfende Schüssel, als handle es sich wirklich um eine Köstlichkeit. Und es schmeckte auch nicht so schlecht, wie Jessy zugeben musste, als sie ihre Portion löffelte.

„Setzt er sich niemals hin?“ fragte sie Dennit und wies mit dem Löffel auf Rheys, der sein Frühstück im Stehen in sich hinein schaufelte. Tatsächlich hatte sie noch niemals gesehen, dass er auch nur einen Moment ausruhte.

„Selten“, antwortete Dennit.

Schon kurze Zeit später scheuchte Rheys sie auf um weiter zu ziehen. Jessy überwand ihren Schmerz und vergaß ihn schon nach kurzer Zeit. Sie beobachtete, wie die anderen Reiter ihre Pferde mit Schenkeln und Zügeln steuerten und hatte das Gefühl, dass sie es schon bald lernen würde, Lia richtig zu reiten.

Die Gegend war wunderschön und wurde langsam etwas hügelig, so dass der Weg mal steil anstieg und mal abfiel. Die Sonne schien heiß, aber das dichte Gehölz strahlte Kühle aus und wenn die Bäume ihnen ein wenig Schatten gewährten, spürte Jessy die Feuchtigkeit der Waldluft auf ihrer Haut. Nirgends gab es Spuren von menschlicher Einwirkung, abgesehen von dem Weg natürlich. Keine Markierungen an den Bäumen, keine Stümpfe wo etwas abgeholzt worden war, keine Reifenspuren. Es war, als durchwanderte man einen Nationalpark. Jessy genoss die Ruhe und das gleichmäßige Schaukeln auf dem Pferderücken. Schon lange hatte sie sich nicht mehr die Zeit genommen, einfach nichts zu tun, als die Welt um sich herum anzuschauen. Der Ärger, der sie die letzten beiden Tage so sehr beschäftigt hatte, flaute etwas ab.

Gegen Mittag verließ Rojan den Tross um etwas zu jagen. Er trug einen wunderschönen mit Schnitzereien verzierten Langbogen auf dem Rücken. Jessy erinnerte sich an Boscos Worte, dass keiner seiner Pfeile jemals daneben ging. Sie hätte gerne einmal gesehen, wie er mit dem Bogen umging. Während ihrer kurzen Rast an einem Bach kehrte Rojan zurück. Jessy trank das herrliche klare Wasser und spritzte es sich ins Gesicht und auf den Nacken. Die Haut spannte schon etwas. Wenn sie den Wald verließen würde sie sicher einen ziemlichen Sonnenbrand bekommen.

Über Rojans Sattel hing ein kleines totes Reh und Jessy bemühte sich, es nicht anzusehen, obwohl sie wusste, dass es nur getötet worden war um als Abendessen zu dienen und dass sein Leben nicht verschwendet war. Doch viel interessanter war, was Rojan gefunden hatte. Zielstrebig ging er auf Tychon zu, der auf der Erde saß und ein altes Pergament, vielleicht eine Landkarte, studierte.

„Herr“, sagte Rojan leise. Seine Stimme war so selten zu hören, dass sie Jessy völlig unbekannt war. Dann zog er etwas aus seinem Wams hervor.

Sofort scharten sich alle um die beiden, Jessy näherte sich langsamer. Sie fürchtete davor, zu sehen auf was Rojan vielleicht gestoßen war. Immerhin konnte alles hier landen. Waffen, gefährliche Chemikalien. Dinge, über die sie nur Schlechtes zu berichten hatte und die für diese Welt und ihre Bewohner gefährlich werden konnten. Doch zu ihrer Erleichterung war es ein sehr schöner dunkelblauer Montblanc-Kugelschreiber, dessen vergoldete Details im Sonnenlicht funkelten.

„Was ist es, Jessy?“ fragte Tychon staunend und drehte den fremden Gegenstand in seinen langen gepflegten Fingern hin und her.

„Ein Stift“, sagte sie. „Wir benutzen ihn, um zu schreiben. Aber dieser hier ist ein besonders kostbares Exemplar. Der, dem er gehört, wird sich ziemlich ärgern, dass er verschwunden ist.“

Sie nahm Tychons alte Karte, drehte sie um und schrieb sorgfältig seinen Namen darauf.

„Schaut her. Es ist völlig ungefährlich.“

„Also benutzt ihr nicht Feder und Tinte?“

„Nein, heute nicht mehr“, sagte Jessy. „Aber früher haben wir es genauso gemacht wie ihr. Überhaupt ähnelt eure Welt sehr der unseren. So wie sie vor vielen hundert Jahren war. Als ich hier aufwachte, dachte ich zuerst, ich sei in die Vergangenheit gereist. Doch von euren Ländern habe ich noch nie etwas gehört und es gab auch niemals Magie in meiner Welt.“

„Bist du dir da völlig sicher?“ fragte Morian. Jessy hockte neben Tychon auf dem Boden und musste zu den Umstehenden aufblicken. Der Kronrat hatte ein Lächeln auf den Lippen und seine Augen funkelten. Er sah immer aus, als wolle er sie verspotten.

„Natürlich bin ich mir sicher“, antwortete sie ärgerlich. Was wollte er nur von ihr? Unterstellte er, dass sie log? Glaubte er immer noch, dass sie eine Magierin war? Warum hatte er sich dann für ihre Begnadigung ausgesprochen?

„Wie wird es gefertigt?“ fragte Dennit.

„Ganz sicher nicht mit Zauberei“, sagte sie in Morians Richtung.

„Herr! Ich habe etwas gefunden!“

Alle richteten sich auf. Albin kam angelaufen, er war völlig außer Atem. Unerlaubterweise hatte er sich vom Lager entfernt, denn er deutete auf einen Punkt einige hundert Meter entfernt. Dort lag eine mit Felsbrocken durchsetzte Wiese. Eilig ging er ihnen voran und präsentierte schließlich seinen Fund.

Meine Güte, dachte Jessy. Zwischen den Felsen und in seiner Farbe kaum von ihnen zu unterscheiden lag ein uralter Röhrenfernseher mit zerbrochenem Glas. Das Ding erschien so unwirklich in dieser Umgebung, dass Jessy schwindelig wurde und sie für eine Sekunde an ihrem Verstand zweifelte.

