Читать книгу Land der Wölfe - Julia Adamek - Страница 5
Kapitel
ОглавлениеSanfte, wärmende Finger streichelten Jessys Gesicht und ein Gefühl des Friedens breitete sich in ihr aus. Alles würde gut werden. Der Albtraum war zu Ende.
Jäh wurde sie aus dem tröstlichen Halbschlaf gerissen. Im Morgengrauen hatte sie die Augen nicht mehr offen halten können und war in einer unmöglichen Körperhaltung an der Wand kauernd eingeschlafen. Nun ertönten draußen vor der Kerkertür laute Stimmen und ihre Lider fühlten sich bleischwer an, als sie sie mühevoll öffnete. Der süße Traum wich von ihr und sie spürte schlagartig ihre vor Kälte steifen Glieder. Die wärmenden Finger auf ihrem Gesicht waren die zaghaften Sonnenstrahlen gewesen, die durch das kleine Gitterfenster in ihr Verlies vorgedrungen waren.
Jessy war sofort in Alarmbereitschaft und kam ungeschickt auf die Füße, wobei jeder Muskel in ihrem Leib schmerzte. Sie band sich das Haar zurück und spritzte sich eilig etwas Wasser aus dem Krug ins Gesicht. Es war eiskalt und ließ ihre Haut prickeln. Die beinahe schlaflose Nacht hatte ihre Gedanken träge werden lassen und sie betete um Konzentration im entscheidenden Moment. Sie musste sich wappnen für all das, was ihr jetzt drohte. Und was in der nächsten Minute durch die schwere Holztür herein kommen würde.
Die Diskussion draußen war offenbar beendet, denn Jessy hörte den Schlüssel im Schloss knirschen und holte tief Atem. Der Gestank in der Zelle stieg ihr scharf in die Nase. Hoffentlich kam sie bald hier heraus. Egal, was danach drohte, hier wollte sie auf jeden Fall nicht noch eine Nacht bleiben.
Eine große Gestalt trat unter der niedrigen Tür hindurch in den Raum und richtete sich auf. Es war Bosco. Jessy war sofort erleichtert, obwohl sein Gesicht noch immer besorgt und ernst wirkte. Doch als sie sah, dass hinter ihrem Freund der rothaarige Junge eintrat, der sie an den Kronrat verraten hatte, wurde ihre Freude etwas gedämpft. Was hatte er denn hier zu suchen? Misstrauisch wich sie einen Schritt zurück. Ihr war klar, dass sie Bosco enttäuscht hatte. Wer konnte schon wissen, ob er noch bereit war, ihr zu helfen?
Er hob beschwichtigend seine riesigen Hände.
„Sei unbesorgt“, sagte er. „Wir sind auf deiner Seite. Dieses kleine Klatschmaul hier wollte dir keinen Ärger bereiten. Stimmt’s?“ Er gab Albin einen heftigen Stoß, der den Jungen fast umwarf und sicher auch nicht angebracht war. Immerhin war er ein Adelsspross. Doch Albin schien so beschämt, dass er kaum den Kopf heben konnte. Seine Schultern waren eingesunken von vielfacher Demütigung und seine Ohren leuchteten im trüben Licht der Zelle. Jessys Zorn auf ihn verrauchte etwas.
„Es tut mir Leid. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass das passiert“, sagt er leise. „Der Gedanke, etwas Hilfreiches beizutragen war so verlockend. Und als die Kronräte wieder über die fremdartigen Dinge diskutierten, die uns heimsuchen, fiel mir ein, dass ich dich und deine merkwürdige Kleidung gesehen hatte. Das erschien mir zu wichtig um es zu verschweigen. Ich wollte dich nicht in Schwierigkeiten bringen.“
„Daran bist du nicht allein schuld“, sagte Jessy ein wenig versöhnt. Sie sah, dass er ehrlich geknickt war. „Ich hätte den König nicht anlügen dürfen.“
„Nein, hättest du nicht“, sagte Bosco streng. Er hatte die Arme vor der mächtigen Brust verschränkt. „Der König ist ein guter Mann, du hättest ihn für dich gewinnen können. Aber du hast jeden, der womöglich an deine Unschuld geglaubt hat, vor den Kopf geschlagen. Mich eingeschlossen. Warum hast du nicht einfach gesagt, dass du die Sachen kennst?“
Jessy tat es leid, das Bosco ihretwegen sicher einige Probleme bekommen hatte. Sie verschränkte die nervösen Hände ineinander.
„Ich dachte, wenn ich mich als wertvoll erweise, weil ich Informationen für euch habe, lasst ihr mich niemals wieder gehen“, gab sie niedergeschlagen zu. „Ich will hier nicht bleiben, ich will nach Hause! Und ich kann euch nichts erzählen, was euch helfen wird. Ja, ich kenne diese Sachen und ich musste es einfach sagen, denn sonst hättet ihr noch eure Burg angezündet. Aber warum das alles hier ist, warum ich hier bin – das weiß ich doch auch nicht!“
Heiße Tränen standen in ihren Augen.
„Tja, aber genau das wird wohl der einzige Weg sein, deinen Hals zu retten“, murmelte Bosco.
„Wie meinst du das?“ fragte sie und wischte sich die Nase. Sie wollte nicht heulen, sondern sich stark zeigen. Aber die Angst und die Nacht hier unten hatten mehr an ihren Nerven gezehrt, als sie zugeben mochte.
„Ich habe mir alles genau überlegt“, sagte Albin plötzlich auflebend und kam einen Schritt auf sie zu. „Du hast heute noch einmal die Möglichkeit, dich vor dem Kronrat zu äußern. Dann wirst du die ganze Wahrheit sagen. Du musst dich zutiefst reumütig zeigen, weil du gelogen hast. Sprich von deiner Angst und Verzweiflung. Das wird die weicheren unter ihnen überzeugen. Immerhin bist du…“ Hier errötete Albin ein bisschen und machte eine fahrige Geste in Richtung ihres Mieders.
„…ein Mädchen.“
Jessy grinste. Schon lange hatte sie niemand mehr als Mädchen bezeichnet.
„Aber schwieriger zu überzeugen werden die Kronräte sein, die grundsätzlich auf ihren eigenen Vorteil aus sind. Allen voran mein Vater und auch Meltis – das ist der Dicke. Das wichtigste ist jedoch, dass du Morian auf deine Seite ziehst.“
„Der Schwarzhaarige mit den vielen Juwelen?“
„Ganz genau“, sagte Albin. „Er zieht im Kronrat alle Fäden. Seine Familie ist sehr reich durch Handelsbeziehungen mit dem Südland. Kaum eine importierte Ware in Westland, die nicht durch sein Kontor eingeführt wurde. Er hat großen Einfluss auf den König und auch eine sehr gewinnende Art. Du wirst es sicher noch merken. Aber er wird hart wie ein Fels bleiben, egal wie sehr du das Mitleid der anderen erregst. Und wir haben leider nicht so viel anzubieten.“
Hier versank Albin für einen Moment ins Grübeln. Die Sache zu durchdenken hatte ihm offenbar viel Spaß gemacht. Während er redete, hatte sein Gesicht eine etwas gesündere Farbe angenommen und sein offenkundiger Wunsch, ihr zu helfen, rührte Jessy.
„Mach dir keine Gedanken“, sagte sie nun. „Ich werde mit diesem Kerl schon fertig. Wenn du denkst, ich habe eine Chance, mit Ehrlichkeit ans Ziel zu kommen und dass mir die anderen glauben werden, dann schaffe ich es.“
Wirklich? Für einen Moment wurde Jessy schwindelig bei dem Gedanken, dass es hier tatsächlich um ihr Überleben ging. Das alles war doch einfach absurd…
„Eines hat unser Freund hier aber noch vergessen und das ist das Wichtigste“, sagte Bosco streng. „Du musst auf Stein und Bein schwören, dass du mit den Magiern nichts am Hut hast. Wenn sie daran auch nur einen winzigen Zweifel haben, unterschreiben sie das Todesurteil schneller, als du blinzeln kannst.“
„Das ist kein Problem“, erwiderte sie ernst. „Ich habe nämlich wirklich überhaupt keine Ahnung, was es damit auf sich hat. Aber heute Nacht kam ein seltsamer Mann hier an das Fenster. Er fragte mich alles Mögliche, ob mich ein gewisser Skar-irgendwas geschickt hat und ob ich eine Spionin bin. Dann schickte er einen leuchtenden Schmetterling herein. War das ein Magier?“
Die beiden starrten sie an, Boscos Blick wurde düster.
