Читать книгу Land der Wölfe - Julia Adamek - Страница 8
Kapitel
ОглавлениеDer Wald verdichtete sich um sie her, wurde dunkler und Jessy kam sich mehr und mehr vor wie inmitten eines Märchenfilms. Die Natur war so unberührt, die Ruhe, nur leicht gestört von dem Trappeln der Pferdehufe, beinahe vollkommen. Die Sonne schien warm, gemildert durch den Regen vor zwei Tagen und es gab keine Spuren mehr von angriffslustigen Felsenbären.
Doch Jessy hatte kein Auge für die Schönheit um sie herum. Mit jeder Stunde verstrickte sie sich mehr in ihren Ärger über ihre Situation. Tychons wohl gemeinter Vermittlungsversuch zwischen ihr und den misstrauischen Gefährten hatte überhaupt nichts gebracht. Obwohl Jessy als Tychons Vertraute die Verantwortung für seine Schwester trug, misstrauten ihr die anderen nun scheinbar umso mehr. Wahrscheinlich vermuteten sie, dass sie den Prinzen verhext oder irgendwie anders in ihren Bann geschlagen hatte. Jessy fühlte sich gemieden und beobachtet. Außer Bosco und Albin sprach niemand mit ihr.
Und natürlich Amileehna. Die Prinzessin genoss ihre Freiheit in vollen Zügen, hatte ihre Strapazen nach einer Nacht im Zelt bereits völlig vergessen und plapperte ohne Unterlass. Sebel fuhr jetzt im Proviantwagen mit und hatte ihr das Pferd überlassen. Jessy hatte man den begehrten Sitzplatz gar nicht erst angeboten. Aber eigentlich wollte sie ihn auch gar nicht mehr. Sie fühlte sich wohl, auf Lia zu reiten und in ihrem Geist formte sich ein vages Bild von wilder Flucht mit dem treuen Pferd. Amileehna wurde streng bewacht von Kaj und Wiar, die nicht von ihrer Seite wichen und Wiar hatte mittlerweile begonnen, sie mit wilden Geschichten aus dem Soldatenlager und aus dem Krieg zu unterhalten. Jessy nahm am Rande wahr, dass die Prinzessin geradezu hingerissen von der Aufmerksamkeit ihres Bewachers war. Sollte sie dazwischen gehen? Eigentlich wollte sie mit Wiar so wenig wie möglich zu tun haben. Aber hatte sie nicht die Aufgabe übernommen, Amileehna zu behüten?
Naja, bisher machte er keine Anstalten, ihr zu nahe zu treten. Also konnte Jessy sich auf ihre eigenen Probleme konzentrieren und es genießen, dass das Mädchen einen anderen Gesprächspartner gefunden hatte. Seine Abenteuer waren genau das, was sie hören wollte, voller Gefahr und Blutrünstigkeit. Amileehna lauschte mit verzücktem Lächeln.
Jessy bewegte ihre steifen Fingergelenke, die nach vielen Stunden vom Halten der Zügel vernehmlich knackten. Dann drückte sie ihren Arm fest gegen die Rippen und spürte mit Genugtuung die deutliche Ausbuchtung unter ihrem Wams. Es war noch immer da. Ein Schauder der Erregung durchrieselte sie. Wenn sie nur endlich einen Moment finden würde, um es sich in Ruhe anzusehen…
Sie hörte kräftigen Hufschlag und schaute auf. Hoffentlich hatte niemand ihre verräterische Geste bemerkt. Was sie gefunden hatte, musste ihr Geheimnis bleiben.
Tychon hatte seine Position an der Spitze des Trosses verlassen und reihte sich vor Jessy ein. Er sah aus wie ein strahlender Ritter, trug einfache Reitkleidung und bis auf seinen goldenen Siegelring verriet nichts, dass er der Thronfolger war. Das kostbare Schwert, das an seinem Gürtel hing, steckte in einer unauffälligen Scheide.
„Ich hatte eben eine angeregte Diskussion mit Morian“, sagte der Prinz gut gelaunt. „Über die Magier im Südland. Er behauptet, ihr Einfluss sei mit den Jahren noch gewachsen. Sketeph, was weißt du darüber?“
Der Magier lächelte Tychon freundlich zu.
„Darin muss ich dem Herrn Morian Recht geben. Wie Ihr wisst, ist die Magie im Südland fest verankert, sie prägt den Alltag der Menschen und ist beinahe wie ein allgemein erhältliches Gut. Wer es sich leisten kann, erwirbt die Dienste eines Magiers ganz offen. Und die Südland-Gilde ist durch diesen Handel nicht nur reich sondern auch sehr mächtig geworden. Neben den Kaufherren sind die Magier des Fürsten engste Berater und ihnen wird höchster Respekt entgegen gebracht.“
Falls er bei diesen Worten Genugtuung empfand, war es Sketeph nicht anzuhören.
„Aber ist es nicht sehr gefährlich, die Magie so völlig ohne Einschränkungen zu dulden?“ fragte Albin, der es für einen Moment geschafft hatte, sein Pferd unter Kontrolle zu halten und sich am Gespräch zu beteiligen.
„Wir sprechen von einer anderen Art der Magie, mein junger Freund, als die der Westland-Gilde. Im Südland wird die Magie seit Jahrhunderten erforscht und weiterentwickelt. Je kunstvoller ein Zauber ist, desto mehr begeistert er die Südländer. Ein simples Ungeheuer heraufzubeschwören, dazu würde sich kein Südlandmagier herablassen. Aber auch meine Informationen sind nur aus zweiter Hand. Wir werden es sehen, ob die Geschichten wahr sind und ob es möglich ist, mit einem Fingerzeig Gebäude entstehen und wieder verschwinden zu lassen.“
Er lächelte immer noch. „Magie“, fügte er hinzu, „ist so viel größer und vielschichtiger, als mancher glauben mag. Richtig eingesetzt kann sie für die Menschen das Paradies erschaffen.“
Jessy konnte Sketephs Gesicht nicht sehen, aber er schien durch und durch überzeugt von dieser Aussage. Tychon schwieg eine Weile.
„Es wäre schön, wenn wir einige Mitglieder des Kronrates bei Zeiten davon überzeugen könnten“, sagte der Prinz dann. Fabesto befand sich glücklicherweise außer Hörweite. Bestimmt hätte er Tychon sofort für solche Gedanken gerügt. „Auch ich bin der Meinung, dass ein striktes Verbot von Magie nicht die beste Lösung ist. Sie kann auch Gutes bewirken, das wissen wir aus vielen Quellen. Ich hoffe, dass wir eines Tages davon profitieren können – alle Westländer.“
„Ich fürchte, bis dahin ist es noch ein langer Weg, Herr“, antwortete Sketeph.
Jessy hatte das Gespräch zwar mit angehört, verbot sich aber jede Neugier auf dieses fabelhafte Südland. Mit ein bisschen Glück würde das alles bald ein Ende haben.
Bei Sonnenuntergang schlugen sie auf einer friedlichen Lichtung ein Lager auf. Jessy suchte sofort die Umgebung ab. Die Bäume standen dicht, ihre Äste hingen tief und boten Schutz für jemanden, der sich unentdeckt entfernen wollte. Sie musste nur warten.
Angespannt ertrug sie das Abendessen in ihrem Zelt mit Amileehna und Sebel. Die Zofe war vor lauter Ehrerbietung für die Prinzessin ganz still geworden und das nahm Jessy ihr übel, obwohl Amileehna gar nichts dafür konnte. Sie schien Sebel überhaupt nicht wahrzunehmen.