„Was ist es? Es ist ja riesig! Wie kann es hier gelandet sein ohne menschliches Zutun?“ fragte Fabesto.

„Es ist nicht gefährlich. Wir nennen es Fernseher. Wir können damit weit entfernte Dinge sehen.“

Als die Worte heraus waren, merkte Jessy nicht zuletzt durch die ungläubigen Blicke der anderen, dass diese Erklärung nach purem Hexenwerk klang. Vielleicht sollte sie in Zukunft die Wahrheit wenigstens ein bisschen verschleiern, wenn sie die Gegenstände beschrieb, die hier scheinbar an jeder Ecke auftauchten.

Die Männer besahen sich den Fernseher genauer und staunten über sein Gewicht. Niemand stellte Jessy weitere Fragen, doch sie spürte, dass man ihr so manchen misstrauischen Blick zuwarf.

„Wir sollten es nicht hier lassen“, sagte Tychon. „Jemand könnte sich verletzten. Aber mitnehmen können wir es auch nicht. Also schlage ich vor, wir verstecken es.“

Während die Männer sich daran machten, Zweige von den Bäumen abzuschneiden um ein Versteck zu bauen, sah Jessy sich auf der Wiese um. Wenn ein Fernseher hier erscheinen konnte, musste es eine relativ große Öffnung zu ihrer Welt geben. Sie stellte sich den Übergang unwillkürlich wie eine Tür vor, durch die sie gehen konnte. Aber es gab hier nichts Außergewöhnliches zu sehen, die Bäume waren alt und stark, die Felsbrocken mit Flechten überwachsen. Die zaghafte Hoffnung, die in ihr aufgekeimt war, erlosch. Jessy setzte sich auf einen Steinbrocken und schaute in den Himmel. Ein leiser Wind bewegte die Baumwipfel.

Schließ einfach die Augen und wach zu Hause auf. Vielleicht geht es ganz von selbst.

„Die meisten wichtigen Wege, die wir gehen, sind unsichtbar“, sagte eine leise Stimme neben ihr. Sie hob die Lider. Es war Sketeph. Er lächelte, sein schmales Gesicht war unergründlich. „Es sind die Entscheidungen die wir treffen, nicht die Pfade auf denen unsere Füße wandeln. Du hast dich richtig entschieden, mit dem König zu kooperieren. Auch ich habe mich seiner Gnade anvertraut und ein besseres Leben erhalten. Aber trotzdem sind wir noch eigenständige Menschen, nicht wahr? Mit einem eigenen Willen und eigenen Plänen.“

Jessy hörte den Nachdruck in den letzten Worten.

„Ich helfe dem Prinzen um meine Freiheit zurück zu erhalten. Das ist mein einziger Plan. Was deiner ist, will ich eigentlich nicht wissen“, sagte sie abweisend.

Der Mann war ihr unheimlich. In seinem dunkelgrauen Umhang, dessen weite Ärmel die meiste Zeit seine Hände verbargen, sah er aus wie ein hagerer Mönch. Etwas Dunkles umgab ihn und sie hatte das Gefühl, dass weder sie noch sonst jemand auch nur das Geringste vor ihm verbergen konnte.

Entschlossen stand sie auf und stapfte davon. Im Vorbeigehen sah sie, dass Rheys und Bosco ihre Unterhaltung beobachtet hatten. Rheys starrte sie mit brennendem Blick an, Bosco nur verwundert. Und verunsichert. Immerhin hatte er als erstes die Hand für sie ins Feuer gelegt und wollte diese sicher nicht in Gefahr bringen. Zweifelte er etwa auch an ihr?

Jessy ging auf die dichten Baumreihen zu und wollte zu den Pferden, die neben der Straße zurück gelassen worden waren. Sie brauchte einen Moment für sich. Doch schon als sie wenige Schritte gegangen war, merkte sie, dass dies nicht die richtige Richtung war. Das Dämmerlicht des Waldes hatte sie bereits völlig umfangen. Die Lichtung und die Stimmen der Männer waren weit entfernt, die Vögel seltsam still. Eine Gänsehaut breitete sich über ihren Körper aus.

Und da war sie. Eine Tür aus dunklen alten Holzplanken mit einem schwarzen Knauf. Keine Wände, einfach nur eine Tür zwischen den Bäumen. Jessy traute ihren Augen kaum, ihr Puls beschleunigte sich. Lauf los! Jetzt! Niemand war in der Nähe, dies war der perfekte, der vielleicht einzige Moment zur Flucht. Jessy rannte los, ihr Mund war ausgetrocknet. Doch die Tür kam nicht näher, schien sich eher weiter zu entfernen. Sie hörte ein heiseres Kichern in ihrem Nacken und wollte sich umschauen. Aber ihr Blick hing wie gefesselt an der Tür nach Hause. Es musste der Weg zurück sein, sie war sich völlig sicher.

Als sie glaubte, schon die Hand nach dem Türknopf ausstrecken zu können, blieb ihr Fuß in etwas hängen und sie stolperte und fiel jäh auf die Erde. Der Untergrund war weich und moosig und sie verletzte sich nicht, aber als sie aufschaute, war die Tür verschwunden. Entsetzt wollte Jessy sich aufrappeln, aber ein schweres, unsichtbares Gewicht sauste auf ihre Brust nieder und presste die Luft aus ihren Lungen. Sie war wie gelähmt, ihre Augen tränten. Dann wurde sie an den Füßen gepackt und über Moos, Wurzeln und Steine einige Meter weit geschleift. Ein panischer Schrei drang aus ihrem Mund, da sah sie plötzlich jemanden über sich stehen, hörte Leder knirschen und eine gezogene Schwertklinge blitzte im fahlen Licht auf.

Wiar wirbelte seine Waffe über ihr durch die Luft und traf etwas mit der flachen Seite der Klinge. Das Wesen, das Jessy angegriffen hatte, wurde kurz und flimmernd sichtbar, doch sie konnte außer wirren weißen Haare und schrumpeliger Haut nichts erkennen. Das Ding stöhnte unter dem Schlag.