„Das war Sketeph, diese Made. Er war einmal ein Magier, ist aber übergelaufen und berät jetzt den König.“
„Die Magiergilde wurde aufgelöst“, erklärte Albin. „Nach den Nordlandkriegen wurde jede Form von Magie im Westland verboten. Zu viel Blut und Wahnsinn hatte die Magie über das Land gebracht, deshalb entschied der König, dass jede Anwendung mit dem Tode bestraft werden sollte. Die Magier zerstreuten sich in alle Winde, tauchten unter, versteckten sich. Nur ob ihre Macht wirklich gebrochen ist, weiß niemand.“
„Aber der Schmetterling“, wandte Jessy ein. „Er war wunderschön und es war gar nichts Schlechtes an ihm. Er hat mich getröstet.“
„Im Grunde kann Magie auch schöne und gute Dinge hervorbringen. Aber damals war die Macht über die Gilde und somit die gebündelte Kraft der Magier in die falschen Hände gelangt. Skarphedinn rief die Magier zum Krieg auf gegen die Westländer. Er wollte den König zwingen, den Magiern Mitsprache im Kronrat einzuräumen. Doch sein Plan endete fatal. Er beschwor furchtbare Ungeheuer aus dem Norden und verlor die Kontrolle über sie.“
Albins Augen waren groß und rund geworden bei der Erzählung dieser Geschichte. Auch Jessy hörte ihm gebannt zu. Es klang alles wie ein Märchen.
„Die Ungeheuer kamen über die Grenzen und verwüsteten fast das ganze Land. Nur mit viel Mühe und Glück konnte unsere Armee sie schließlich bezwingen und die Reihen der Magier zerschlagen.“
Er warf Bosco einen scheuen Blick zu. „Die Männer, die von den Schlachtfeldern zurück kehrten waren gezeichnet von unsagbaren Schrecken. Und Skarphedinn – er wurde nie gefunden.“
„Eines Tages werden wir ihn finden“, brummte Bosco. „Und vielleicht komme ich in den Genuss, ihm eigenhändig seinen Kopf abzuschlagen.“
Er zuckte mit den Schultern und Jessy hörte die beiden gekreuzten Äxte auf seinem Rücken aneinander klirren. Die Waffen waren ihr vorher gar nicht aufgefallen. Sie schauderte und wandte den Blick davon ab.
„Deshalb haben alle Menschen hier Angst vor Magie“, sagte sie nachdenklich. „Und vermuten natürlich, dass die Magier sich wieder zusammen tun könnten. Und sie mit fremdartigen Waffen angreifen.“
„Ja, als immer mehr von diesen seltsamen Dingen aus deiner Heimat im ganzen Land gefunden wurden, hat das alle aufgeschreckt. Aber bisher ist nichts Schlimmes geschehen und Sketeph schwört, dass er keine Nachrichten von anderen Magiern empfangen hat. Anscheinend vermutet er aber etwas. Sonst hätte er dir nicht diese Fragen gestellt. Das ist alles hochinteressant.“
„Du kennst dich ziemlich gut aus“, sagte sie und lächelte ihm zu. Sie mochte den Jungen. Er kam ihr genauso verloren vor, wie sie sich fühlte. Nun errötete er.
„Ich habe viel gelesen“, antwortete er wieder ganz schüchtern.
In diesem Augenblick kam ein Diener durch die offen stehende Tür und stellte einen Korb und einen Eimer auf den Boden. Jessy linste hinüber und sah Brot, Käse und Wurst, einen Apfel und eine kleine Pastete, alles sauber in Tücher eingeschlagen. In dem Eimer befand sich duftendes Seifenwasser.
„Mein Weib denkt wirklich an alles“, sagte Bosco und hielt ihr den Korb hin. „Hier, dein Frühstück.“ Er grinste.
Jessy wurde ganz schwach vor Rührung und plötzlichem Hunger. Sie setzte sich auf den Boden und begann gierig zu essen.
„Sag Kyra vielen Dank dafür. Es ist sicher nicht üblich, Gefangene so zu bewirten“, sagte sie zwischen zwei Bissen. „Ihr riskiert Kopf und Kragen für mich. Warum?“
„Ich möchte nur meinen Fehler wieder gut machen“, murmelte Albin und rührte mit seiner Stiefelspitze im Stroh. Er trug ein kostbar besticktes gelb-grünes Wams und hellbraune Hosen. Die Kleider waren jedoch an mancher Stelle etwas zu eng, als habe er viel zugenommen. Er war wirklich ein bisschen pummelig. Das gefiel seinem Vater sicher nicht…
„Also, Kyra sagt, du bist etwas Besonderes“, meinte Bosco schulterzuckend. „Sie glaubt, es ist kein Zufall, dass du hier bist und dass wir auf dich Acht geben sollten. Bei solchen Dingen widerspreche ich ihr nicht, sie kennt die Menschen. Und ich habe einfach das Gefühl, so ein schmächtiges Wesen wie du wird schon nicht das ganze Westland ins Unglück stürzen.“
„Was ist denn hier los?“
Jessy fuhr zusammen beim Klang der lauten und sehr ungehaltenen Stimme. Auch das noch. Rheys duckte sich unter dem Türsturz hindurch und kam in die Zelle. Er starrte sie voll blanker Wut an.
„Bosco, hast du den Verstand verloren? Sie ist steht unter dem Verdacht des Hochverrats! Und du stehst hier, bei offener Tür und gibst ihr Wurst und Käse?“
„Rheys, sie hat uns alles erzählt. Sie versucht nur, sich selbst zu schützen und sie braucht unsere Hilfe“, sagte Bosco beschwichtigend.
„Ich will das nicht hören!“ fuhr Rheys ihn an. „Du riskierst deinen Kopf, Mann. Glaub ja nicht, dass ich mich um deine Brut kümmere, wenn herauskommt, dass sie euch alle an der Nase herumführt und du mit ihr zusammen auf dem Richtblock landest.“
„Natürlich würdest du dich um sie kümmern“, sagte Bosco grinsend. Rheys‘ Zorn beunruhigte ihn nicht im Mindesten. Die beiden schienen sich wirklich gut zu kennen.
„Ach, sei still“, schnauzte Rheys. „Du verdammter Narr. Hat der kleine Schwätzer hier dich dazu überredet?“
„Ich glaube nicht, dass es angebracht ist, in diesem Ton mit einem zukünftigen Kronrat zu sprechen“, sagte Jessy spitz. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie Albin leise lächelte. Doch als Rheys sich ihr zuwandte und seinen zornigen Blick auf sie richtete verschluckte sie jedes weitere Wort. Er kam einen Schritt auf sie zu und sie hatte Mühe, sich nicht zu ducken. Beinahe rechnete sie damit, dass er sie schlagen würde.
„Wenn du meinem leichtgläubigen Freund hier Ärger machst“, sagte er leise, „dann wirst du dir noch wünschen, du hättest dir bei deinem Sturz das Genick gebrochen.“
Einige Sekunden lang war sie nicht in der Lage etwas zu antworten, die Drohung in seiner Stimme war noch beängstigender als seine Worte. Dann schluckte sie.
„Ich sage die Wahrheit.“
Ohne ein weiteres Wort stürmte Rheys hinaus und Jessy seufzte erleichtert.
„Oh Mann, charmant wie immer, oder?“ murmelte sie. Dann wandte sie sich an Albin.
„Also dann, machen wir uns fertig für das Kreuzverhör.“
Nachdem sie sich gestärkt und gewaschen hatte, fühlte Jessy sich bereit und zuversichtlich. Doch dann betraten vier bewaffnete Wachen die Zelle und fesselten ihr die Hände vor dem Bauch, bevor sie sie aus dem Gefängnis heraus führten. Sofort verhärteten sich ihre Nackenmuskeln wieder und ihre Finger wurden eiskalt. Nein, der Albtraum war noch nicht vorbei. Vielleicht fing er gerade erst an.
Draußen herrschte Gluthitze, es musste fast Mittag sein und kein Lüftchen verschaffte Linderung. Die heiße Luft stand unbewegt zwischen den Burgmauern, deren hellgrauer Stein im Sonnenlicht blendend strahlte. Während die Wachen Jessy quer über den Hof führten, hielten die arbeitenden Menschen inne, Unterhaltungen verstummten, alle schauten neugierig zu ihr herüber. Jessy schoss die Röte ins Gesicht, noch nie hatte sie sich so vorgeführt und gedemütigt gefühlt. Wie eine Verbrecherin wurde sie hier präsentiert, dabei hatte sie doch nichts getan! Tränen traten in ihre Augen, aber sie hatte sich fest vorgenommen, nicht zu heulen – auch wenn das vielleicht Albins Empfehlung war. Normalerweise war sie nicht weinerlich und sie schob es auf ihre angespannten Nerven und die ganze Situation, dass sie kaum in der Lage war, ihre Emotionen zu kontrollieren. Aber jetzt würde sie sich zusammenreißen.