„Was für ein Glück die Wölfe haben. Sie haben die beste Ausbildung genossen, schon von Kindesbeinen an“, schwärmte Amileehna nun. Sie saß auf ihrer Pritsche und hatte die Beine untergeschlagen. Wie Jessy trug sie Hosen und ein Hemd, darüber ein Wams. Ihr langes weißblondes Haar war zu einem Zopf geflochten, der über den Rücken hing. Ihre Wangen waren von der Sonne gerötet und ihre Augen glänzten. Sie war wirklich außer sich vor Glück. Und wie bei Tychon fiel es Jessy schwer, keine Sympathie für sie zu empfinden. Obwohl sie ihr schrecklich auf die Nerven ging.
„Als Tychon mich das Kämpfen gelehrt hat, mussten wir immer vorsichtig sein, damit niemand etwas bemerkt. Aber er sagte, ich wäre eine gute Schülerin. Bestimmt hätte ich mit einer richtigen Ausbildung noch viel mehr lernen können.“
„Tja, das werden wir wohl nie erfahren“, sagte Jessy trocken. „Oder glaubst du etwa, Tychon lässt dich mitkämpfen, wenn es Schwierigkeiten gibt?“
Sie hatte es sofort abgelehnt, Amileehna mit ihrem Titel anzusprechen. Immerhin war sie ein junges Mädchen und benahm sich nicht gerade königlich. Außerdem legte sie wohl auch keinen besonderen Wert darauf. Nun leuchteten ihre Augen noch ein wenig mehr auf.
„Wer weiß“, sagte sie leise. „In einem Scharmützel fällt es vielleicht niemandem auf. Und ich bin vorbereitet.“
Sie schlug ihre Decke zurück und zum Vorschein kam ein kleines schlankes Schwert, das wie ein Juwel im Schein der Feuerschale blinkte.
„Tychon hat es mir geschenkt. Sicher wollte er, dass ich es irgendwann auch benutze“, sagte sie stolz.
„Bestimmt nicht, wenn du wirklich in Gefahr bist. Überlass das lieber den Wölfen. Und lass dieses Ding bloß niemanden sehen. Rheys wird es sofort in seiner Satteltasche verpacken.“
Amileehna schob trotzig den Unterkiefer vor. „Es ist mein Schwert und ich bin die Prinzessin. Sie können es mir nicht wegnehmen.“
Jessy seufzte. „Wie auch immer. Ich schlafe jetzt, es ist spät.“
Sie wickelte sich in ihre Decke und drehte sich mit dem Gesicht zur Wand. Wenig später hatte sich auch Amileehna hingelegt. Sebel schlief auf dem Boden. Jessy hatte angeboten, sich mit ihr auf der Liege abzuwechseln, doch die Zofe wies das strickt von sich.
„Wiar ist ein wahrer Held, nicht?“ sagte Amileehna nach einer Weile leise. „So tapfer.“
Jessy antwortete zuerst nicht. Sie ahnte, dass die Hälfte von Wiars Geschichten frei erfunden oder zumindest sehr fantasievoll ausgeschmückt war. Aber warum dem Mädchen seine Schwärmerei verderben?
„Ja, ein wahrer Edelmann“, murmelte sie und dachte düster an seine Annäherungsversuche.
„Und auch gutaussehend“, sagt Amileehna mit leisem Zittern in der Stimme.
Auch das noch… Doch Jessy konnte es nicht leugnen, Wiar sah gut aus, war braun gebrannt und hatte einen lässigen Charme wie ein Surfer.
„Er ist viel zu alt für dich“, sagte sie streng.
„Ich weiß.“ Amileehna klang nicht, als ob ihr das irgendetwas ausmachen würde. Nach einer Weile murmelte sie ein „Gute Nacht“ und verstummte dann.
Jessy lag wach. Draußen ertönte das übliche Tratschen der Männer am Feuer, das sie so anziehend fand und an dem sie gern teilhaben wollte. Aber sie war sicher nicht willkommen und wollte sich von Rheys nicht noch einmal zusammen stauchen lassen.
Also wartete sie mit weit geöffneten Augen bis es draußen ruhig wurde, nickte immer wieder kurz ein und fuhr dann wieder hoch. Sie wartete auf das Morgengrauen und wurde tatsächlich wach, als draußen noch alles still war und das erste zaghafte Licht im Zelt Umrisse erkennen ließ. Ihr Herz pochte wie wild. Leise zog sie sich an und schlich hinaus.
Das Feuer war herunter gebrannt, die Männer lagen verstreut im Gras und schliefen. Die Hunde hoben die Köpfe, ließen sie aber wieder sinken, als sie Jessy erkannten. Sie wartete angespannt im Schatten der Zeltplane auf den Wachposten, der gleich vorbei kommen würde und als seine Schritte sich entfernten, schlich sie in Richtung des Waldes.
Es war sehr still. Nebelschwaden hingen zwischen den Stämmen und die Luft war kühl und feucht. Noch regte sich nichts im Wald und Jessy ging weiter bis sie eine kleine Lichtung erreichte. Sie schaute sich um, doch nirgends waren Türen oder etwas anderes verdächtiges zu sehen. Vielleicht schliefen die Waldgeister ja auch noch. Und aus dem Lager hatte sie niemand verfolgt.
Mit zitternden Fingern fasste sie unter ihr Wams und zog ihr teures Gut hervor. Es war ein Handy, ein kleines älteres Modell zum Aufklappen. Sie hatte es gefunden, als sie sich ins Gebüsch schlug, um sich zu erleichtern. Was für ein Zufall, was für ein Wunder, dass ausgerechnet sie es dort hatte liegen sehen. Und bis jetzt hatte sie es versteckt, hatte sofort entschieden, dass sie den Fund für sich behalten würde.
Seit sie das Handy hatte waren ihre Sehnsucht nach Zuhause und ihr unbändiger Wunsch, all dem hier zu entkommen ins Unermessliche angewachsen. Dies war womöglich ihre große Chance. Beinahe ehrfürchtig klappte sie es auf und presste ihren Daumen lange auf die Einschalttaste.
„Bitte, bitte, bitte“, flüsterte sie zwischen zusammengebissenen Zähnen. Ihr ganzer Körper bebte vor Aufregung. Da erschien das Startmenü auf dem Bildschirm. Vor Erleichterung traten Jessy Tränen in die Augen, als sie die vertrauen Symbole sah. Doch der Balken, der den Empfang anzeigte, war durchsichtig. Natürlich, kein Netz in dieser Einöde. Aber vielleicht kamen sie irgendwann auf einen Berg. Es musste einfach klappen. Ein winziger Teil von ihr wusste, dass es unmöglich war, von hier aus jemanden mit einem Handy zu erreichen. Aber sie wollte daran glauben, sie musste es einfach versuchen.
Da öffnete sich ein blaues Fenster auf dem Bildschirm. „Akkustand extrem niedrig. Schließen Sie das Ladegerät an.“
„Nein, bitte nicht“, flehte Jessy, doch da ging das kostbare Gerät auch schon aus. Minutenlang drückte sie den Daumen auf die Tastatur, aber es sprang nicht wieder an. Ein schmerzhaftes Schluchzen drang aus ihrer Kehle und sie hätte das Handy am liebsten gegen den nächsten Baum geschleudert. All ihre Hoffnung, alles, was sie in den letzten Tagen bei der Stange gehalten hatte, war dahin.
Sie musste an ein Ladegerät kommen. Aber was nützte das schon, ohne eine Steckdose. Sketephs Worte fielen ihr wieder ein. Magie… Vielleicht konnten Magier so etwas wie Elektrizität erzeugen… Sollte sie Sketeph danach fragen? Oder riskierte sie damit nur, sich noch verdächtiger zu machen?
„Wirf es ins Gras“, ertönte plötzlich eine harsche Stimme in ihrem Rücken. Jessy erstarrte. Im selben Augenblick griff jemand nach ihrer freien Hand und drehte sie auf den Rücken. Eine eiskalte Klinge drückte sich gegen ihren Hals, direkt unter dem Kiefer.