„Verschwinde, du kleiner Dämon, sonst beißt dir dieser silberne Wolf hier ein Loch in deinen Wanst“, sagte Wiar laut.

Das Wesen heulte protestierend auf, dann verschwand es. Obwohl sie nichts sehen konnte, merkte Jessy, dass keine Gefahr mehr drohte. Sie setzte sich auf. Ihre Brust schmerzte.

„Was zur Hölle war denn das?“ fragte sie atemlos.

„Nur ein Waldgeist“, antwortete Wiar lässig und reichte ihr die Hand. Jessy zog sich hoch.

„Weniger gefährlich, eher ärgerlich. Hast du dir wehgetan?“

„Nein, alles in Ordnung“, sagte Jessy. Sie löste ihren Haargummi und zupfte mit zittrigen Händen Blätter und Zweige aus ihren Haaren.

„Was ist los?“ schrie Bosco aus einiger Entfernung.

„Ein Waldgeist. Alles in Ordnung“, rief Wiar zurück. Dabei wendete er den Blick nicht von Jessy ab.

„Ich habe etwas gesehen“, sagte sie. „Eine Tür und als ich darauf zuging, war sie verschwunden.“

„Dieses Ungeziefer macht sich einen Spaß daraus, Menschen in die Falle zu locken. Sie schauen in deine Gedanken und erschaffen ein Bild von dem, was sie darin sehen“, erklärte er und steckte sein Schwert zurück in die Scheide. Jetzt sah Jessy, dass der Knauf ein silberner Wolfskopf war. Das Maul war geöffnet und die Zähne deutlich zu sehen. Sie fühlte sich plötzlich unwohl und warf einen Blick zu der Lichtung hinüber.

„Wir sollten zurückgehen, bevor noch mehr von ihnen kommen“, schlug sie vor und ging los, obwohl ihre Knie noch zitterten.

„Eine Tür also?“ fragte Wiar und trat ihr in den Weg. „Das geht in deinem Kopf vor?“

„Keine Ahnung, was das bedeuten soll“, antwortete sie kurz.

„Also gibt es keine Waldgeister in deiner Welt?“

Jessy schüttelte den Kopf. Sie strauchelte, ihr Puls raste noch immer. Sie wollte nur schnell wieder in den Sonnenschein zurück. Wiar fasste ihren Arm und zog sie einen Schritt in seine Richtung, so dass ihre Hand über sein Wams streifte.

„Und auch keine Helden, die kommen um einen zu retten?“ fragte er gefährlich leise und grinste dabei. Jessy starrte ihn schockiert an. Versuchte er sie anzumachen? Sie riss ihren Arm los.

„Ich wäre schon zurecht gekommen“, zischte sie.

„Natürlich“, antwortete er immer noch grinsend. „Deine Haare sehen schön aus.“

Er zupfte ein letztes Blatt heraus und Jessy spürte, dass sie gleich überkochen würde. Wütend stapfte sie davon und fasste im Gehen ihre Haare zu einem dicken Knoten zusammen.

Gab es denn hier auch nur einen Menschen, vor dem sie sich nicht in Acht nehmen musste?

Erschöpft ließ Jessy sich auf die Liege sinken. Ein unendlich langer anstrengender Tag lag hinter ihr und sie wollte sich am liebsten zusammenrollen und sofort einschlafen. Ihr Brustkorb schmerzte von dem Angriff des Waldgeistes und sie hatte ein paar Schürfwunden davon getragen. Da sie aber nicht noch mehr Aufmerksamkeit erregen wollte, als sie es heute ohnehin schon getan hatte, sagte sie nichts davon. Sebel musterte sie kurz und spürte wohl das Bedürfnis ihrer Zeltnachbarin nach Ruhe und Einsamkeit.

„Ich kümmere mich um das Essen“, murmelte sie und schlich hinaus.

Jessy warf sich auf ihr Kissen und schloss die Augen. Als sie nach dem Fund des Fernsehers weiter geritten waren, hatte sich die Stimmung im Tross verändert. Sie spürte, dass man ihr Blicke zuwarf und bereute es, solch kryptische Aussagen gemacht zu haben. Außerdem hatten alle ihr halb geflüstertes Gespräch mit Sketeph beobachtet und schienen Schlüsse zu ziehen, die Jessy nicht gerade vertrauenswürdiger erscheinen ließen.

Sie hatten das Nachtlager schon früh aufgeschlagen und Tychon hatte sie zu sich zitiert um mit ihr alle Gegenstände und Phänomene durchzusprechen, die bisher die Westländer heimgesucht hatten. Auch Morian und Fabesto waren dabei und Albin kauerte in seinem Klappsessel und versuchte, nicht aufzufallen. In einer Ecke stand Wiar und hörte alles mit an. Ausgerechnet er hatte an diesem Abend die Aufgabe, Tychon nicht von der Seite zu weichen. Jessy sah sein anzügliches Lächeln im Halbdunkel aufleuchten, als es dämmerte und die Feuerschalen im Zelt entzündet wurden.

Es war für sie nichts ungewöhnliches, von Männern angesprochen zu werden. Mit den meisten verstand sie sich in kürzester Zeit auf eine kumpelhafte Art sehr gut und konnte aufdringlichen Exemplaren geschickt aus dem Weg gehen. Doch hier, in dieser Umgebung, erschien es ihr so absurd, dass jemand an ihr Interesse haben könnte, dass ihr jede Antwort im Halse stecken geblieben war. Zwar bedeutete es, dass sie nach fünf Tagen ohne Dusche und Kosmetik noch nicht völlig verwahrlost aussah, doch trotzdem konnte sie nichts Gutes daran finden. Sie hasste das Gefühl, so schwach und ausgeliefert zu sein und wenn sie sich schon nicht mit Pfefferspray wehren konnte, dann würde sie ab sofort doch wenigstens auf ihre scharfe Zunge zurückgreifen.

Während Jessy Tychon und seinen Räten, die angespannt lauschten, von CDs erzählte, die wie durch ein Wunder Musik abspielten und von Gefährten, die einen in wenigen Minuten über große Strecken transportierten, sah sie förmlich das wachsende Misstrauen in den Augen der anderen.