Man führte sie wieder durch eine Seitentür und ein Treppenhaus. Überall war es hell, was sie von einem Burggemäuer eigentlich nicht erwartet hatte. Aber es gab große, verglaste Fenster in jedem Gang und in dunklen Winkeln standen Fackeln. Diener wichen an die Wand zurück und senkten den Blick, als sie vorbei geführt wurde, doch Jessy spürte deutlich, dass sie ihr hinterher starrten.
Schließlich wurde die Tür zum Thronsaal geöffnet und wieder verstummten drinnen die Gespräche. Jessy reckte die Schultern trotz der Fesseln, die ihr schmerzhaft ins Fleisch schnitten und atmete tief durch. Heute gab es keine Feuerschalen. Vielleicht hatten die Männer Angst vor einer erneuten Vorführung ihrer dunklen Künste. Jessy biss sich auf die Lippen. Galgenhumor, den sollte sie sich lieber für später aufsparen. An der Wand saßen die jungen Zuhörer, ganz vorne Albin, der ihr kaum merklich zunickte. Seine Aufregung war deutlich zu erkennen, seine Augen waren riesengroß und seine Wangen glühten. Bosco stand an der anderen Seite des Saales, viel zu weit entfernt von ihr. Sie hätte ihn gerne neben sich gehabt. Er war wie ein Fels, an dem man sich anlehnen oder hinter dem man Schutz suchen konnte. Erstaunlich, wie gern sie den Mann hatte, obwohl sie sich erst zwei Tage kannten.
Die Wachen führten sie an den langen Ratstisch und sie nahm sich einen Moment, um in die Gesichter der Männer zu sehen. Meltis, der Fette, schaute sie misstrauisch an. Albin sagte, er würde sich in all seinen Aussagen an Morian orientieren. Ebenso Ioann, Albins Vater, der direkt daneben saß. Der Mann hatte von grauen Strähnen durchzogenes, kastanienbraunes Haar und böse Augen. Trotzdem war er irgendwie attraktiv, was wahrscheinlich auf übersteigertes Selbstbewusstsein zurückging. Jessy kannte solche Männer zur Genüge. Sie konnte sich gut vorstellen, dass er seinem Sohn das Leben zur Hölle machte. Der Älteste am Tisch war ein Greis, der bereits in den Neunzigern sein musste. Andere Männer waren sehr jung, jünger als Jessy. Die meisten von ihnen schauten eher neugierig drein. Von ihnen hatte Jessy sicher nichts zu befürchten. Ihr Blick wanderte schnell weiter und fiel auf Fabesto. Er war ihr schon gestern wegen seiner schlichten Kleidung und dem kurz geschorenen Haar aufgefallen. Als ehemaliger Anführer der Königsgarde hatte ihm der König einen Ehrenplatz im Kronrat angeboten. Die beiden waren enge Freunde und Kampfgefährten und Fabesto hatte als einziges nicht adliges Mitglied im Rat einen schweren Stand. Seine absolute Loyalität zum König und seine Ehrlichkeit machten ihn zum wertvollen Ratgeber. Doch er war auch Veteran des Nordlandkrieges, hatte an vorderster Front gekämpft und hasste die Magier bis aufs Blut. Es würde schwierig sein, ihn davon zu überzeugen, dass sie nichts im Schilde führte. Jetzt war seine Miene wie versteinert, die buschigen grauen Augenbrauen berührten sich fast.
Neben ihm saß Morian. Lässig lehnte er in seinem Stuhl und spielte mit einem goldenen Becher vor sich auf dem blankpolierten Tisch. Langweilte ihn ihr Schicksal etwa? Oder das Schicksal seines Landes? Den Eindruck hatte Jessy jedenfalls. Als er ihren Blick spürte, schaute er sie direkt an und ein dünnes Lächeln legte sich auf seine Lippen. Ihm war direkt anzusehen, dass er mehr wusste, als er sagte. Was hinter diesen Augen vorging, war nicht zu deuten.
Einer der Männer erhob sich und begann zu sprechen.
„Du bist hier her gerufen worden, um noch einmal deine Geschichte zu erzählen und den König um Gnade zu bitten“, sagte er förmlich. „Und ich kann dich nur beschwören, Kind, diesmal die volle und ganze Wahrheit zu sagen.“
Der König sagte nichts, sondern schaute sie nur stumm an. Neben ihm saß Tychon, vor Aufregung lehnte er sich weit über den Tisch wie ein Schuljunge. Jessy hätte ihm beinahe zugelächelt, so anziehend war dieses hübsche Jungengesicht, das sie neugierig anschaute. Sie leckte sich über die trockenen Lippen und plötzlich kratzte das fremde grobe Kleid auf ihrer Haut, die Fesseln schmerzten und in ihrem Bauch rumorte es.
„Ich danke dem König für seine Großzügigkeit. Mir ist klar, dass ich einen Fehler gemacht habe. Doch ich wollte niemanden aus Böswilligkeit täuschen. Ich bin hier, fremd, allein und verzweifelt und ich hatte Angst, ihr lasst mich nicht mehr fort, wenn ich gestehe, dass ich Dinge weiß. Ich bitte den König, mir das zu verzeihen. Ich bin keine Gefahr für ihn oder sein Land.“
„Du bleibst also bei deiner Geschichte?“ fragte Meltis. „Du bist gestürzt und weißt nicht, wie du hier her gekommen bist? Du weißt nichts über Westland?“
Sie schaute ihn nicht an, sondern blickte unverwandt dem König ins Gesicht. „Das ist wahr. Aber ich habe die Sachen erkannt, die Sie mir gezeigt haben. Sie stammen aus meiner Welt.“
Ein Raunen ging durch den Saal.
„Deine Welt?“ fragte Fabesto. Seine Stimme war dunkel und gewohnt, Befehle auszusprechen. Jessy schluckte.
„Die einzige andere Welt, von der wir wissen, ist die der finsteren Magie. Was wir gestern von dir gesehen haben – für mich glich das zu sehr dem, was ich im Norden gesehen habe. Das Hervorzaubern von Stichflammen, wo vorher nur Glut war. Wie kannst du das erklären?“
„Also, in der Flasche war eine Flüssigkeit“, begann Jessy, doch sie wusste, dass diese Menschen nichts von Chemie und Physik verstehen würden. Ihre Hoffnung schwand. „Sie entzündet sich sehr leicht. Deshalb musste ich Sie davor warnen. Ich wollte nur Sie und Ihre Burg beschützen!“
„Die anderen Sachen“, sagte einer der jüngeren Räte. „Wie können wir sicher sein, dass Sie nicht auch gefährlich sind und du sie bei nächster Gelegenheit gegen den König verwenden wirst?“
„Wir können niemals sicher sein“, sagte Meltis wütend. „Dieses Weib erzählt doch nur, was wir hören wollen, damit sie am Leben bleibt. Wahrscheinlich wollte sie mich mit der Stichflamme in Wahrheit töten und es ist missglückt. Deshalb kommt sie nun angekrochen.“
„Ich glaube nicht, dass sie eine Magierin ist, Vater“, sagte Prinz Tychon ruhig. Das unruhige Gemurmel und der aufflammende Zorn der Räte berührten ihn nicht. „Sie sieht doch nicht aus wie eine Hexe und die Gilde hat niemals Frauen aufgenommen. Es wird so sein, wie sie es sagt. Eine Tat aus Verzweiflung und Angst.“
Er wandte sich direkt seinem Vater zu, der noch immer kein Wort gesagt hatte.
„Lass sie leben Vater und gib uns Zeit sie zu befragen. Ihre Informationen können vielleicht entscheidend sein für unsere Lage.“
„Als Geisel“, warf Ioann ein. Tychon schaute ihn böse an.
„Als Gast der Eisenfaust. Wir sind immerhin keine Ungeheuer. Und außer ihrer kleinen Lüge hat sich Jessy nichts zu Schulden kommen lassen, oder?“
Dass er ihren Namen aussprach hatte eine beruhigende Wirkung auf Jessy. Vielleicht war sie doch noch nicht verloren. Der König haderte mit sich, er kaute auf der Innenseite seiner Wange herum. Was für eine eigenartig unsichere Geste für einen König. Da sprach Morian. Seine Stimme war angenehm und leise und doch verstummten sofort alle und schauten ihn an.
„Ich gebe dem Prinzen Recht.“
Das schien jeden zu überraschen, einige Unterkiefer klappten fassungslos herunter. Auch Jessy staunte. Ausgerechnet er ergriff für sie Partei? Laut Albin war er grundsätzlich gegen Tychons Vorschläge, Reformen und Pläne, die seine Macht im Rat schmälern würden. Das galt offenbar nicht für diese Sache. Morian schaute sie mit seinem undurchdringlichen Blick an, als wolle er sie durchbohren. Er musterte ihren ganzen Körper und sie fühlte sich hochgradig unwohl, als wäre sie splitternackt.