„Los jetzt, was auch immer du da hast. Wirf es hin.“
Es war Rheys und seine Worte duldeten keinen Widerspruch. Jessy ließ das Handy fallen. Wie hatte er sich so leise anpirschen können? Aber sie war völlig in Gedanken gewesen.
„Es ist nichts“, sagte sie. Ihre Stimme klang erstickt, wenn sie ein falsches Wort sagte, würde das Messer zustechen, dessen war sie sich sicher. „Ich habe es gefunden. Ich wollte es zu Tychon bringen.“
„Spar dir den Unsinn“, zischte er. „Ich weiß, dass du es seit Tagen hast.“
Jessy spürte den harten Brustharnisch, der sich gegen ihren Rücken drückte. Der verdrehte Arm und das Messer an ihrer Kehle verhinderten jede Bewegung.
„Was willst du damit?“
„Es ist nichts Schlimmes. Man kann damit über weite Entfernungen sprechen.“
„Also versuchst du Kontakt herzustellen. Zu den Magiern? Rede, oder das hier nimmt kein schönes Ende.“
„Nein, verdammt, ich wollte doch nur mit meiner Familie reden!“
Sie war so zornig, dass ihr Gesicht abwechselnd heiß und kalt wurde.
„Lass mich gefälligst los und bring mich zu Tychon. Ich kläre das nur mit ihm!“
„Warum vertraut er dir?“ Rheys‘ Stimme war leise und dadurch noch bedrohlicher als ein Brüllen.
„Weil er nett ist und nicht so ein paranoider Idiot wie du! Weil er Verstand hat, genauso wie dein Freund Bosco. Keine Ahnung, warum sie sich mit dir abgeben.“
Sie wusste nicht, warum sie so mutig war, ihm diese Dinge zu sagen. Immerhin konnte er sie mit einer einzigen Bewegung töten. Aber ihre Verzweiflung siegte über die Vernunft.
„Warum sollte ich dir nur ein Wort glauben? Du hast das hier geheim gehalten!“ Er verstärkte den Druck der Klinge. Jessy würgte und wollte ausweichen, doch er stand dicht hinter ihr und gab keinen Zentimeter nach.
„Ihr hättet es mir sofort weggenommen. Ich…“ Plötzlich gingen ihr ganz unvermittelt die Worte aus.
„Ich will doch einfach nur nach Hause.“
Es war, als würde ein Damm in ihr brechen, den sie mühevoll aufrecht erhalten hatte. Alles stürzte über ihr zusammen, die ganze Absurdität ihrer Lage, all die Gefahr, das Misstrauen, die Anstrengung – Jessy konnte nichts von dem eine Sekunde länger ertragen.
Stumme Tränen liefen aus ihren Augen und über ihr Gesicht. Sie schluchzte nicht, ihr Körper war wie versteinert in Rheys‘ fester Umklammerung. Aber es war unmöglich, das Weinen zu verhindern.
Sie spürte, dass der Mann hinter ihr sich regte, sich anspannte und dann nach einem langen Augenblick die Luft zwischen den Zähnen entweichen ließ. Mit einem Schubs ließ er sie los und Jessy stolperte ein paar Schritte. Sofort begann sie, sich mit fahrigen Bewegungen die Tränen abzuwischen, aber es wollte nichts nützen. Sie strömten immer weiter.
Rheys hielt noch immer seinen Dolch gezückt, aber jetzt wirkte er ein wenig verunsichert. Konnte eine heulende Frau wirklich so eine starke Wirkung auf ihn haben? War das nicht weit unter seiner Würde?
„Die Reise ist nicht besonders komfortabel, das ist mir schon klar…“, begann er.
Jessy starrte ihn an. Sein Gesicht sah blass und kantig aus im Licht des Morgens und mit dem schwarzen Bartschatten auf den Wangen.
„Du denkst, ich heule, weil es mir zu anstrengend ist?“ rief sie schrill. „Dann sage ich dir mal was, ich heule, weil dieser ganze Mist mir den letzten Nerv raubt! Mir ist dieses Land scheißegal und euer König und eure Kriege und eure Magie und der ganze Blödsinn! Ich habe keine Lust mehr darauf, dass mich ständig jemand angreift, packt, einsperrt, anschreit oder mir irgendwelche dämlichen Dinge vorwirft, von denen ich noch nie etwas gehört habe! Ich will nur einen Weg finden um diese verdammte mittelalterliche Einöde zu verlassen und diese Scheiße schnellstmöglich vergessen!“
Rheys verzog keine Miene. Dann, während Jessy nach ihrem Ausbruch noch Atem holte, steckte er seinen Dolch ein.
„Du fluchst ziemlich viel für eine Frau“, sagte er trocken.
„Und du hast scheinbar nicht besonders viel Ahnung von Frauen.“
„Das mag wohl sein. Bisher habe ich es geschafft, hysterischen Weibern aus dem Weg zu gehen.“
Jessy musste plötzlich lächeln und schüttelte den Kopf. „Hysterisch, hm? Ja, das bin ich wohl.“
Erschöpft ließ sie sich ins Gras sinken. Die Tränen waren Gott sei Dank versiegt, aber sie merkte, dass ihre Kehle immer noch gefährlich eng war. Rheys bückte sich und hob das Handy auf, schaute es einen Moment an und steckte es ein.
„Ich werde das Tychon übergeben. Wie du es gleich hättest tun sollen.“
„Mit egal. Es funktioniert sowieso nicht.“
„Dieses eine Mal werde ich vergessen, was du getan hast“, sagte Rheys und schaute sie eindringlich an. Waren seine Augen blau oder grün? Es war unmöglich festzustellen. „Aber du schuldest dem Prinzen einiges, denn er riskiert viel für dich. Wenn du ihn hintergehst, werde ich es wissen.“
Zum ersten Mal spürte Jessy, dass es nicht blinde Aggression war, die ihn trieb, sondern seine tiefe Überzeugung, die ihn nur in die eine Richtung blicken ließ. Er war loyal bis ins Mark.
Sie nickte stumm. Inzwischen fielen die ersten Sonnenstrahlen durch den grünen Schirm, den die dichten Äste über dem Waldboden aufspannten. Die Vögel begannen zu singen. Ihr Ausflug in die Welt der Wunschträume war beendet, sie musste sich wieder der Realität stellen. Keine Telefone, keine Heimkehr. Zumindest nicht jetzt.
Zu Schreien und zu Weinen hatte sie erleichtert. Als sie sich aufrappelte, machte Rheys keine Anstalten, ihr zu helfen. Ritterlichkeit war offenbar keine Grunddisziplin der Garde.
„Da wäre noch eine Sache“, sagte er, als Jessy sich schon abgewandt hatte.
„Wäre es wohl möglich, die Prinzessin zumindest für ein paar Stunden am Tag zum Schweigen zu bringen?“
Jessy grinste. Also steckte doch ein Fünkchen Menschlichkeit in ihm.
Nachdem sie das Handy bei Tychon abgeliefert hatten, fühlte sie sich seltsamerweise erleichtert. Rheys hielt sein Versprechen und verschwieg seinem Herrn, dass Jessy das Ding zu benutzen versucht hatte, um ihre Leute zu kontaktieren. Sie wusste nicht, was sie von diesem plötzlichen Vertrauensbeweis halten sollte. Womöglich stellte er ihr nur eine Falle?
Tychon jedenfalls nahm das neu erschienene fremde Ding voller Interesse in seine Sammlung auf und hörte sich genau ihre Erklärungen dazu an. Jessy fühlte sich nicht in der Lage Details über das Mobilfunknetz zu erklären. Ihre Zuhörer waren von den mysteriösen Drähten, die in ihrem Land verlegt waren und durch die man über weite Entfernungen sprechen konnte fasziniert genug. Besonders Amileehna konnte gar nicht genug erfahren.