Fabestos Gesicht verfinsterte sich immer mehr und das traf sie hart, denn sie hätte diesen starken alten Soldaten, gerne auf ihrer Seite gehabt. Tychon staunte mit der Faszination eines kleinen Jungen über alles, aber ihm wurde sicher auch klar, dass Jessy eine wertvollere und gefährlichere Informantin war, als er bisher geglaubt hatte.

Nur Morian schien die ganze Sache immer mehr zu gefallen. Er saß völlig entspannt in seinem Stuhl, trank Wein und lehnte sich ab und zu vor um sie noch eindringlicher zu beobachten. Dabei verließ das Lächeln nie sein Gesicht und seine Augen funkelten mit den Edelsteinen an seinen Fingern um die Wette. Je verrückter ihre Geschichten wurden, desto mehr schien er sich zu freuen. Als Jessy eine Pause einlegte und sich angespanntes Schweigen über das Zelt legte, sagte er:

„Wärest du in der Lage, solche Dinge zu erschaffen? Hier, in unserer Welt?“

Mit dieser Frage hatte Jessy gerechnet und sie war sogar froh, dass sie gestellt wurde. Mit fester Stimme antwortete sie:

„Nein, das kann ich nicht. Mein Wissen über viele Details ist nur oberflächlich, ich bin keine Wissenschaftlerin. Und herzaubern kann ich leider nichts.“

Mittlerweile schien sie jeder Mann im Tross zu verdächtigen, eine Magierin zu sein. Jessy durfte diesen Verdacht auf keinen Fall noch nähren. Morian wirkte gar nicht enttäuscht.

„Natürlich“, sagte er. „Sicher braucht es sachkundige Menschen um solche Erfindungen herzustellen. Trotzdem – es war hochinteressant, was du uns erzählt hast. Nicht wahr, Herr? War für ein Glück dass wir dieses Goldstück nicht auf dem Schafott verloren haben.“

Er lächelte breit und Jessy schauderte. Sie konnte den Moment kaum erwarten, in dem sie endlich erfuhr, was dieser Mann plante.

„Was du sagst, Mädchen, klingt unglaublich“, sagte Fabesto und schaute sie grimmig an. Sie erwiderte seinen Blick.

„Das ist mir bewusst. Aber es ist die Wahrheit.“

Nach einem weiteren langen Blick, nickte er leicht.

„Ich denke, es ist genug für heute“, sagte Tychon schließlich, wie aus tiefer Konzentration erwachend. „Lasst mich noch einen Augenblick mit Jessy allein.“

Die Männer erhoben sich. Jessy entging nicht der warnende Blick, den Fabesto Wiar im Hinausgehen zuwarf. Glaubten sie tatsächlich, dass sie es wagen würde, den Prinzen anzugreifen? Das grenzte schon an Paranoia. Er war einen Kopf größer als sie, schlank, trainiert und bewaffnet.

„Du auch, Wiar“, sagte Tychon in diesem Moment, als habe er ihre Gedanken erraten.

Zögernd verließ der Gardist das Zelt. Jessy unterdrückte ein triumphierendes Lächeln. Das war die erste freundliche Geste, die ihr an diesem Tag zu Teil wurde. Tychon vertraute ihr also noch immer.

Doch nun seufzte er.

„Fabesto hat recht“, sagte er. „Was du da erzählst klingt dermaßen nach Zauberei, dass es schwer ist, nicht daran zu glauben. Aber wenn ich dich ansehe, weiß ich, dass du mit Skarphedinn nichts zu schaffen hast.“

„Ich glaube, da seid Ihr mittlerweile der einzige“, antwortete sie bitter.

„Sie werden sich schon an den Gedanken gewöhnen“, sagte er freundlich. Er sah kein bisschen erschöpft aus, nur besorgt.

„Wenn wir nur wüssten, was das alles zu bedeuten hat. Warum dringen diese Dinge hier ein? Und wie ist es möglich? Doch eine Frage beschäftigt mich am allermeisten – und hier möchte ich, dass die Antwort unter uns beiden bleibt. Denkst du, dass das Westland in Gefahr ist?“

Jessy starrte ihn an. Nein, bitte stell mir nicht diese Frage, flehte sie stumm. Sie wollte darauf keinesfalls etwas sagen, denn die Antwort war ja. Erst jetzt wurde es ihr deutlich bewusst, was all diese Phänomene letztendlich bedeuten konnten. Wenn es möglich war, dass Fernseher aus dem Nichts erschienen, dann würden auch Menschen kommen. Und zwar solche, die bereit waren, all das hier zu zerstören. Aus welchen Gründen auch immer. Doch wenn sie Tychon so eine düstere Vorhersage machte, würde das ihr Ansehen nicht gerade steigern. Sie wollte nicht den Untergang seines Reiches prophezeien müssen.

„Nein, ich glaube nicht“, sagte sie und schaute fest in seine blauen Augen um ihre Lüge zu verbergen. „Ich glaube nicht, dass Euch Gefahr droht.“

Seine Erleichterung schmerzte Jessy und als sie zu ihrem Zelt ging, fühlte sie sich niedergeschlagen. Die Lüge würde schwer auf ihren Schultern lasten.

Sebel brachte ihr etwas zu essen, doch obwohl ihr Magen knurrte, hatte sie keinen rechten Appetit. Sie lauschte auf die entspannten Gespräche draußen. Die Grillen zirpten und sie sehnte sich plötzlich danach, die Sterne zu sehen. Irgendetwas, das genauso war wie zu Hause. Und sie wollte nicht alleine sein, sondern in der Gesellschaft anderer. Vielleicht musste sie ihnen einfach beweisen, dass sie normal war und dass es zwischen ihnen – trotz ihrer seltsamen Geschichte – keinen Unterschied gab.