„Es wäre in der Tat ein Verlust, wenn wir auf das verzichten müssten, was die Dame uns bieten kann.“ Obwohl es anzüglich und beleidigend klang, war Jessy sicher, dass er es nicht so meinte. Irgendetwas anderes steckte dahinter. Morian wandte sich an den König.
„Herr, ich glaube, dass diese Frau sehr wertvoll für uns sein kann. Ihr solltet von einer Hinrichtung absehen. Lasst uns mit ihr sprechen.“
Die Kronräte murmelten wieder und rutschten unruhig auf ihren Sitzen herum. All jene, die gerne Jessys Todesurteil unterschrieben und die Gefahr einer magischen Invasion ausgemerzt hätten, waren ärgerlich. Die anderen lächelten in Tychons Richtung.
Was Morian sagte, war offenbar Gesetz in dieser Runde. Der König hatte noch nicht geantwortet und doch schien die Sache entschieden.
„Meine Räte geben mir in der Regel weise Ratschläge“, sagte Bairtliméad nun gemessen. „Und obwohl dein Versuch mich zu täuschen nicht vergeben werden kann, bin ich froh, dass wir in diesem Fall Gnade walten lassen können. Aber nur unter einer Bedingung. Du bleibst hier in der Eisenfaust und stehst uns mit all deinem Wissen jederzeit zur Verfügung. Das ist deine Schuld, die abzuleisten ist. Du wirst helfen, all das aufzuklären, was hier vor sich geht. Erst dann kannst du nach Hause zurückkehren.“
Jessy stöhnte leise auf vor Erleichterung. Sie würde leben. Sie schickte ein Stoßgebet zu allen Heiligen und Gottheiten, die ihr einfielen.
„Ich danke Euch, Herr König“, murmelte sie und merkte gar nicht, dass sie automatisch zu der altertümlichen Anrede übergegangen war. Außerdem ging ihre Antwort sowieso im allgemeinen Lärm unter. Die Sitzung endete anscheinend mit dem Urteil und alle Räte standen auf, stellten sich in Grüppchen zusammen und diskutierten, während Diener mit gefüllten Tabletts herum eilten.
„Nehmt ihr die Fesseln ab“, befahl Tychon und kam mit federnden Schritten auf sie zu. Das breite Lächeln brachte sein ganzes Gesicht zum Strahlen. Jessy rieb sich die geschundenen Handgelenke. Auch Albin trat unauffällig neben sie und sie drückte seinen Arm. Er lächelte ein wenig, war aber offensichtlich stolz.
„Wer hätte gedacht, dass ausgerechnet Morian Euch zustimmt, Herr“, sagte ein anderer junger Mann, der Tychon einen goldenen Becher reichte.
„Ich weiß es nicht“, antwortete Tychon. „Wer weiß schon, was er nun wieder vorhat. Aber erst einmal bin ich froh, dass mein Vater richtig entschieden hat. Es wird eine große Bereicherung für uns sein, alles zu erfahren, was du weißt.“
Jessy brachte ein Lächeln zustande, doch sie fühlte sich schwach und ihre Knie waren weich wie Pudding. Sie wollte sich nur hinsetzen und einen Schluck Wasser trinken.
„Ich setze volles Vertrauen in dich“, sagte der Prinz verschwörerisch.
„Hoffentlich bin ich es auch wert“, murmelte Jessy.
„Du solltest dich ausruhen. Bosco! Die Dame ist von nun an unser Gast und wird Gemächer im Prinzenbau beziehen. Was immer du benötigst, wirst du bekommen.“
Gott sei Dank, endlich war Bosco neben ihr und sie nahm dankbar seinen Arm.
„Nur schnell raus hier“, murmelte sie und schon führte er sie kreuz und quer durch die Burg und über den Hof. Die Sonne schien so heiß, dass die Wärme sich wie ein Schlag auf den Kopf anfühlte, als sie hinaus traten. Doch Jessy genoss es. Sie hatte schon befürchtet, den Himmel nicht mehr zu sehen zu bekommen. Nun, da die Furcht von ihr abfiel, stiegen die Tränen wieder in ihr auf.
Bosco führte sie in ein kleineres Gebäude.
„Hier leben die Gäste des Königs und die Kronräte mit ihren Familien. Keine Angst, du bist hier sicher.“
Drinnen roch es angenehm sauber und es herrschte Ruhe. Die meisten Bewohner waren wohl bereits auf dem Weg zum Mittagessen. Bosco öffnete eine Tür für sie und Jessy betrat einen gemütlichen Raum mit einem riesigen Himmelbett, einem Tisch mit zwei Stühlen und einem farbenfrohen Wandteppich. Es wirkte so einladend, dass Jessy nun endgültig schwindelig wurde vor Dankbarkeit.
„Ich glaube, du brauchst einen Schluck Wasser“, sagte Bosco und schenkte ihr aus einem Steingutkrug ein. Sie ließ sich erschöpft auf einen Stuhl fallen.
„Das lief ja ganz gut, oder?“ fragte sie schließlich, als sie sich wieder etwas gesammelt hatte.
„Du hast den Prinzen auf deiner Seite. Er scheint ja ganz verrückt nach dir zu sein. Aber wir sollten vorsichtig sein. Morian vergibt seine Gunst nicht leichtfertig. Irgendwas geht da vor. Halt die Augen offen.“
Jessy erschrak. „Du meinst, ich bin immer noch in Gefahr?“
„Nein, der König hat dich begnadigt. Niemand wird dir ein Haar krümmen hier in der Eisenfaust. Aber du wirst einige Zeit hierbleiben. Also solltest du aufpassen, wem du vertraust und wem nicht. Morian sicher nicht. Auch wenn er dir heute den Hals gerettet hat.“
Jessys Gedanken begannen, sich im Kreis zu drehen. Sie verstand nicht einmal ansatzweise, was hier geschah und plötzlich schien ihr nichts mehr real zu sein. Das alles war nur ein seltsamer, verwirrender Traum, aus dem sie gerne entkommen wäre. Hatte sie wirklich gerade über ihr Überleben verhandelt? Hatte sie dem König dieses eigenartigen Landes versprochen, ihm bei der Lösung seiner übernatürlichen Probleme zu helfen? Dabei war das einzige, was sie Stunde um Stunde, Minute für Minute beschäftigte die Frage, wie sie diesen Ort wieder verlassen konnte. Das alles war völlig absurd. Zu absurd und unglaublich, um wahr zu sein.
„Entschuldige, Bosco“, murmelte sie. „Ich glaube, ich würde mich gerne ein wenig hinlegen. Ich bin ziemlich müde.“
Bosco nickte und ging hinaus. Jessy erhob sich mühsam und verriegelte die Tür hinter ihm. Sie war absolut nicht davon überzeigt, dass sie hier sicher war. Auch wenn Bosco ihr geholfen hatte und die Diener freundlich zu ihr gewesen waren. Auch wenn ihr Tychon mit seinem verschwörerischen Blinzeln zu verstehen gab, dass er auf ihrer Seite stand. Sie konnte hier niemandem vertrauen, was die Situation noch mehr wie einen Albtraum erscheinen ließ. Denn im Augenblick war sie völlig auf das Wohlwollen dieser Menschen angewiesen. Noch nie hatte sie sich hilfloser gefühlt und das aufsteigende Gefühl der Verzweiflung grenzte an Panik. Beruhige dich, ermahnte sie sich und sank auf das weiche Bett nieder. Zuerst einmal musste sie sich ausruhen, damit sie wieder einen klaren Gedanken fassen konnte.
Ein leises Klopfen riss sie aus einem dumpfen Schlaf. Der Traum war nicht zu Ende, sie war immer noch in einer Burg, mitten in einer fremden, völlig fantastischen Welt gefangen. Die Erkenntnis traf sie nicht so schmerzhaft, wie sie erwartet hatte. Wenigstens fühlte sie sich ein wenig erholt. Durch die beiden kleinen Fenster fiel mildes Nachmittagslicht herein. Sie musste ein paar Stunden geschlafen haben. Mühsam wühlte sie sich aus dem mit Kissen und Decken überhäuften Bett und ging zur Tür.
„Wer ist da?“ fragte sie misstrauisch.
„Mein Name ist Sebel, Herrin“, antwortete eine leise Stimme. „Ich bin Eure Zofe.“
Das fehlte noch. Eine Zofe, die ständig um sie herum schwirrte und alles sah und hörte, was sie tat? Die womöglich dem König jede Auffälligkeit in ihrem Verhalten mitteilte?