Die Prinzessin hatte keine Ahnung von den Vorkommnissen, die ihr Land bedrohten. Entweder hatte man ihre zarten Nerven schonen wollen und ihr nichts gesagt oder sie hatte sich einfach nicht dafür interessiert. Jedenfalls lauschte sie gebannt allem, was darüber gesprochen wurde. Den ganzen Vormittag über befragte sie Jessy über ihre Herkunft und wollte alles genau wissen. Ohne Scheu und ohne den geringsten Verdacht, dass Jessy irgendeine Gefahr für sie darstellen könnte. Jessy gab bereitwillig Antwort, versuchte aber, nicht zu viel preis zu geben. Ihr war wohl bewusst, dass alle, die mit ihnen ritten genau zuhörten.
Amileehna interessierte sich weniger für technische Errungenschaften sondern viel mehr für gesellschaftliche – besonders die Rechte junger Mädchen und Frauen. Womöglich spielte sie mit dem Gedanken, zusammen mit Jessy in diese wunderbare Welt zu fliehen, in der man tun konnte, was man wollte und Frauen selbst über ihr Leben entscheiden durften. Jessy wollte dem Mädchen keine Flöhe ins Ohr setzen, aber sie fand es auch nicht richtig, andere Menschen derart in vorgegebene Rollen zu drängen, wie es hier der Fall war. Die einen mussten Kronräte werden, die anderen gehorsame Ehefrauen und jeder junge Mann am besten ein herausragender Krieger. Und erstaunlicherweise schienen die sich damit bereitwillig abzufinden.
„Du willst also sagen, auch Frauen tragen Waffen und regieren Reiche?“ fragte Dennit, der das alles höchst merkwürdig fand. Seine verwirrte Miene ließ Jessy schmunzeln. Es gefiel ihr, dass er niemals eine Gefühlsregung verbarg. Wenigstens einer, dem man blind vertrauen konnte.
„Ganz genau“, antwortete sie. „Und sie machen es genauso gut wie Männer.“
Bosco lachte dröhnend. „Sag das nicht zu laut, Kleine. Sowas hört man hier bei uns nicht gern. Frauen auf dem Thron? Das hat es noch nie gegeben.“
„Aber es könnte passieren“, sagte plötzlich Albin mit leiser Stimme. Als er merkte, dass man ihm zuhörte, räusperte er sich kurz. „Ich meine, das westländische Thronfolgegesetz schließt Frauen nicht aus. Bisher hat es nur noch keine allein herrschende Königin gegeben. Sie wurde meistens durch ihren Ehemann vertreten oder trat in den Hintergrund, um einen angeleiteten Kindkönig an die Macht zu lassen. Aber im Grunde ist es nicht unmöglich, dass irgendwann eine Königin das Land regiert.“
„Und dann? Müssten die Wölfe auch durch Weiber ersetzt werden?“ fragte Bosco mit leisem Spott.
„Ich glaube nicht“, antwortete Albin ernst. „Die Wölfe sind eine Institution, die noch tiefer verankert ist, als jedes Landesgesetz. Niemand wird ihren Platz jemals anzweifeln. Euer Kodex schließt Frauen grundsätzlich aus, nicht wahr? Daran kann sicher nicht gerüttelt werden.“
„Na, wenigstens etwas“, brummte Bosco.
„Warum nennt ihr euch eigentlich „Wölfe“? fragte Jessy, froh das Gespräch einmal von sich ablenken zu können.
„Es sind die Tugenden des Wolfes, die wir uns zu eigen machen“, sagte Dennit und trotz offensichtlichen Stolzes sagte er die Worte auf wie auswendig gelernt. „Er ist genügsam, tapfer, stark und klug. Und er ist seinem Rudel gegenüber absolut treu. Die Wölfe sind Brüder, die füreinander in den Tod gehen. Und sie ordnen sich ihrem Anführer bedingungslos unter. Das ist es, was eine gute Einheit ausmacht. Blindes Vertrauen.“
„Und gibt es denn Wölfe hier in diesem Wald? Ich meine, dann könnte ich mich auf den nächsten Angriff wilder Tiere schon mal vorbereiten.“
„Leider nicht“, antwortete Dennit düster. „Der Wolf ist in Westland beinahe ausgerottet worden – obwohl er unser Wappentier ist, haben die Menschen ihn viele Jahrzehnte lang gejagt und gefürchtet. Es soll an den nördlichen Grenzen noch welche geben. Aber sicher ist man sich nicht.“
„Nur die Hunde sind uns geblieben“, sagte Bosco und wies auf die beiden großen Tiere, die absolut folgsam und mit größter Ausdauer dem Tross folgten. „Sie sind Kreuzungen aus Wölfen und Haushunden und werden von der Garde seit Ewigkeiten gezüchtet. Sie sind ebensolche Krieger wie wir.“
„Das glaube ich“, sagte Jessy. Sie hatte gesehen, wie die Hunde sich bedingungslos in den Kampf gegen die Felsenbären gestürzt hatten. „Aber auch gefährlich, oder?“
„Nicht, wenn sie erzogen und unter Kontrolle sind“, antwortete Dennit schulterzuckend. „Du brauchst wirklich keine Angst zu haben.“
Im selben Moment schlug Raba an, ihr dumpfes grollendes Bellen klang wirklich wie das eines Wolfs. Die Hündin zerrte an ihrer Kette und der Tross kam zum Stehen. Jessy stellte sich in den Steigbügeln hin um über die Rücken der anderen hinweg zu schauen. Ein großer Reitertrupp näherte sich aus der entgegen gesetzten Richtung. Rheys gab einige grobe Anweisungen. Die Gardisten umstellten ihre Schützlinge innerhalb weniger Sekunden.
„Wer ist das?“ fragte Jessy neugierig. Seit sie die Eisenfaust verlassen hatten, waren sie noch keinem Menschen begegnet. Albin, der vom Rücken seines langbeinigen Pferdes bessere Sicht hatte, sagte:
„Das Wappen zeigt Eichen. Ich glaube, es ist Herr Efrem.“
„Ha!“ rief Bosco erfreut. „Das alte Weinfass. Was für ein glücklicher Zufall!“
Die Männer lösten sich aus ihrer Formation, Tychon stieg aus dem Sattel und er, Fabesto und Morian begrüßten den bekannten Mann mit herzlichem Händeschütteln.
„Efrem Egodion ist der Herr über die meisten Ländereien in dieser Gegend“, sagte Albin leise zu Jessy. „Er stammt aus einem alten und sehr wohlhabenden Adelsgeschlecht.“
„Und warum ist er dann nicht im Kronrat?“
Albin zuckte die Schultern. „Ich glaube, es gab vor sehr langer Zeit einmal einen Streit zwischen seiner Familie und dem Königshaus. Aber Herr Efrem ist bekannt dafür, dass ihm das Leben in der Eisenfaust ohnehin nicht liegt. Er kommt kaum jemals an den Hof, sondern bleibt hier auf dem Land, jagt, tafelt und genießt das Leben wie man hört.“
Der Mann um den es ging, war klein und wog sicher an die hundertfünfzig Kilo. Sein gewaltiger Wanst bebte, wenn er lachte und das tat er die ganze Zeit. Er hatte ein rotes Gesicht und einen riesigen Vollbart und klopfte allen umstehenden ständig auf den Rücken. Jessy fand ihn auf Anhieb sympathisch.
„Tychon, mein Junge“, sagte er gerade zum Prinzen. „Du bist ein Mann geworden, seit ich dich zuletzt sah. Dein Vater muss sehr stolz auf dich sein.“
Tychon erwiderte nichts. In diesem Moment trat Bosco in die Runde und die beiden Männer umarmten sich lachend.