Entschlossen schlug sie die Zeltplane zurück. Sebel lag bereits friedlich schlummernd unter ihrer Decke. Jessy trat hinaus in die kühle Nachtluft. Der Geruch von gebratenem Fleisch hing noch zwischen den Bäumen und das helle Feuer verbreitete gemütliches Licht. Die Männer saßen im Kreis, ließen einen großen Krug kreisen und unterhielten sich. Benoas, der Diener Kili und Albin schliefen etwas abseits auf dem Boden.

Entschlossen ging Jessy ein paar Schritte vorwärts, als sich ihr plötzlich Rheys wie eine unüberwindliche Mauer in den Weg stellte.

„Wohin gehst du?“ fragte er unwirsch. Jessy spürte Zorn in sich aufsteigen, der wie immer bei Rheys mit einer gehörigen Portion Furcht vermischt war.

„Ich wollte nur ein wenig Gesellschaft“, sagte sie.

Sein Gesicht zeigte keine Regung nur seine hellen Augen schienen jedes Licht einzufangen. Sie leuchteten sogar im Halbdunkel. Wie bei einem Wolf, schoss es Jessy durch den Kopf und sie zog die Schultern hoch. Er hatte ein kantiges Gesicht, der Feuerschein ließ ihn geradezu gefährlich aussehen. Nur sein Mund passte nicht in das Bild. Jessy war plötzlich neugierig, wie er aussah, wenn er lächelte. Falls das überhaupt möglich war.

„Das ist keine gute Idee“, antwortete er.

„Keine Angst, ich werde schon niemanden mit einem Zauberbann belegen“, sagte sie und versuchte zu grinsen, doch jeder Anflug von Humor prallte an Rheys ab.

„Das kann man nicht wissen“, antwortete er und musterte sie für eine Sekunde. Da begriff Jessy, dass sie nicht gerade wie ein tugendhaftes Fräulein aussah. Das Haar hing ihr offen über die Schultern und sie trug ihr Wams nicht, sondern nur ein loses Hemd über der Hose. Außerdem waren ihre Füße nackt.

„Würden die hochgelobten Wölfe aus der Königsgarde etwa einem Gast des Königs zu nahe treten?“ fragte sie schnippisch und ihr Blick wanderte unbewusst für einen Sekundenbruchteil in Wiars Richtung. Sofort spürte sie, dass sie zu weit gegangen war. Sie biss sich auf die Lippe. Sei einfach still, wie Bosco es dir gesagt hat!

„Geh in dein Zelt“, antwortete Rheys knapp. Sein Ton duldete keinen Widerspruch. „Und bleib da, sonst stelle ich einen Wachposten davor.“

Jessy wollte noch etwas erwidern, doch plötzlich fehlte ihr jede Kraft dazu. Sie spürte, wie Tränen in ihren Augen aufstiegen und wollte um jeden Preis verhindern, dass ausgerechnet er es sah. Eilig wandte sie sich um und stapfte ins Zelt. Drinnen war es fast dunkel und sie holte zitternd Atem. Gott, wie sie diesen Mann verabscheute. Das konnte doch nicht sein Ernst sein!

Draußen hörte sie Boscos Stimme.

„Lass sie doch einen Schluck Bier trinken“, sagte er gutmütig. „Was soll passieren?“

„Sie ist eine Gefangene und so wird sie auch behandelt“, antwortete Rheys scharf.

„Hättet ihr gehört, was sie dem Prinzen alles erzählt hat…“ Das war Wiar. „Irgendetwas stimmt nicht mit ihr.“

Jessy stieß einen leisen Fluch aus, so sehr ärgerte sie sich über Wiars Klatschmaul. Sie wollte nichts mehr von dem ganzen Unsinn hören. Ein dicker Kloß drückte ihr die Kehle zu. Sie legte sich auf die Pritsche und zog sich die Decke über den Kopf.

Passend zu Jessys Stimmung schlug das Wetter um. Am Morgen war der Himmel von bleigrauen Wolken verhangen und es stieg feuchte Hitze vom Boden auf. Nach dem Mittagessen begann es zu regnen und schon nach wenigen Minuten waren sie nass bis auf die Haut.

Mit zusammen gebissenen Zähnen saß Jessy im Sattel und nährte ihre Wut auf diese ganze Reise, auf Rheys und auf dieses verdammte Abenteuer, in das sie hier gestürzt war. Wäre sie nur daheim! Gemütlich vor dem Fernseher oder einfach nur in einem Supermarkt, wo sie sich eine Flasche Cola kaufen konnte. Nein, sie war hier und musste mit ihrem wunden Hintern Tag um Tag im Sattel sitzen auf dem Weg ins Nirgendwo, musste sich Verdächtigungen und Misstrauen aussetzen, als sei sie eine Kriminelle.

Der Regen ließ alle Plaudereien versiegen, die Pferde trotteten mit gesengten Köpfen dahin. Jessy ritt hinter Albin und musste sich konzentrieren, denn sein Pferd tänzelte ständig und blieb oft abrupt stehen, was Lia erschreckte. Albin drehte sich dauernd im Sattel um und schaute auf den Weg, der hinter ihnen lag. Es ging Jessy auf die Nerven und schließlich konnte sie sich nicht verkneifen, ihn anzusprechen.

„Schau bitte auf die Ohren deines Pferdes, damit es nicht dauernd irgendwelchen Quatsch macht“, sagte sie ungeduldig. „Was ist denn da hinten so interessantes?“

Mit weit aufgerissenen Augen starrte er sie an. Hatte sie ihn bei irgendetwas ertappt? Wahrscheinlich machte er sich Sorgen, dass das Essen im Proviantwagen nass wurde, dachte sie boshaft.

„Gar nichts“, sagte Albin schnell. „Entschuldigung.“

Der Regen hörte bis zum späten Nachmittag nicht auf und Jessy fror und befürchtete, niemals wieder trocken zu werden. Ihre Finger waren völlig taub und es war so düster, dass die hereinbrechende Dämmerung gar nicht auffiel.

Der Weg war ein wenig schmaler geworden und zu ihrer Linken begrenzt durch einen steilen steinigen Abhang, wo nichts wuchs außer dürren Büschen und auf dem riesige Felsbrocken verstreut lagen. Plötzlich stoppte der Tross. Jessy richtete sich auf. Vorne gab es eine lautstarke Diskussion, offenbar redete Morian auf Rheys ein, endlich ein Lager aufzuschlagen. Doch Rheys‘ Stimme war durch den Regen deutlich zu vernehmen.