Sie öffnete den Riegel und ein schmales Mädchen kam herein, gefolgt von zwei Dienern, die eine Truhe auf den Boden stellten. Dann verschwanden sie wortlos.
Das Mädchen verbeugte sich. Sie hatte das Haar unter einem weißen Kopftuch hochgesteckt.
„Oh Gott, lass das bitte sein“, sagte Jessy seufzend. „Ich bin nicht deine Herrin, ich heiße Jessy.“
Sebel schaute sie misstrauisch aus großen blauen Augen an. Sie konnte nicht älter als sechzehn sein. Dann lächelte sie zaghaft.
„So lange Ihr in der Eisenfaust lebt, werde ich für Euch arbeiten. Ich kümmere mich um alles, das Zimmer, die Garderobe…“
„Tja, das wäre nett, aber ich habe doch gar keine Garderobe.“
Das verschmitzte Lächeln wurde breiter. Sebel ging hinüber zu der Truhe und öffnete den Deckel.
„Die Damen der Königin haben von Eurem Schicksal gehört. Dass Ihr hier sozusagen gestrandet seid. Sie schicken Euch deshalb diese Sachen und begrüßen Euch in der Burg.“
Dann breitete sie einen Berg von Kostbarkeiten vor Jessy aus. Kämme und silberne Haarspangen, duftende Seifen, saubere Hemden und Unterwäsche und ein paar wunderschöne Kleider, die aussahen als wären sie kaum getragen. Jessy zog einen weichen dunkelblauen Stoff hervor und breitete das Kleid auf dem Bett aus. Es war bodenlang und hatte ein besticktes Mieder mit Perlen und kleinen Blumen darauf. Sie würde aussehen wie eine Prinzessin und obwohl sie sich eigentlich nichts sehnlicher wünschte, als eine Dusche, eine Trainingshose und einen Eimer Ben&Jerry’s-Eis, freute sie sich darauf, es anzuziehen.
„Wenn es nicht passt, werde ich es gleich ändern“, sagte Sebel pflichtbewusst und packte den Inhalt der Truhe sorgfältig in einen Schrank. „Ihr solltet Euch beeilen, das Abendessen beginnt bald.“
Jessy verzog das Gesicht. „Werde ich mit dem König essen?“ fragte sie besorgt. Eigentlich wollte sie ihre Ruhe haben und sich ausschlafen. Der Gedanke, sich dem gesamten Hofstaat präsentieren zu müssen, behagte ihr gar nicht. Aber sie hatte Hunger.
„Ihr seid Gast in der Burg“, antwortete Sebel verwundert. „Ihr werdet in der großen Halle essen, mit dem versammelten Adel und anderen Gästen des Königs.“
„Du meine Güte“, murmelte Jessy und begann, das Kleid, das Kyra ihr gegeben hatte, auszuziehen. Nach der Nacht im Kerker brauchte es dringend eine Wäsche. Sebel verschwand nach draußen und brachte dann einen kleinen Wassertrog herein. Ohne Scheu half sie Jessy beim Ausziehen und reichte ihr Seife und Handtuch. Dabei schwieg sie eisern. Es war Jessy beinahe unangenehm.
„Arbeitest du schon lange hier?“ fragte sie. Sebel schaute sie verwundert an, sie wurde wohl nicht oft etwas Persönliches gefragt.
„Seit ich zehn bin. Meine Eltern sind Kaufleute und haben diese Stelle für mich ergattert“, erzählte Sebel stolz. „Bis ich heirate werde ich den Hofdamen dienen. Es ist eine sehr gute Arbeit. Gibt es bei Euch keine Zofen?“
„Bitte, sprich mich doch mit Du an, ich bin nicht deine Herrin. Und nein, wir haben keine Zofen. Wir shampoonieren uns selbst. Meistens zumindest.“
Jessy lächelte und merkte gar nicht den verständnislosen Blick des Mädchens. Die duftende Seife und die frischen Kleider hoben ihre Stimmung gewaltig. Nach einer halben Stunde fühlte sie sich wie ein neuer Mensch.
Sie trug das blaue Kleid, das fast perfekt passte. Die engen Ärmel reichten bis auf die Handrücken, das Mieder brachte ihren Busen zur Geltung und der Stoff war kühl und weich. Dazu trug sie lederne Pantoffeln. Ihr Haar war gewaschen und gekämmt und obwohl es keinen Spiegel gab, in dem sie ihr Aussehen prüfen konnte, fühlte Jessy sich wieder ein wenig mehr wie sie selbst. Als Burgfräulein verkleidet, aber immerhin. Zumindest war sie nun gewappnet, sich den neugierigen Blicken der Höflinge zu stellen. Sie wollte nicht auffallen, wie ein bunter Hund.
„Vielen Dank, Sebel“, sagte sie. Das Mädchen senkte schüchtern den Blick. „Ich fühle mich tausendmal besser. Kann ich so gehen?“
„Ihr… Du siehst sehr hübsch aus“, sagte Sebel. „Jetzt aber schnell!“
Als sie die Tür öffnete, stieß Jessy, die sich enthusiastisch auf den Weg in die große Halle machen wollte, beinahe gegen einen Wachposten. Während sie sich entschuldigte, nahm der Mann wieder Haltung an. Natürlich, sie war immer noch eine Gefangene. Aber an die Tatsache, dass sie wahrscheinlich Tag und Nacht beobachtet wurde, würde Jessy sich erst einmal gewöhnen müssen.
Nur wenige Schritte weiter stand schon der nächste Bewacher. Es war ein junger Mann in der grau-schwarzen Uniform der Königsgarde, er lehnte mit verschränkten Armen an der Wand und hing seinen Gedanken nach. Als Jessy erschien, richtete er sich auf und grinste.
„Dennit, richtig?“ fragte Jessy. Er hatte sie zusammen mit Bosco im Wald aufgelesen. Nun verneigte er sich schief. In seinen dunklen Augen blitzte der Schalk und er hatte ein freches Gesicht, das ihn jünger erscheinen ließ, als er war. Jessy schätzte ihn auf Anfang zwanzig.
„Prinz Tychon schickt mich, dich in die Halle zu begleiten. Mit seinen besten Grüßen.“
„Und wie lautet dein Auftrag?“ fragte sie. „Mich zu schützen oder mich daran zu hindern, auf dem Weg über die Mauer zu klettern.“
Dennit blickte unschuldig drein, während er sie die Treppe hinunter zur Eingangstür des Hauses begleitete.
„Der Prinz möchte, dass du dich wohl fühlst. Er hatte vielleicht Sorge, dass du den Weg nicht findest.“
Jessy beschloss, es dabei zu belassen. Draußen herrschte drückende Hitze, es war fast dunkel und am Himmel hatten sich Wolken zusammengeballt. Die Luft war elektrisch aufgeladen durch das drohende Gewitter. Sie sehnte sich danach und hatte das Gefühl mit einem abkühlenden Regenschauer auch ihre eigene Anspannung der letzten beiden Tage etwas mildern zu können.
Die große Halle machte ihrem Namen alle Ehre. In dem riesigen, zwei Stockwerke hohen Raum fanden an langgestreckten Tafeln sicher weit über hundert Menschen Platz. Für einen Moment war Jessy schier erschlagen von dem Lärm der Gäste, die plaudernd ihre Plätze einnahmen und mit dem silbernen Geschirr klapperten. An den Wänden brannten Fackeln und auf den Tischen standen hohe Kerzenleuchter. Das Feuer und die vielen Leute trieben die Temperatur im Raum nach oben. Schon als Jessy nach wenigen Schritten ihren Platz erreichte, schwitzte sie. Über allem lag der Geruch nach Essen wie ein Schleier. Sobald sie sich gesetzt hatte, eilte eine Magd herbei und füllte ihren Becher mit Wein. Dankbar nahm sie einen Schluck des süßlichen kühlen Getränks. Dennit verschwand mit einem Augenzwinkern, bevor sie ihn bitten konnte, zu bleiben. Aber es gab eine strenge Sitzordnung, Männer und Frauen saßen getrennt an den gegenüberliegenden Tafeln eines langgestreckten Hufeisens. Der Abstand zwischen den Tischen verhinderte jede Unterhaltung. An der schmalen Seite des Hufeisens saßen der König und Tychon umringt von den Kronräten. Jessy saß zu weit entfernt um auch nur erahnen zu können, was dort gesprochen wurde. Sie entdeckte am Tisch gegenüber Albin, der den Blick auf die Tischdecke gerichtet hatte. Der Triumph, sie gerettet zu haben, hatte scheinbar nur kurz gewährt. Er wirkte völlig niedergeschlagen und als fühle er sich in diesem lauten, vollgestopften heißen Saal genauso unwohl, wie sie.