„Herr Efrem legt keinen Wert auf Standesunterschiede. Er hat im Krieg an vorderster Front gekämpft und die Freundschaften, die dort geknüpft wurden, währen ewig, sagt man“, erklärte Albin weiter.
„Dieser junge Mann hier ist Albin Tabassum“, sagte Tychon nun und Albin rutschte ungeschickt aus dem Sattel und brauchte sogar noch einen Moment, um das Gleichgewicht zu finden. Sein Gesicht wurde hochrot.
„Er begleitet uns um sich auf seine Rolle als mein zukünftiger Berater vorzubereiten“, sagte Tychon. Albin hob den Blick nicht von seinen Stiefelspitzen, obwohl von diesem dicken Mann in einfacher Kleidung sicher keine Beleidigung zu erwarten war.
„Ioanns Junge“, sagte Efrem nun nachdenklich. „Ich hoffe, dein Vater ist wohl auf?“
„Es geht ihm sehr gut, Herr“, flüsterte Albin. Efrem nickte schweigend und musterte Albin noch einen langen Moment. Anscheinend zog er seine eigenen Schlüsse aus dem Anblick dieses Jungen, der wie in geprügelter Hund vor ihn trat.
„Ihr mögt zwar alle große Schwerter schleppen“, sagte er dann gutgelaunt, „aber scheinbar hat niemand euch Anstand beigebracht. Muss ich mir selbst zusammen reimen, wer die reizenden Damen sind?“
Jessy war abgestiegen und lächelte Efrem freundlich zu.
„Dies ist Jessy“, begann Tychon, dann zögerte er. „Sie ist ein besonderer Gast der Eisenfaust.“ Efrem grinste und zeigte dabei gesunde weiße Zähne. Er mochte um die fünfzig sein und seine Nase trug Spuren von reichlichem Alkoholgenuss. Wahrscheinlich glaubte er, sie sei eine potentielle Braut für Tychon und begleitete ihn aus Spaß bei dieser Reise.
„Und diese junge Dame hier, ist meine Schwester, Prinzessin Amileehna“, sagte Tychon nicht ohne Stolz. Efrem staunte und küsste ihr erstaunlich galant die Hand.
„Herrin, welch eine Freude, Euch zu sehen. Ihr wart ein Kind, als ich Euch vor ein paar Jahren sah. Schon damals sagte man, Ihr habt die Schönheit Eurer Mutter geerbt. Aber nun sehe ich, Ihr habt sie noch übertroffen.“
Amileehna presste die Lippen aufeinander. Solche Schmeicheleien prallten an ihr ab. Wahrscheinlich hörte sie viel zu viele davon.
„Aber es ist tatsächlich eine Überraschung, Euch hier zu sehen. Wir haben gehört, dass der Prinz mit kleinem Gefolge unterwegs ist, aber nicht warum oder wohin. Der alte Bairtliméad macht ein großes Geheimnis daraus. Zum Schutz der Prinzessin, nehme ich an?“
„Das ist eine etwas längere Geschichte…“, sagte Tychon.
„Freunde, wir müssen zusammen speisen“, rief Efrem nun mit dröhnender Stimme. „Mein Lager ist ganz in der Nähe. Ich mache einen meiner sagenhaften Jagdausflüge, meine Liebe“, sagte er vertrauensvoll zu Jessy. „Eigentlich nichts für junge Mädchen. Aber ich mache ein Ausnahme.“
„Das ist wirklich großzügig von Euch“, sagte Jessy zwinkernd. „Ich habe einen Riesenhunger.“
Efrems Leute lagerten auf einer großen Lichtung an einem herrlichen Wasserfall, der sich aus einer zerklüfteten und überwucherten Felswand in einen kleinen Teich ergoss. Außer seinen Jagdkumpanen hatte er eine ganze Horde Diener dabei und tatsächlich so etwas wie eine mobile Küche in einem Zelt. Unter einer einfachen Plane war eine lange Tafel vorbereitet, die sich unter den Platten mit Fleisch, Brot, Obst, Soßen und Pasteten nur so bog.
Sie genossen die feinen Speisen und den erlesenen Wein bis weit in den Nachmittag hinein. Jessy amüsierte sich prächtig. Efrem machte tatsächlich keinen Unterschied zwischen Soldaten und Adligen und die Gardisten saßen mit am Tisch und alle gaben Anekdoten aus gemeinsamen Schlachten und Besäufnissen zum Besten. Jessy lachte, bis ihr die Tränen kamen.
„Was für ein Unglück, dass er nicht im Kronrat sitzt“, raunte sie Albin zu. „Das würde die Stimmung dort ganz gewaltig auflockern.“
„Und als wir also am Morgen aufwachen“, erzählte gerade Bosco, „da waren die Gäule weg, einfach verschwunden. Und Efrem veranstaltete einen Höllenlärm und zeterte, weil Rheys nicht besser aufgepasst hatte.“
Er hieb Rheys auf den Rücken, den die Geschichte offensichtlich nicht so sehr amüsierte. Ein paar Mal hatte Jessy ihn ertappt, wie er in seinen Weinbecher schmunzelte, aber mehr auch nicht.
„Mann, du warst völlig aufgelöst und hast dich schier eingepisst, weil du sie verloren hattest. Und am Ende tauchte Tilon mit ihnen auf. Du hättest dein Gesicht sehen sollen.“
„Nimmst du uns diesen Scherz noch immer übel, Junge?“ fragte Efrem und wischte sich die Augen. „Glaubst du etwa, wir hätten dir tatsächlich die Aufsicht über die Rösser überlassen. Einem solchen Jungspund?“
„Das habe ich geglaubt, ja“, sagte Rheys.
„Wie alt warst du denn?“ fragte Jessy.
„Sechzehn.“ Er blickte nicht einmal in ihre Richtung.
Sechzehnjährige wurden hier in den Krieg geschickt? Sie schauderte. Vielleicht war er deswegen so eigenartig.
„Sechzehn und tapferer als viele andere mit doppelt so vielen Jahren auf dem Buckel“, sagte Efrem feierlich. „Selten habe ich jemanden so kämpfen sehen. Du hast eine große Zukunft vor dir, Junge.“
„Rheys wird die Wölfe anführen, wenn Althan ausscheidet“, sagte Tychon ernst. Das war offenbar schon beschlossene Sache. Rheys verzog keine Miene.
„Ja, er war tapfer“, murmelte einer von Efrems Freunden mit grau gesträhntem Haar. „So wie viele andere.“
Ein bedrückendes Schweigen senkte sich über die Tafel. Jessy sah Tränen in den Augen dieser vielen lauten und starken Männer glänzen. Sie schaute betreten auf die Tischplatte.
„Auf die, die wir verloren haben“, sagte Bosco und hob seinen Becher. Die anderen taten es ihm nach.
„Auf alles, was wir verloren haben“, fügte Efrem hinzu. „Der Sieg war teuer bezahlt.“
Alle tranken einen tiefen Schluck.
„Aber nun erzähl mir, Tychon, was hat es mit deiner Reise auf sich?“ fragte Efrem und beugte sich vor, wobei sein dicker Bauch gegen den Tisch stieß.
Tychon erzählte ihm ganz offen, warum sie unterwegs waren. Der König hatte nicht verbreiten lassen, dass der Prinz fort ging, er wollte ihnen ein paar Tage Vorsprung gewähren um ihre Route ein wenig zu verschleiern. Aus Sicherheitsgründen. Aber dass Tychon durchs Land ritt hatte sich bereits herum gesprochen, wie Efrem erzählte.
„Dann seid Ihr also ausgebrochen, Prinzessin?“ fragte Efrem, als Tychon die Anwesenheit seiner Schwester erklärt hatte. Amileehna hob stolz das Kinn.