„Wir reiten weiter, bis der Wald dichter wird. Hier ist es nicht gut“, sagte er bestimmt.

„Was soll passieren, Mann?“ fragte Morian gereizt. Er hatte wohl auch keine Lust mehr, sich noch länger durchweichen zu lassen.

In diesem Augenblick sah Jessy plötzlich eine schnelle Bewegung, nicht mehr als ein grauer Schatten, der wie aus dem Nichts zu kommen schien und mitten in den Tross vorstieß. Sie hörte Sebel kreischen und die Männer hinten aufschreien. Albins Hengst stieg auf die Hinterhand. Dann ertönte ein grauenhaftes dumpfes Knurren. Die beiden Kampfhunde, die Rojan an der Kette mitführte, begannen wie wild zu kläffen und sich aufzubäumen. Jede Zelle in Jessys Körper füllte sich mit stummer Panik. Alles um sie herum verwandelte sich in einen Sturm aus gezogenen Klingen, wilden Gesichtern und panischen Pferden. Durch den Regen konnte sie kaum erkennen, was vor sich ging.

Dann sah sie es, ein graues Untier, groß wie ein Bär mit einem stacheligen schwarzen Kamm auf dem Rücken. Sie hörte sich selbst schreien, ihr Blick verengte sich zu einem Bildausschnitt mit schwarzen Rändern. Da waren noch mehr, es mussten mindestens fünf von ihnen sein, die den Abhang herunter stürmten und den Trupp angriffen.

Die Hunde waren losgelassen worden und stürzten sich todesmutig auf die größeren Angreifer. Jessy wollte nicht hinsehen und gleichzeitig konnte sie die Augen nicht abwenden. Sie wollte fliehen und konnte trotzdem keine Entscheidung treffen, sich zu bewegen. Sie sah Bosco, der brüllte und seine Äxte schwang, als wögen sie nichts und damit eines der Ungeheuer von den Beinen fegte. Dunkles Blut spritzte auf den Weg, eine riesige Pfütze bildete sich. Ihr Blick blieb eine scheinbare Ewigkeit daran haften. Dann sah sie Bosco plötzlich vor sich, er hatte Lias Zügel gepackt und drängte sie zum Proviantwagen hin, wo sich bereits Tychon, Morian und die Diener versammelt hatten und von den Gardisten eingeschlossen wurden.

Jessy schien es, als kämen immer mehr dieser Ungeheuer den Hang herunter, ihre Pranken schlugen nach den Pferdeleibern während sie versuchten, die Hunde abzuschütteln, die sich in ihren Flanken verbissen. Albin schlug vom Rücken seines Pferdes aus mit seinem Schwert auf einen der Monsterbären ein. Er verteidigte den Wagen und sein Gesicht sah aus, als stünde er unter Drogen. Das Bild war so unwirklich, Jessy spürte, dass etwas daran falsch sein musste. Albin war doch der Letzte, der sich vordrängen würde um zu kämpfen.

Sie hatte alle Mühe, Lia unter Kontrolle zu halten. Sie wollte absteigen, um das Pferd beruhigen zu können, doch sie war zwischen den anderen Reitern eingequetscht. Laute Schreie erregten ihre Aufmerksamkeit. Mit Grauen wandte sie sich um und hoffte, keinen verletzten Menschen sehen zu müssen. Doch es war Albin, der brüllte. Er stand auf dem Wagen und sein Arm war verschwunden. Nein, nicht verschwunden nur verdeckt durch den riesigen schwarzgrauen haarigen Leib eines Ungeheuers, das vor ihm in der zerfetzten Plane hockte. Nun schien es zu zittern und stieß ein dumpfes Brummen aus. Ein ätzender fauliger Geruch stieg auf. Das Wesen fiel schwer zur Seite und Albins Arm kam wieder zum Vorschein. Bis zum Griff hatte er sein kostbares Schwert in die Brust des Angreifers gestoßen. Jetzt sprudelte Blut aus dem toten Leib und färbte Albins Kleider dunkel. Albin sah völlig entrückt aus, sein Gesicht strahlte triumphierend. Seine Brust hob und senkte sich schnell und für diesen Augenblick, in dem er über dem getöteten Gegner stand, das Schwert glänzend vom Blut und sich nach dem nächsten Opfer umschaute, unterschied er sich kaum von den anderen Männern.

Ohne dass jemand Notiz davon nahm, hörte der Regen auf. Und so plötzlich wie der Angriff begonnen hatte, war er auch beendet. Jessy konnte im schwachen Licht nur erahnen, dass die großen dunklen Haufen auf dem Weg die erlegten Ungeheuer waren. Sie wischte sich das nasse Gesicht ab und konnte wieder etwas freier atmen, doch das Adrenalin rauschte durch ihren Körper und ließ sie zittern. Vorsichtig stieg sie von Lias Rücken. Die Stute war Gott sei Dank unverletzt.

„Das war eine schöne Muskelübung würde ich sagen“, rief Dennit und die Männer lachten. Verwirrt blickte Jessy sie sich um. Warum lachten sie denn? Hatten sie etwa nicht gerade einen Albtraum erlebt?

„Ist jemand verletzt?“ brüllte Rheys und stiefelte mit noch immer erhobener Klinge durch die Reihen. Vor Jessy blieb er stehen. Sie blinzelte ehe sie ihn richtig erkennen konnte.

„Bist du verletzt?“ fragte er deutlicher und musterte sie prüfend. Sie konnte nur schwach den Kopf schütteln.

„Hilfe, ich brauche Hilfe!“

Erschrocken schaute sie zum Wagen. Albin hockte neben seinem getöteten Monster zwischen den Kisten und Fässern. Jessy lies ihr Pferd einfach stehen und eilte hinüber.

„Albin, geht es dir gut?“ fragte sie aufgeregt.

„Ich weiß nicht, ich glaube sie atmet noch. Aber sie ist ganz weiß!“ antwortete Albin.