Das allgemeine Gemurmel ebbte ab und alle erhoben sich, als sich am Ende des Raums eine Tür öffnete und eine sehr schöne, hochgewachsene Frau eintrat. Das konnte nur die Königin sein. Sie hatte langes, weißblondes Haar und trug ein herrliches cremefarbenes Kleid mit goldenen Stickereien. Die Damen um Jessy herum sprachen murmelnd ihre Bewunderung aus.
„Sie ist eine Augenweide.“
„Ich könnte schwören, sie sieht keinen Tag älter aus als vor zehn Jahren.“
Voller Erhabenheit schritt die Königin zu ihrem Stuhl, den ihr der König selbst zurecht rückte. Hinter ihr war ein Mädchen eingetreten, das sich weniger würdevoll an den Tisch setzte, doch ebenso strahlend aussah. Jessy hätte sie beinahe nicht erkannt, doch es war eindeutig Ami, mit der sie im Stall geplaudert hatte. Nur jetzt war sie kunstvoll frisiert und mit Schmuck behängt und die Ähnlichkeit zu ihrer Mutter war deutlich zu erkennen. Ihre Miene jedoch war versteinert und düster.
Das Essen wurde aufgetragen und Jessy stürzte sich mit Heißhunger auf gebratenes Gemüse, das mit verschiedenen Soßen und Brot gereicht wurde. Danach gab es eine sämige Suppe mit Speck und als nächstes Hühnerbeine und Pastetchen. Als sie merkte, dass ihr Mieder bereits bedenklich spannte, lehnte Jessy sich zurück. Die Damen um sie herum nahmen nur kleine Häppchen und das hatte wohl seinen Grund.
„Wie viele Gänge gibt es denn?“ fragte sie ihre Nachbarin, eine junge blonde Frau, die sie bereits seit einer Weile musterte, aber sie bei ihrem Schmaus wohl nicht hatte stören wollen. Nun lächelte sie freundlich.
„Das war Nummer drei von neun. Ihr solltet vielleicht einen überspringen.“
„Oh je, ich glaube, ich überspringe besser alles bis zur Nachspeise“, antwortete Jessy grinsend.
„Ihr seid neu in der Eisenfaust?“ fragte die Dame. Jessy zögerte. Also hatte sich die Geschichte der geheimnisvollen Fremden mit den Zauberschuhen noch nicht herum gesprochen.
„Ja, das ist wahr. Ich komme nicht von hier.“
„Tatsächlich? Welches ist Euer Wappen?“
Mein Wappen? Jessy überlegte hektisch doch ihr fiel auf die Schnelle nichts ein außer dem Herrn der Ringe, den sie etwa zehn Mal gesehen hatte.
„Der weiße Baum von Gondor“, sagte sie und die Blonde nickte verständnisvoll, obwohl sie sicher noch nie davon gehört hatte. Jessy unterdrückte ein erleichtertes Schmunzeln.
„Nun, Ihr werdet feststellen, dass die Abende in der Halle etwas schleppend sein können“, erklärte ihre freundliche Nachbarin. „Doch der König besteht auf der Geschlechtertrennung beim Essen und die unverheirateten Damen ziehen sich auch früh zurück. Nicht gerade hilfreich, wenn man hier ist, um einen Ehemann auszusuchen.“
„Oh, ich suche keinen Ehemann“, sagte Jessy schnell und vergaß dabei, dass dies vielleicht eine gute Tarnung sein könnte. „Ihr etwa?“
Ihre Nachbarin errötete. „Ja, so ist es. Zwar entscheiden letzten Endes meine Eltern darüber, doch ich hoffe, jemandem ins Auge zu fallen, der mir auch gefällt.“
„Wie wäre es mit dem Prinzen?“ fragte Jessy und konnte nicht wiederstehen, sich einen in Soße schwimmenden Kloß von dem Teller zu angeln, der vor sie hingestellt worden war. Alles schmeckte einfach zu köstlich nach frischen Kräutern und fremden Gewürzen.
„Jede junge Frau in diesem Saal macht sich darauf Hoffnungen“, erwiderte die Blondine lächelnd. „Aber ich denke, er hat im Moment kein Auge für die Damenwelt.“
Sie wies auf die gegenüberliegende Bank und Jessy sah, dass Tychon die hohe Tafel verlassen und sich zu einigen jungen Männern gesetzt hatte, die sich lärmend unterhielten. Einige von ihnen hatten den Soldatenhaarschnitt, andere waren kostbar und bunt gekleidet. Tychon diskutierte heftig, lachte, klopfte auf Schultern. Er war wirklich äußerst charmant und alle schienen ihn zu mögen.
Ein paar Plätze entfernt saß Albin, komplett ausgeschlossen von jeder Unterhaltung. Er starrte gebannt hinauf zum König und vergaß dabei das Essen, das er mechanisch in sich hinein geschaufelt hatte. Jessy folgte seinem Blick und erkannte, dass es die Prinzessin war, die er anstarrte. Sicher hatte sie mehr Verehrer, als sie ahnte.
Amileehna stocherte lustlos in ihrem Essen und sprach mit niemandem. Sie verdrehte die Augen und wippte ungeduldig mit den Knien. Der Inbegriff eines trotzigen Teenagers, den die bloße Anwesenheit von Erwachsenen in den Wahnsinn treibt.
Jessy plauderte noch zwei weitere Gänge mit ihrer Nachbarin, bis diese sich verabschiedete. Es waren schon einige Plätze auf ihrer Seite der Tafel leer geworden und Jessy merkte, dass die Musik von Geigen und Flöten lauter und die Gespräche ausgelassener geworden waren. Sie hatte einige Becher Wein getrunken und ihr Bauch war prall gefüllt. Sie würde jeden Augenblick von der Bank kippen. Die heiße, stickige Luft machte das Schwindelgefühl nicht gerade besser. Vielleicht sollte sie auch gehen.
Da erschien jemand hinter ihr und sie drehte sich halb herum.
„Darf ich mich einen Moment setzen?“ Es war Tychon.
Nachdem die Königin den Saal verlassen hatte, war die Trennung von Mann und Frau offenbar aufgehoben. Jessy nickte lächelnd, obwohl sie eigentlich zu müde für diplomatische Gespräche war.
„Ich möchte mich für die Nacht im Kerker entschuldigen“, sagte er. „Du musst Schlimmes von uns denken, wenn wir Fremde einfach so einsperren ohne sie zu Wort kommen zu lassen.“
„Ist schon vergessen. Ihr hattet allen Grund misstrauisch zu sein“, antwortete sie. Eigentlich war sie wütend und fühlte sich gedemütigt. Doch Tychon wollte sie nicht vor den Kopf stoßen. Immerhin war er ihr großer Fürsprecher.
„Bist du mit deinen Gemächern zufrieden?“
„Alles ist sehr schön, danke. Und bitte dankt der Königin und ihren Damen auch für die Kleider. Das war wirklich sehr nett.“
Nach einem Moment des Zögerns sagte sie: „Ich will wirklich versuchen, Euch zu helfen, aber ich weiß nicht, ob ich das kann.“
Es erschien ihr unmöglich, ihm etwas vorzuspielen. Seine hellblauen Augen waren ohne jede Hinterlist und er hörte ihr sehr interessiert und mit voller Konzentration zu. Nun nickte er bedrückt.
„Wir tappen völlig im Dunkeln. Alles, was du uns sagen kannst, wird hilfreich sein. Die Gegenstände, die auftauchen sind nicht das Schlimmste. Die Menschen ängstigen sich sehr vor den lärmenden Geräuschen bei Nacht und den Lichtblitzen am Horizont. Manchmal strömen erstickende Gerüche durch die Täler, es scheint, als kämen sie aus der Erde. Die Westländer sind ein besonnenes Volk, sie geraten nicht leicht in Panik. Aber der Krieg hat viele Narben hinterlassen und wir wollen auf jeden Fall vermeiden, dass Gerüchte laut werden, die Magier seien an allem Schuld. Auch wenn Leute wie Fabesto und auch mein Vater am liebsten wieder zu den Waffen greifen würden – ich glaube nicht, dass wir dieser Gefahr mit dem Schwert begegnen können.“
„Ihr habt keinen besonders leichten Stand im Kronrat, wie mir scheint“, sagte Jessy vorsichtig. Er grinste schief.
„Das ist wahr. Mein Vater ist ein weiser und guter König. Aber die Räte haben ihn überflügelt in ihrer Gier nach Macht und Reichtum. Und obwohl wir, seine Vertrauten, es ihm immer wieder sagen, will er es nicht wahrhaben. Die Räte, allen voran Morian, sind es auch, die meine Reise verhindern wollen.“
„Eine Reise in den Süden, nicht wahr? Ich habe schon davon gehört“, sagte Jessy. Es war erstaunlich, wie offen und arglos er mit ihr – einer völlig Fremden – über die Regierungsgeheimnisse seines Landes sprach. Nun leuchtete sein Gesicht vor unterdrückter Begeisterung auf.