„So ist es.“
„Dem zolle ich höchsten Respekt. Ihr seid sehr mutig. Manchmal muss man genau das tun, was die Leute nicht von einem erwarten. Man muss seinen eigenen Weg gehen. Das bedeutet, ein freier Mensch zu sein.“
Seltsam, dass dieser Mann genau das in Worte fasste, was Jessy am Vormittag durch den Kopf gegangen war.
„Efrem, du siehst Land und Leute und bist überall bekannt“, sagte Tychon. „Was weißt du über die fremden Gegenstände. Auch du hast meinem Vater immerhin Dinge zusenden lassen. Was denken die Menschen darüber? Und was denkst du?“
Efrem zuckte die Schultern und nahm sich ein Hühnerbein, an dem er genüsslich knabberte. „Die Bauern lassen sich nicht so leicht verschrecken wie die Städter. Sie schieben es auf die Kleinen Leute oder auf die Feldgeister. Sie machen sich so ihren Reim darauf.“
„Die Kleinen Leute?“ fragte Jessy leise. Albin saß neben ihr und erklärte ihr viele Details, die sie nicht verstand. Er war wirklich sehr gebildet und konnte zu allem einen Kommentar abgeben.
„Ein sehr altes Volk, das die Wälder bewohnt“, raunte er. „Nicht ganz menschlich, aber auch nicht ganz magisch. Sie waren den Menschen immer friedlich gesonnen, haben mit Handarbeiten gehandelt. Aber seit einer Weile sind sie verschwunden.“
„Seit ein paar Jahren sehen wir sie nicht mehr in Ovesta“, meinte Morian gerade. „Sind sie ausgestorben?“
„Es gibt sie noch, wir finden ab und an Spuren von ihnen“, erklärte Efrem. „Aber sie sind in die tieferen, dunkleren Gegenden des Waldes zurück gewichen. Vielleicht ahnen sie eine Gefahr. Das geschah schon damals, als der Krieg sich ankündigte.“
„Das sind schlechte Neuigkeiten, oder?“ fragte Jessy.
„Wir sollten es nicht zu schwarzsehen. Wer weiß schon, was in diesen Zwergenwesen vorgeht. Macht euch keine Sorgen deswegen.“
„Was ist mit Magiern?“ fragte Fabesto mit der gewohnten Skepsis in der Stimme und gerunzelter Stirn. „Habt ihr welche gesehen?“
„Es mag für uns alte Kämpfer schwer zu verstehen sein, aber die meisten Menschen hier haben mit all dem abgeschlossen. Die Magie ist verschwunden, aus Westland und auch aus ihrer Erinnerung. Sie fürchten sie nicht mehr, wie ein paar von uns, die Schreckliches erlebt haben. Hier im Hügelland werdet ihr niemanden finden, der Jagd auf versprengte Magier macht und ihnen mit der Klinge droht.“ Efrem machte eine Pause. „Es herrscht Frieden.“
„Es tut gut, das aus deinem Mund zu hören“, sagte Tychon. „Im Kronrat wurde bereits Skarphedinns Name ausgesprochen und ich will auf jeden Fall verhindern, dass irgendwelche Gerüchte verbreitet werden.“
Plötzlich brachen Efrems Männer in schallendes Gelächter aus. Ihr Herr lächelte milde.
„Dann müssen wir alle dir beichten, Herr, wir sprechen diesen Namen recht häufig aus“, sagte einer von ihnen lachend. „Wir nannten den Eber in Efrems Schweinezucht Skarphedinn.“
Der Nachmittag in Efrems Gesellschaft hatte Jessys Stimmung gewaltig verbessert. Es tat gut, zu sehen, dass es auch normal denkende Menschen in diesem Land gab, die nicht paranoid in der Angst vor Zauberei lebten und auch ihre eigenen Entscheidungen trafen. Jessy hatte automatisch eine gute Meinung von den Leuten die „das Hügelland“ bevölkerten. Vielleicht stimmte es und Tychon übertrieb nur mit seiner Sorge. Vielleicht hörte das Eindringen von Dingen aus ihrer Welt bald auf und alle Sorge zerstreute sich. Aber dann wäre womöglich auch ihr Rückweg abgeschnitten…
Während sie am Abend auf ihrer Pritsche darüber nachgedacht hatte, lauschte sie wieder den fröhlichen Stimmen am Feuer und wünschte sich sehnlichst, ein Teil der Gruppe zu sein. Sogar Tychon hatte Morians Gesellschaft aufgegeben und sich zu den Wölfen gesetzt. Anscheinend gefiel ihm die Art, wie Efrem über alle Hierarchien hinweg mit den Menschen umging. Jessy fand, es passte viel besser zu dem jungen Prinzen, unter seinesgleichen zu sein, als ständig über die Probleme seines Landes palavern zu müssen.
„Wir machen eine Pause“, tönte Rheys Stimme durch die mittägliche Sonnenglut. Jessy wischte sich erleichtert die Stirn. Es war sehr heiß an diesem Tag und der Wald lichtete sich allmählich. Bald würden sie das Hügelland durchqueren und dort der Sommersonne schutzlos ausgeliefert sein. Jessy hatte bereits die Ärmel ihres Hemdes aufgekrempelt und hätte gerne auch das Wams ausgezogen, doch sie wollte niemanden damit irritieren. Also schwitzte sie in der Lederkleidung vor sich hin.
Sie stiegen aus den Sätteln und führten die Pferde in den Schatten der Bäume am Wegesrand. Albins Hengst wurde in der Hitze noch gereizter und schnappte ständig nach den anderen Pferden, während sein Reiter alle Mühe hatte, ihn zu zähmen. Am Morgen hatte er anstatt in die Flanke seines tierischen Nachbarn in Boscos Oberschenkel gebissen, was Bosco ihm mit einem festen Schlag auf die Nase heimzahlte. Das machte den Rappen nicht gerade umgänglicher. Außerdem schimpfte Bosco mit Albin und sagte, jeder Stallknecht in der Eisenfaust hätte dem Pferd längst Manieren beigebracht.
Albin zuckte unter dem Tadel zusammen und bekam noch größere Angst vor seinem Reittier. Warum war er nur so dumm und tauschte nicht einfach das Pferd mit jemandem, der besser damit zurecht kam? Aber was Männer und ihren eigenartigen Stolz betraf, das war Jessy schon immer ein Rätsel gewesen.
Jetzt band sie Lia an einen tief hängenden Ast und schlug sich in die Büsche um sich zu erleichtern. Amileehna begleitete sie. Sie gingen immer zu zweit, eine strenge Anweisung von Rheys.
Heute bot selbst das Unterholz keine Abkühlung, die Insekten schwirrten um Jessy herum und versuchten auf ihrer verschwitzten Haut zu landen. Selbst die Vögel gaben zu dieser Mittagsstunde Ruhe. Und auch Amileehna war erstaunlich schweigsam. Sie fanden ein dichtes Gebüsch, das ihnen Sichtschutz bot. Bevor Jessy sich hinhockte, sah sie etwas Glänzendes zwischen den Farnwedeln und beugte sich hinunter. Schon wieder ein Gegenstand aus ihrer Welt? Sie schob die Pflanzen zur Seite und vernahm ein lautes Geräusch wie reißendes Papier. Im selben Augenblick schoss etwas auf sie zu und ein heftiger Schmerz durchzuckte ihren linken Arm. Sie schrie auf und taumelte zurück.
„Was ist?“ rief Amileehna und stürzte auf sie zu. „Was ist passiert?“
„Irgendwas hat mich gebissen!“ schrie Jessy und starrte auf die roten Spuren an ihrem Handgelenk.
„Da ist es! Es ist eine Schlange!“
„Was ist da hinten los?“ brüllte Bosco von der Straße her.
„Schnell!“ rief Amileehna aufgeregt. „Jessy wurde von einer Schlange angegriffen!“
Jessy war schwindelig. Brennender Schmerz pulsierte durch ihren Arm bis hinauf zum Ellbogen.