Verwirrt schaute Jessy über den hölzernen Rand in den Wagen. Dort lag ein Mädchen, zusammengekugelt wie ein Embryo und offenbar ohnmächtig.

„Große Mutter, das ist die Prinzessin!“ rief Bosco.

Nun wurden die Männer schlagartig ernst. Amileehna wurde wie ein rohes Ei herausgehoben und auf eine Decke gelegt. Tychon kniete neben ihr im Matsch des Weges und bettete ihren Kopf auf seinen Schoß.

„Ami, wach bitte auf. Kannst du mich hören?“ Seine Stimme klang hilflos und kindlich, beinahe tränenerstickt. „Bitte, sag doch was. Große Mutter, steh uns bei!“

„Sie scheint keine Verletzungen zu haben, Herr. Wahrscheinlich ist sie nur bewusstlos.“

Jemand reichte eine Wasserflasche und Tychon hielt sie behutsam an die Lippen seiner regungslosen Schwester. Tatsächlich war sie weiß wie ein Laken.

„Warum ist sie hier? Hast du davon gewusst?“ fragte Rheys an Tychon gewandt. Scheinbar vergaß er in Situationen großer Aufregung, dass er seinen Dienstherrn anders ansprechen musste.

„Ich weiß es nicht. Sie bettelte darum, mitreisen zu dürfen, aber ich habe es verboten. Sie muss sich heimlich eingeschmuggelt haben.“

Jessy schaute hinüber zu Albin. Er stand aufrecht und sein Gesicht war voller Sorge. Jetzt wurde ihr einiges klar. Die Blicke zum Wagen während des Reitens und die tapfere Verteidigung des Proviants – er hatte gewusst, dass sie dort drinnen war.

„Verdammt“, murmelte Rheys.

Mittlerweile hatte sich die Luft abgekühlt und in ihren nassen Kleidern würden sie bald frieren. Hinzu kam, dass es immer dunkler wurde.

„Baut die Zelte auf, so schnell es geht. Die verwundeten Tiere sammeln und den Proviant abdecken. Sofort!“ brüllte er dann.

Jessys Ohren dröhnten und ihre Knie gaben nach. Sie setzte sich in den Schlamm und wartete, bis das Zittern ihrer Finger nachließ.

Obwohl Jessy nicht verstehen konnte, was Tychon sagte, ließ der zornige Klang seiner Stimme keinen Zweifel daran, dass er seine Schwester gehörig ausschimpfte. Nachdem Amileehna aus ihrer Ohnmacht aufgewacht war und feststellte, dass man sie entdeckt hatte, fiel sie beinahe wieder um. Dann brach sie in Tränen aus und wurde schließlich in ein gerade errichtetes Zelt gebracht, um sich wieder zu fassen. Und sich die Strafpredigt ihres Bruders anzuhören.

Jessy saß nah am Feuer. Es war dunkel und sie hatte sich komplett in ihre Decke gewickelt. Auch mit trockenen Kleidern wurde ihr einfach nicht richtig warm. Deshalb pfiff sie auf Rheys‘ Verbot und wärmte sich an den hell lodernden Flammen. Aber an diesem Abend gab es ohnehin keine gemütliche Runde. Alle waren schockiert vom plötzlichen Erscheinen der Prinzessin. Niemand hatte etwas von dem blinden Passagier bemerkt. Jessy sah mit leiser Genugtuung die bedrückten Gesichter der Gardisten, die hier schändlich versagt hatten. Und sie selbst fand es kaum überraschend, Amileehna hier zu sehen. Sie hatte sich in der Burg so hysterisch benommen, solche Dummheiten waren ihr durchaus zuzutrauen. Viel mehr beschäftigte es Jessy, dass sie beinahe zerfleischt worden wäre – und dass niemanden sonst das irgendwie zu erschrecken schien.

Die Gardisten machten ihre Schwerter sauber, legten sich Verbände auf ihre kleinen Wunden und schleiften die Kadaver von der Straße. Doch der Geruch des frischen Blutes ließ sich nicht so einfach aus Jessys Nase entfernen. Sie hatte noch nie so ein Schlachten gesehen und war entsetzt über die rohe Gewalt, die sie nur aus dem Fernsehen kannte. Natürlich, sie mussten sich verteidigen. Aber dies war eine ganz andere Sache als mit einer Flinte auf ein herannahendes Tier zu schießen. Und den Männern schien es auch noch Vergnügen zu bereiten. Immer wieder tauchte Boscos blutbespritztes Gesicht, das wie eine teuflische Fratze verzerrt war, vor ihren Augen auf und ließ sie schaudern. Und sogar Albin!

Sie raffte sich auf und setzte sich zu ihm hinüber. Er sah schuldbewusst aus und trotzdem ging immer noch dieses Strahlen von ihm aus. Natürlich, er hatte seine Angebetete gerettet. Er musste dieses Mädchen wirklich sehr lieben, wenn er in der Lage war, für sie dermaßen über sich hinaus zu wachsen.

„Alles in Ordnung?“ fragte sie. Albin schaute auf. Er lauschte offensichtlich genau darauf, was in dem Zelt gesprochen wurde. Ab und zu hörte man Amileehnas Wimmern und Schluchzen. Es klang wirklich bemitleidenswert.

„Du wusstest also, dass sie im Wagen war? Wie hat sie das nur gemacht?“ fragte Jessy. „Wir haben doch ständig etwas herausgeholt.“

„Sie ist im Schutz des Waldes nebenher gelaufen“, antwortete Albin. „Manchmal fuhr sie ein kleines Stück mit und dann sprang sie wieder ab.“

„Die ganze Zeit? Das ist wirklich tapfer.“

„Und letzte Nacht ging ich zum Wagen, na ja, … ich hatte eben Hunger. Und dann fand ich sie und sie bettelte mich an, sie nicht zu verraten.“

„Sie hatte ziemliches Glück, dass du sie gefunden hast und wusstest, dass sie im Wagen war. Diese Viecher hätten sie sonst umgebracht.“

Albin nickte nur schweigend, doch sein Gesicht leuchtete noch ein wenig mehr.