„Ja, ich will nach Südland reisen um dort herauszufinden, ob es ebensolche Phänomene gibt, wie bei uns. Und wie dagegen vorgegangen wird. Seit vielen Jahren gab es keine diplomatische Mission mehr dorthin, wir treiben nur Handel mit den Südländern. Die Kronräte haben Angst, ich könnte jemanden verärgern und ihre lukrativen Beziehungen schädigen. Und mein Vater findet es zu gefährlich. Aber er befürchtet auch, dass mich jeder herunterfallende Ast erschlagen könnte.“
Er schwieg für einen Moment. Die ganze Sache schien ihn sehr zu beschäftigen.
„Aber Rheys sagt, wir können es wagen, mit kleinem Gefolge und schnellen Pferden. Er kann das gut beurteilen.“
„Kaum zu glauben, dass dieser Mensch Euer Freund ist. Immerhin seid Ihr nett und er…“
Tychon lächelte. „Er hat eine etwas schroffe Art, das stimmt. Aber er hat mich zum Krieger ausgebildet und sein Verstand ist messerscharf. Männer wie er sollten im Kronrat sitzen.“
Jessy schwieg. Ihre Gedanken wurden träge und sie schwitzte entsetzlich. Hoffentlich war die Unterhaltung bald beendet.
„Du wirst bald viele Gespräche mit meinem Vater führen. Ich bitte dich, setz dich für unsere Sache ein, wenn du kannst. Wir müssen diese Reise antreten. Er wird deinem Wort sicher einiges Gewicht beimessen.“
Nun fühlte Jessy sich wirklich unwohl. In diesen Streit zwischen Vater und Sohn, in dem es offenbar um viel mehr ging, als um eine Reise, wollte sie eigentlich nicht hineingezogen werden.
„Ich glaube nicht, dass er auf mich hören wird. Zumindest nicht in diesem Punkt.“
„Wenn du es versuchst, wäre ich schon dankbar“, antwortete Tychon und strahlte sie an. Es war wirklich schwer, sich seiner gewinnenden Art zu entziehen. Kein Wunder, dass so viele Menschen ihn liebten.
„Ich würde jetzt gerne gehen. Ich bin sehr müde.“
„Natürlich“, sagte er eilig und erhob sich. Auf sein Winken hin, schoss ein großer Mann aus der Königsgarde an seine Seite um Jessy zu begleiten.
Er führte sie durch die Vorhalle, wo Wachen und Diener saßen, die keinen Dienst hatten und Jessy war froh, nicht alleine an den Männern vorbeigehen zu müssen. Der würzige Geruch nach Bier hing schwer in der Luft. Sie stießen eine Tür auf und waren ganz plötzlich im Freien. Doch hier herrschte keine erlösende Ruhe.
Mittlerweile war ein Gewitter losgebrochen und es regnete heftig. Trotzdem war die Luft noch nicht abgekühlt. Blitze zuckten über den Himmel und warfen gespenstische Lichter auf die Burg. Der Donner klang weit entfernt. Jessy wollte nichts lieber als in ihr Zimmer, doch dazu mussten sie noch quer über den aufgeweichten finsteren Burghof laufen.
„Wir sollten uns beeilen“, sagte er Mann an ihrer Seite und bot ihr seinen starken Arm an. Zusammen liefen sie los in den strömenden Regen.
Ihre Schuhe versanken im Schlamm und das Wasser, das über ihr Gesicht strömte machte sie blind. Sie verlor völlig die Orientierung. Da ertönte ein gewaltiges Zischen und Donnern. Die Erde bebte unter ihren Füßen. Ihr Begleiter zog Jessy in den Schutz einer Mauer, es musste der Bergfried sein, der in der Mitte des Hofs lag. Der ohrenbetäubende Lärm hörte nicht auf, immer wieder rollte er über die Burg hinweg. Die ersten Menschen liefen aus dem Palastgebäude nach draußen um zu sehen, was vor sich ging. Jessy drehte sich der Magen um, als sie die verzweifelten Rufe hörte. Sie blickte nach oben. Der Regen hatte ganz plötzlich aufgehört. Am Himmel war nichts zusehen außer schwarzen Wolken. Doch das waren eindeutig Düsenjets, die über den Himmel sausten. Für einen hoffnungsvollen Moment dachte sie, jemand komme um sie abzuholen. Aber es waren viel zu viele, das Dröhnen nahm überhaupt kein Ende. Sie hätte sich am liebsten die Ohren zugehalten. Die Flugzeuge schienen so tief zu fliegen, als würden sie jeden Augenblick die Zinnen der Burg streifen.
„Das ist doch nicht möglich“, sagte Jessy laut. „Ganz unmöglich.“
Eine große Menschenschar hatte sich draußen versammelt, Fackeln wurden angezündet. Damen kreischten und viele rannten verwirrt hin und her. Sie rechneten mit einem Angriff von oben. Von etwas, das sie nicht kannten, womöglich wilden Ungeheuern aus dem Norden.
Die Erde bebte immer wieder und es taten sich sogar schnalzend Risse im Mauerwerk auf. Steine lösten sich von den Zinnen und stürzten scheppernd in den Hof. Sogar der König stand im Freien und starrte zum Himmel. Doch dort war nach wie vor nichts zu sehen. Als endlich das letzte Dröhnen langsam verklang, fiepte es in Jessys Ohren. Sie schüttelte den Kopf, um das Klingeln zu vertreiben. Nun wollte sie wirklich nur noch ins Bett und beten, dass sie morgen zuhause aufwachte.
Als sich in der Luft nichts mehr regte außer ein paar wenigen und völlig natürlichen Donnerschlägen, zog sich der Hofstaat langsam zurück.
„Alles in Ordnung?“ fragte ihr Begleiter. Er war nicht in Panik geraten, doch in seinen Augen sah sie tiefe Beunruhigung. Jessy nickte und gemeinsam erreichten sie das Prinzenhaus, wie der Gästetrakt genannt wurde.
An der Tür bedankte sich Jessy mit kratziger Stimme und schlüpfte dann in ihr Zimmer. Im Kamin brannte ein Feuer, das tröstliches Licht spendete. Hatte sie zuvor noch geschwitzt, fror sie jetzt entsetzlich in dem pitschnassen Kleid, das ihr am Körper klebte wie eine zweite Haut. Gerade wollte sie das entsetzliche Ding abstreifen, als es energisch an der Tür klopfte. Ohne auf Antwort zu warten, riss der Besucher sie auf.
„Der König möchte dich sofort sprechen“, tönte die strenge Stimme von Rheys. Jessy zuckte unwillkürlich zusammen beim Klang dieses Befehls.
„Darf ich mir etwas anderes anziehen? Es dauert nur eine Minute“, sagte sie. Der große Mann starrte sie an, als habe er ihre Worte kaum verstanden.
„Nein, komm jetzt. Alle anderen werden auch nass sein.“
Tatsächlich waren seine eigenen Kleider ebenfalls vom Regen durchtränkt und Tropfen rannen aus seinem kurzen schwarzen Haar in die Stirn.
Ohne ein weiteres Wort folgte sie ihm hinaus. Der träge Schwindel und die beginnenden Kopfschmerzen waren verflogen, doch nun hatte sie ganz andere Sorgen. Hoffentlich gab niemand ihr die Schuld an diesem Chaos. Und wie sollte sie erklären, dass unsichtbare Kampfjets über die mittelalterliche Burg hinweg gejagt waren?
Rheys führte sie tief in die Eingeweide des Königspalastes, durch unzählige Gänge und um so viele Ecken, dass sie allein nicht mehr hinausfinden würde. Auf dem Weg begegnete ihnen niemand. Die Bewohner hatten sich wohl alle in ihrer Panik ins Bett verkrochen. Wie gerne wollte Jessy es ihnen gleichtun. Vor einer verschlossenen Tür blieben sie stehen.
„Sprich erst, wenn jemand das Wort an dich richtet“, sagte Rheys. Im schwachen Licht der wenigen Fackeln, die an den Steinwänden steckten, wirkte seine Gestalt noch düsterer und furchterregender.
Dann traten sie ein. Der Raum empfing sie mit behaglicher Wärme aus einem riesigen Kamin, die sich in dicken Teppichen und Wandbehängen fing. Wenigstens würde Jessy so nicht an Unterkühlung sterben. Doch die angespannte Stimmung war deutlich zu spüren. Um einen großen Tisch standen der König, Tychon sowie Fabesto, Morian und der Greis aus dem Kronrat. Jessy wollte am liebsten umkehren. Die Männer diskutierten lautstark.