„Verdammte Scheiße“, murmelte sie. Nicht das! Wie weit war sie vom nächsten Arzt entfernt, der ihr ein Gegengift spritzen konnte? Lichtjahre?
Schon war Bosco bei ihr und im nächsten Moment auch alle anderen.
„Was für eine Schlange war es?“ fragte Rheys und stieß die anderen zur Seite. Er griff nach Jessys Arm. Um den Biss bildete sich bereits eine Schwellung. Sie wollte instinktiv die Hand zurückziehen, denn es widerstrebte ihr, von ihm angefasst zu werden.
„Sie war schwarz und glänzend.“
„Und sie hat gefaucht“, fügte Jessy hinzu. „So ein verfluchtes Biest!“
„Eine Blaunatter. Ist nicht so schlimm“, sagte Dennit.
„Was heißt das? Wird mein Arm abfallen?“
„Blödsinn“, sagte Rheys. Dann führte er ihren Arm zu seinem Mund und begann das Gift aus ihrem Fleisch zu saugen. Es tat weh und Jessy keuchte auf. Als er sich aufrichtete und das Gift ins Gebüsch spuckte, sah sie seine Zahnabdrücke auf ihrer Haut. Aber der Druck und das Brennen waren etwas gewichen.
„Es tut weh“, sagte sie und langsam spürte sie, wie sehr es tatsächlich schmerzte.
„Das glaube ich“, sagte Bosco mitfühlend. „Diese Viecher sind wirklich nicht zu unterschätzen. Aber keine Angst, das Gift ist raus und es wird sich nicht entzünden.“
Rheys hielt ihren Arm noch immer und betrachtete die Bisspuren.
„Sag Bescheid, wenn deine Finger taub werden oder blau“, sagte er.
Jessy schaute ihn einen Moment verwirrt an. Hatte er ihr grade das Leben gerettet? Schwer zu glauben… Sie entwand ihm ihre Hand.
„Mach ich. Danke.“
„Ist dir schlecht?“ fragte Bosco. „Gebt ihr was zu trinken!“
Die Umstehenden schienen in echter Sorge um sie zu sein, Tychons Gesicht sah schrecklich ernst aus. Alle berieten, welche Art von Umschlag man auf den Biss legen sollte.
„Setz dich ein bisschen hin“, riet Benoas, der schließlich einen Verband mit Arznei aus seinem geheimen Vorrat anlegte. „Falls noch Gift in dir ist, sollte es sich nicht verteilen.“
Als sie weiter ritten spürte Jessy noch immer den Schmerz, aber ihre Finger kribbelten lediglich ein bisschen. Langsam verebbte die Angst, dass sie sterben oder ihren Arm verlieren würde. Trotzdem war es ein Schock gewesen. Erst jetzt wurde ihr klar, dass sie in dieser fremden Welt tausend Gefahren ausgesetzt war, die nichts mit Schwertern zu tun hatten. Keine ihrer Impfungen würde hier wirken, sie konnte an einem simplen Mückenstich oder einer Lebensmittelvergiftung sterben. Darüber sollte sie sich wohl wirklich nicht zu viele Gedanken machen.
Am Abend nahm ihr Kaj das Pferd ab und schickte sie mit einem wortlosen Nicken davon. Jessy war dankbar. Sie war entsetzlich müde und fühlte sich fiebrig. Aber das mochte auch an der Hitze liegen, die sie den ganzen Tag gequält hatte. Sie setzte sich ins Gras, lehnte sich an einen Baum und schloss die Augen.
„Wie geht es dir?“ fragte Dennit hockte sich neben ihr hin. Sie lächelte.
„Schon in Ordnung. Es tut weh, aber ich denke, das ist normal. Kann man an diesen Bissen sterben?“
„Nein“, antwortete er. „Du hattest Glück dass es keine Rotschuppe war, die hätte dich ins frühe Grab geschickt.“
Tychon gesellte sich zu ihnen.
„Es tut mir sehr leid, dass das passiert ist, Jessy. Du bist immerhin in meiner Obhut, wir sollten besser auf dich Acht geben“, sagte er schuldbewusst.
„Keine Sorge, es geht mir gut, wirklich. Niemand hat Schuld, ich hätte vorsichtiger sein müssen.“
Rheys kam mit gewohnt energischen Schritten und ging neben ihr in die Hocke. Er schlenderte nie sondern sah immer aus, als ginge er unbeirrt auf ein bestimmtes Ziel zu. Seine Energie war unerschöpflich.
„Zeig mir deine Hand“, sagte er. Kein Bitte, aber auch nicht der unverschämte Tonfall, den sie gewohnt war. Er betastete ihre Finger und nahm den Verband herunter. Seine Finger waren kühl und rau. Die Bisse waren feuerrot und vom Absaugen des Giftes hatte sich ein lilafarbener Bluterguss darum gebildet.
„Fühlst du dich irgendwie krank?“
„Ein bisschen fiebrig, aber ich bin nur erschöpft, glaube ich. Ich sollte schlafen.“
„Geht zur Seite, Männer“, sagte Bosco laut und drängte alle anderen fort. „Was diese Dame braucht sind keine schönen Worte sondern ein Schluck kühles Bier.“
Er reichte ihr einen riesigen Krug und Jessy lächelte ihn dankbar an. Das war wirklich genau das richtige.
„Wenn du Knochen und Sehnen deutlich spüren kannst und alles trocken und kühl ist, ist das Pferd in gutem Zustand“, erklärte Kaj und zeigte Jessy, wie sie die Beine ihrer Stute nach Schwellungen abtasten musste. Neben dem Tränken und Striegeln wurde das jeden Abend gemacht.
„Ein lahmendes Pferd bedeutet deinen Untergang. Vielleicht nicht hier und jetzt aber in anderen Situationen schon. Sieh dir auch die Hufeisen an. Ein Stein, der sich verklemmt hat, kann schmerzhaften Druck verursachen und schon läuft die Kleine morgen ungleichmäßig und fängt an zu humpeln.“
Jessy hörte aufmerksam zu. Sie wollte gerne alles lernen, damit sie Lia selbst versorgen konnte und mittlerweile hatte sie auch das Gefühl, ganz passabel zu reiten. Aber die treue Stute beschwerte sich natürlich auch nicht. Jessy konnte nur den rechten Arm benutzen, ihre linke Hand tat immer noch höllisch weh, aber Gott sei Dank gab es keine Anzeichen einer Entzündung. Auch das Prickeln in ihren Fingern hatte tagsüber aufgehört. Nur der Schreck saß ihr immer noch in den Knochen.
Aber all die Aufregung war abgemildert worden, als sie kurz vor dem Einschlafen gehört hatte wie Kaj zu jemandem sagte: „Ganz schön hart im Nehmen, das Mädchen. So ein Biss schmerzt scheußlich.“
„Wem sagst du das“, antwortete der andere, den Jessy nicht identifizieren konnte.
Freude durchrieselte ihre Brust wie ein warmer Schauer. Sicher hatten diese Männer schon viel Schlimmeres ausgehalten als einen simplen Schlangenbiss. Und trotzdem fanden sie Jessy tapfer. Sie hatte das Gefühl, dass die Kluft zwischen ihr und diesen Fremden heute ein wenig schmaler geworden war. Auch wenn sie dafür teuer hatte bezahlen müssen.
Nun beendete sie die Pferdepflege und streichelte Lia den Kopf, bevor sie ihr gute Nacht sagte. Es war wieder ein heißer Tag gewesen und sie sehnte sich schmerzlich nach einer Dusche. Zwar seifte sie sich jeden Abend von Kopf bis Fuß ein, aber es war eben nicht dasselbe. Sie fragte sich, wie lang sie in keinen Spiegel mehr geschaut hatte. Aber ihre Arme waren braun gebrannt und sie hatte ein wenig abgenommen. Kein Wunder bei der sportlichen Aktivität. Und ihre Essensrationen waren auch nicht gerade üppig. Trotzdem freute sie sich jeden Abend heißhungrig auf das, was Benoas ihnen servierte. Jede Scheibe würziges Brot und jeder Apfel schmeckten ihr wie ein Festmahl.