„Das war unheimlich mutig von dir“, fügte Jessy hinzu.

Er zuckte die Schultern. Mit Lob konnte er offenbar nicht umgehen.

„Unglaublich, dass die wunderbaren Wölfe gar nichts davon gemerkt haben“, sagte sie schnippisch.

„Ja, ich glaube Rheys ist stocksauer“, antwortete er. „Aber der Prinz wird es ihm nicht übel nehmen. Er ist nur froh, dass die Prinzessin am Leben ist.“

„Was waren das überhaupt für Ungeheuer?“

„Felsenbären. Sie kommen ziemlich häufig in dieser Gegend vor.“

„Du meist, sie werden uns nochmal angreifen?“ fragte Jessy panisch.

Bevor Albin antworten konnte, stürmte der Prinz mit hochrotem Gesicht aus dem Zelt heraus.

„Rheys!“ bellte er ungewohnt herrisch. „Auf ein Wort.“

Rheys war sofort bei ihm und die beiden Männer entfernten sich vom Lager. Aus der Ferne beobachteten die anderen, wie sie eine heftige Diskussion führten, während der Rheys immer wieder den Kopf schüttelte.

Fabesto kam zu Albin und Jessy und baute sich vor ihnen auf.

„Der Prinz macht niemals jemandem Vorwürfe“, begann er mit erhobenem Zeigefinger, „aber es muss gesagt werden. Es war unverantwortlich von dir, uns nicht zu informieren. Du hattest pures Glück, dass du sie heute retten konntest. Tausend andere Dinge hätten ihr zustoßen können! War dir das nicht klar?“

Jessy spürte, wie Albins neu erwachtes Selbstvertrauen aus ihm entwich wie aus einem angepieksten Luftballon. Er sank förmlich in sich zusammen unter dem strengen Blick des Mannes mit den buschigen Augenbrauen.

„Ihr habt Recht“, murmelte Albin. „Es war dumm von mir.“

Nein, war es nicht! Warum stand er nicht dazu, dass er nur aus Loyalität zur Prinzessin so gehandelt hatte? Königstreue wurde hier doch so groß geschrieben. Aber sie mischte sich nicht ein. Sie wollte Fabestos Ärger nicht auch noch auf sich ziehen.

„Wenn du Kronrat bist, solltest du überlegter handeln“, fuhr Fabesto fort. „Und alle Seiten bedenken. Aber du bist jung, du wirst es schon noch lernen.“

Albin nickte niedergeschlagen. Tychon und Rheys kamen zurück, der Prinz mit schnellem Schritt, Rheys einen Meter dahinter. Sein Gesicht war wie versteinert und er baute sich, die Arme vor der Brust verschränkt, vor dem Zelt auf, in dem der Prinz wieder verschwunden war. Einen Moment später kam Tychon wieder heraus.

„Hört her“, rief er. Sofort scharten sich alle, die in der letzten halben Stunde sowieso nur beobachtet hatten, was er tat, um ihren Prinzen.

„Ich habe entschieden, dass die Prinzessin uns bis Limesta begleiten wird“, verkündete er.

„Aber Herr…“, begann Fabesto, doch Tychon schnitt ihm mit einer Geste das Wort ab.

„Ich weiß, es ist gefährlich, aber ich habe mich mit Rheys beraten. Wir sollten unseren Tross jetzt nicht verkleinern, wo offenbar Felsenbären unterwegs sind. Und in Limesta können wir eine Gruppe Wachen abstellen, die die Prinzessin unter höchsten Sicherheitsvorkehrungen zurück bringen wird.“

Niemand erhob Einspruch. Jessy verkniff sich ein Grinsen. Sie hatte es also geschafft und ihn weich geklopft. Was für ein geschicktes Mädchen. So kam sie doch noch zu ihrem Abenteuer. Wenn es auch nur ein kleines war.

„Ich möchte, dass zwei Männer ununterbrochen auf sie achten. Und darüber hinaus möchte ich Jessy bitten, sich ihrer anzunehmen.“

Die Männer schnappten nach Luft, starrten erst ihren offenbar verrückt gewordenen Prinzen und dann Jessy an, die nicht weniger überrascht war. Sicher, sie hätte für diesen Vertrauensbeweis dankbar sein sollen, der ihre Position schlagartig verbesserte. Aber war sie in der Lage sich um dieses störrische Mädchen zu kümmern? Gerade jetzt, wo diese Reise immer unerträglicher zu werden schien?

Tychon wandte sich ihr zu.

„Meine Schwester ist ein Kind, sie benötigt Aufsicht und du bist die einzige Frau hier. Sebel wird sich um euch beide kümmern. Amileehna hat mir versprochen, gehorsam zu sein und keine Scherereien mehr zu machen. Ich weiß, ich kann mich auf deine Hilfe verlassen.“

Jessy wollte am liebsten im Erdboden versinken. Noch gestern Abend hatte sie ihn schmählich angelogen und jetzt vertraute er ihr seine Schwester an.

Sie nickte schweigend. Tychon rieb sich erschöpft die Stirn und sah plötzlich aus wie der junge Mann, der er eigentlich war.

„Benoas, ich denke, wir benötigen alle einen Schluck Bier“, sagte er dann und setzte sich ans Feuer in den Kreis der Wölfe.

Rheys hatte offenbar nichts von dem Plan gewusst, Jessy als Amme für die Prinzessin einzusetzen. Er warf ihr einen bedrohlichen Blick zu und um diesem schnellstmöglich zu entgehen, flüchtete Jessy in das Zelt. Sebel folgte ihr.

Drinnen saß Amileehna, bis zum Kinn in eine Decke gewickelt. Ihr Gesicht war verquollen und ihre Nase rot. Aber ihre Augen strahlten.

„Wie schön, dich wieder zu sehen“, sagte sie und lächelte Jessy voller Freude an. Sie war drei Tage neben dem Wagen hergelaufen und beinahe von einem Felsenbären getötet worden. Jessy konnte nicht umhin, das Mädchen zu bewundern.

„Na gut“, sagte sie. „Fangen wir mit dem einfachsten an. Hast du Hunger?“

Land der Wölfe

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