„Da ist sie ja“, sagte der König, als er Jessy sah. Tiefe Furchen hatten sich in sein Gesicht eingegraben. „Sprich, Kind. Was kannst du uns über diesen Krach sagen? Du musst wissen, was das war.“
Jessy schluckte. Genau das hatte sie befürchtet. Alle Männer starrten sie an.
„Ich kenne Geräusche dieser Art“, begann sie zögerlich. „Sie stammen von großen Maschinen, mit denen...“
Ja was? Mit denen man durch die Luft fliegen kann, schneller als der Schall? Das konnte sie nicht sagen, die Angst vor einem vermeintlichen Scheiterhaufen schwelte immer noch in ihrem Hinterkopf.
„Sind sie gefährlich?“ fragte der Greis.
„Sie können gefährlich sein. Aber ich konnte sie nicht sehen, wahrscheinlich waren sie weit entfernt.“
„Ein Angriff aus der Luft“, sagte der König. Plötzlich sah er alt und hager aus. „Große Mutter, steh uns bei.“
„Wir sollten die Armee bereit machen, Herr“, sagte Fabesto mit geballten Fäusten. „Die Männer von Westland werden Eurem Ruf augenblicklich folgen.“
„Ich denke, das ist ein bisschen übertrieben, nicht wahr?“ warf Morian ein. Seine Stimme klang so, als rede er zu einer Meute verschreckter Kinder. „Die junge Dame sagte, es könnte gefährlich sein. Und ein Feldzug gegen unsichtbare Feinde? Bei allem Respekt für Eure Männer, Fabesto.“
„Es ist nur ein Possenspiel der vermaledeiten Magier, sage ich euch!“ Der alte Kronrat stand schwer gebeugt auf einen knorrigen Stab gestützt. Der Feuerschein glänzte auf seinem kahlen Schädel. „Sie wollen uns erschrecken und den König zu unüberlegten Handlungen treiben! Ich sage, wir finden sie und rotten sie endlich aus, jeden einzelnen von ihnen!“ Er hieb mit der dürren Faust in die Luft und geriet dabei gefährlich ins Schwanken.
Nun trat ein Mann vor, der Jessy gar nicht aufgefallen war, so still und unauffällig hatte er sich im Schatten verborgen.
„Vielleicht dürfte ich etwas dazu sagen“, sagte er höflich. Es war der dünne Mann, der Jessy im Kerker den leuchtenden Schmetterling geschenkt hatte. Der Überläufer. Bei Lichte betrachtet sah er beinahe aus wie ein Insekt. Sein mausgraues Haar klebte ihm an Schädel, seine schmalen Augen huschten hin und her. Es war unmöglich, sein Alter zu schätzen.
„Nicht einmal Skarphedinn ist in der Lage, solche Dinge zu erschaffen oder zu steuern. Nicht ohne Hilfe. Die Westland-Magier sind in alle Winde zerstreut. Ihre Macht müsste erst langsam wieder aufgebaut werden, um Ovesta ernsthaft angreifen zu können. Ich bezweifle stark, dass es sich hier um ein magisches Phänomen handelt.“
Der König ging nun unruhig auf und ab, die Hände entweder auf dem Rücken verschränkt oder ungeduldig über seinen weißen Bart streichend. Vor Jessy blieb er stehen und packte sie bei den Schultern.
„Weißt du nicht mehr, Mädchen? Nun rede doch! Gib deine Geheimnisse preis!“
Jessy wollte sich losreißen, doch sie sah die Verzweiflung in den blauen Augen des alten Mannes. Er hatte Angst und wusste nicht mehr, was zu tun war.
„Ich habe Euch alles gesagt, was ich weiß. Ich glaube nicht, dass Eurem Volk Gefahr droht. Aber woher die Maschinen gekommen sind und ob sie wieder kommen, kann ich Euch nicht sagen.“ Für einen Moment musste sie an all die schrecklichen Kriegsbilder denken, die sie gesehen hatte und in denen ebensolche Flugzeuge Tod und Zerstörung brachten. Doch selbst wenn sie dem König davon berichtete – was konnten diese Menschen schon tun? Wie hätten sie sich wehren können? Jessy wandte den Blick ab.
Tychon hatte sich genähert und versuchte behutsam, seinen Vater von ihr wegzuziehen.
„Vater, sie spricht sicher die Wahrheit. Beruhige dich, wir werden eine Lösung finden“, sagte er leise und führte den alten Mann zurück an den Schreibtisch.
„Vielleicht kann man Skarphedinn ausfindig machen und mit ihm sprechen. Wenn er etwas im Schilde führt können wir vielleicht einen Weg finden...“
Der König schlug mit solcher Wucht die Faust auf die Tischplatte, dass alle zusammenzuckten und die silbernen Becher klirrten.
„Nein! Mit diesen Unmenschen werden wir nicht verhandeln. Nicht ein Wort!“ brüllte er.
Niemand wagte, auch nur den Blick zu heben.
„Dann lass mich in den Süden reisen, bei allen Geistern!“ rief Tychon eindringlich und warf die Hände in die Luft. „Dort gibt es weise Männer, die wir um Rat fragen können! Vielleicht passieren genau dieselben Dinge auch dort! Und selbst wenn nicht – mit den Südlanden als Verbündete können wir uns gegen einen Angreifer zur Wehr setzen!“
„Das Südland ist niemals unser Verbündeter gewesen, Herr“, sagte der Greis. Seine Stimme klang giftig. „In der Stunde unserer schlimmsten Not haben sie sich abgewandt. Von dort ist nichts Gutes zu erwarten.
„Das mag sein, alter Mann“, meinte Morian. Jessy sah wieder dieses dünne Lächeln um seine Lippen spielen. „Aber heute sieht es vielleicht ganz anders aus. Der letzte Besuch beim Fürsten liegt lange zurück. Warum nicht einen Anstandsbesuch machen?“
Tychon schaute verwirrt auf. Die erneute Unterstützung von dieser Seite kam völlig unerwartet. Morian zwinkerte ihm sogar zu, eine herablassende Geste, die Jessy unverschämt fand. Dann richteten sich alle Blicke auf den König. Er hatte sich inzwischen erschöpft auf einem Stuhl niedergelassen.
„Fabesto, wie beurteilst du die Sicherheit einer solchen Reise? Haben wir genügend Männer um den Prinzen ausreichend zu schützen?“
Fabesto richtete sich auf. „Die Garde hat nie aus besseren Männern bestanden.“ Er wies auf Rheys, der die ganze Zeit schweigend an der Tür gestanden hatte. „Was meinst du, Rheys?“
Jessy wandte sich halb um. Seine Miene war undurchdringlich. Die Lippen fest aufeinander gepresst wechselte er einen langen Blick mit Tychon. Dann seufzte er.
„Ein kleiner, schneller Trupp kann kaum Feinde anlocken“, sagte er. „Die Reise sollte geheim bleiben, so lang es geht. Euer Sohn braucht keinen Schutz, er selbst ist ein guter Krieger. Doch wenn Gefahr droht, werden die Wölfe mit Schwert und Bogen sein Leben verteidigen.“
Auf Tychons Gesicht breitete sich ein strahlendes Lächeln aus. „Da hörst du es, Vater!“
Der König schwieg noch einen Moment. Dann nickte er kaum merklich, aber es wirkte nicht, als sei er mit seiner Entscheidung zufrieden.
„Stellt eine Reisegruppe zusammen“, murmelte er dann.
„Ich danke dir, Vater“, sagte Tychon leise. Die Freude schien förmlich aus ihm heraus zu sprühen. Er wirkte so kindlich, dass Jessy sich kaum vorstellen konnte, wie er einen Staatsbesuch absolvierte.
„Es ist spät geworden. Geht alle zu Bett“, befahl der König und die Männer verneigten und entfernten sich wortlos. Als Jessy sich abwenden wollte sagte er:
„Ich danke dir für deinen Rat. Gute Nacht.“
Jessy nickte unverbindlich. Sie konnte nicht anders, irgendwie hatte sie ein sehr schlechtes Gefühl in der Magengegend. Aber vielleicht würde der Prinz von seiner Reise ins Morgenland ja genau die Information mitbringen, die ihr zu ihrer Heimkehr verhalf?
Während Rheys sie zurück zu ihrem Zimmer brachte, sprach er kein Wort. Bei ihrem kurzen Weg über den Hof schaute Jessy zum Himmel auf. Die Wolken hatten sich verzogen und die Sterne strahlten in tausendfachem silbernem Schimmer. Alles war friedlich und nichts regte sich dort oben. Oder konnte sie vielleicht einfach nur nicht sehen, was sich zusammenbraute?