Wie immer waren alle anderen im Lager überhaupt nicht müde und als schon die Sterne über ihnen funkelten, lieferten sich Dennit und Wiar einen Übungskampf. Jessy hörte das Sirren des Metalls und kam neugierig an die Zeltöffnung. Amileehna und Sebel schliefen schon.
Die Schwerter blitzten im Schein des Feuers auf. Jessy konnte sich dem Anblick der schnellen Bewegungen und der konzentrierten Atmosphäre nicht entziehen. Sie kannte solche Szenen nur aus Filmen und die Hiebe und Schritte erschienen ihr viel schneller, beinahe zu schnell für das Auge. Sie beobachtete vom Zelteingang aus, wie Wiar Dennit in die Enge trieb, er war größer und kräftiger und irgendwie verbissener bei der Sache. Schließlich richtete er die Spitze seines gefährlich großen Schwertes, das er mit beiden Händen führte, auf Dennits Kehle. Dennit war in die Knie gegangen, er atmete schnell und Schweiß glänzte auf seiner Stirn.
Für einen Moment hatte Jessy Angst, dass Wiar zustoßen würde, doch dann grinste Dennit und kam wendig auf die Füße.
„Das war gut“, sagte er. Wiar schob sein Schwert in die Scheide und setzte sich ans Feuer.
„Wer als nächstes?“ fragte Dennit, der offenbar durch Efrems Kriegsgeschichten angestachelt war und nicht genug bekommen konnte.
„Lass es gut sein“, sagte Bosco und gähnte.
„Ach kommt schon, seid ihr Wölfe oder Mietzekätzchen?“ fragte Dennit.
„Frag doch unseren Herrn Tabassum“, sagte Wiar mit teuflischem Lächeln. Oh nein, dachte Jessy.
„Er hat sich gegen die Felsenbären tapfer geschlagen. Lass ihn doch noch einmal zeigen, was er kann.“
Albin schlief ausnahmsweise noch nicht abseits in seine Decke gewickelt wie eine Mumie, sondern saß aufrecht in der Nähe des Feuers. Jetzt, da alle Blicke sich auf ihn richteten, wurde er blass. Aber er konnte diese Herausforderung nicht ablehnen. Damit würde er sich lächerlicher machen als wenn er versagte. Das war ihm offenbar auch klar, denn er kam auf die Füße und zog das riesige Schwert aus seinem Gepäck. Er hatte sogar Schwierigkeiten damit, es richtig zu halten. Soviel konnte selbst Jessy erkennen.
Doch er stellte sich in erlernter Position gegenüber seinem Gegner auf, holte tief Atem, kniff die Augen zusammen. Er musste sehr viele solcher Prüfungskämpfe im Kriegerlager erlebt haben.
Zuerst machte Dennit es ihm leicht, er bewegte sich viel langsamer als noch im Kampf mit Wiar und Albin konterte und wich geschickt aus. Doch dann machte es Dennit keinen Spaß mehr, seinen Gegner zu schonen und mit wenigen Schlägen hatte er Albin in die Knie gezwungen. Der Kampf hatte keine drei Minuten gedauert. Albin war schweißgebadet und er blutete sogar ein wenig am Arm, wo Dennits Klinge ihn gestreift hatte. Jessy sah, dass er zitterte und das mochte mehr an der Demütigung liegen als an der Anstrengung. Dennit war nicht viel größer als er, aber schlank und muskulös. Albin sah dagegen aus wie ein Sack Mehl auf Beinen.
„Eine Revanche?“ fragte er. Oh Gott, Albin durfte nicht ablehnen, das wäre noch peinlicher für ihn. Aber er sah aus, als schaffe er es kaum, nochmal auf die Beine zu kommen.
„Kann ich es mal versuchen?“ fragte sie laut und trat in den Schein des Feuers. Plötzlich hatte sie eine Gänsehaut. Was machte sie nur? Natürlich, sie rettete Albin. Aber ganz plötzlich verspürte sie tatsächlich Lust, so ein Schwert in die Hand zu nehmen.
Alle starrten sie an. Bosco lachte leise, als habe er so etwas geahnt.
„Es ist mein Ernst“, antwortete sie. „Lass es mich probieren.“
Rheys erhob sich wie ein düsterer Schatten vor dem Feuer und kam auf sie zu.
„Kommt gar nicht in Frage“, sagte er. Jessy versuchte, seinem Blick standzuhalten.
„Warum nicht?“
Er hob die Hand und zählte an den Fingern ab:
„Erstens, du bist eine Gefangene. Zweitens, du bist eine Frau. Und drittens, ich vertraue dir nicht.“
Jessy holte Atem. Diesmal würde sie sich nicht von ihm wie ein Kind behandeln lassen.
„Erstens“, sagte sie. „Ich bin ein Gast. Zweitens bin ich sicher, dass Frauen ebenso gut kämpfen können wie Männer. Und drittens“, sie senkte die Stimme ein wenig, „ich dachte, das hätten wir hinter uns.“ Hatte er sie nicht davon kommen lassen mit ihrer Lüge wegen dem Handy?
„Bist du verrückt? Ich traue dir keinen Deut mehr als am Tag deiner Ankunft.“
Jessy kniff wütend die Augen zusammen. Irgendetwas in seiner Stimme sagte ihr, dass das nicht ganz die Wahrheit war.
„Du wirst von mir ganz sicher keine Klinge bekommen.“
„Nicht mal zum Spaß?“
Seine Augen weiteten sich, als sei ihm der Gedanke, zum Spaß zu kämpfen noch nie gekommen.
„Ganz sicher nicht zum Spaß“, zischte er. „Und sagte ich nicht, du sollst in deinem Zelt bleiben?“
Keine Spur mehr von dem entspannten Mann, der ihre Hand so sorgsam untersucht hatte. Jessy sah, dass Albin sich davon gemacht hatte und irgendwo zwischen den Bäumen verschwunden war. Er war also aus der Gefahrenzone entwischt. Nur hatte sie noch keine Lust, diesen Streit zu beenden.
„Was habt ihr nur gegen die Gesellschaft von Frauen? Seid ihr alle keusch?“ fragte sie laut. Die Männer lachten. „Bosco sicher nicht, soviel weiß ich.“
„Darauf trinke ich“, röhrte Bosco und trank aus seinem Bierkrug.
„Und sind in einem Wolfsrudel nicht auch Weibchen? In meiner Welt ist das zumindest so.“
Sie starrte in Rheys regloses Gesicht. Es war unmöglich zu erkennen, was er dachte.
„Jetzt hat sie dich erwischt, Mann“, sagte Wiar. „Darauf spendiere ich ihr einen Schluck.“
Er klopfte auf den freien Platz neben sich im Gras. Neben Wiar zu sitzen war das letzte, was Jessy wollte, aber sie hatte einen kleinen Sieg errungen und den wollte sie sich nicht nehmen lassen.
Also wandte sie sich brüsk von Rheys ab und setzte sich. Ihr Herz raste. Es war so anstrengend mit ihm zu streiten, denn er war völlig unberechenbar.
Dankbar nahm sie einen Bierkrug entgegen. Das Gespräch am Feuer nahm seinen Lauf und Jessy schaute noch einmal in Rheys Richtung. Er stand mit verschränkten Armen da und starrte zu ihr herüber. Wahrscheinlich grübelte er, wie er ihr das heimzahlen konnte. Sie musste sich auf das Schlimmste gefasst machen.