Читать книгу Land der Wölfe - Julia Adamek - Страница 6
Kapitel
ОглавлениеJessy stieß eine Tür auf und stürmte ins Freie. Kühler Wind strich über ihr erhitztes Gesicht und die Schönheit des Abendhimmels zog für einen Augenblick all ihre Aufmerksamkeit auf sich. In dem Wunsch, allein zu sein, war sie blindlings viele finstere Treppen hinauf gestürmt und schließlich oben auf dem Wehrgang gelandet. Brusthohe Zinnen krönten die Mauer, die die ganze Burg umgab. Das Gewimmel in den Gängen und im Hof schien plötzlich weit entfernt. Um sie her war alles erfüllt vom orange-roten Strahlen der schwindenden Sonne und hinter den rosa getupften Wolkenbergen leuchtete das erste tiefe Blau der Nacht auf. Doch ihre Rührung angesichts dieses herrlichen Sonnenuntergangs währte nur kurz.
Wut und Verzweiflung hatten sie durch das fremde Gemäuer getrieben und allem voran – das wagte sie sich jetzt einzugestehen – war es Angst. Sie musste ihre Gedanken ordnen und bei der Vorstellung, beim Abendessen in der großen Halle zu erscheinen und Artigkeiten auszutauschen, wurde ihr schlecht. Außerdem konnte sie sicher nichts essen. Ein glühender Kloß pulsierte in ihrem Bauch. Gott sei Dank war hier oben niemand zu sehen außer gemächlich dahin schreitenden Wachposten, die in die Ferne blickten. Jessy setzte sich mit dem Rücken an die Mauer gelehnt auf den Boden und zog die Knie an die Brust. Ihre Hände zitterten.
Am Vormittag hatte man ihr die Nachricht überbracht, dass sie Tychons Expedition ins Südland begleiten würde. Als Beraterin für den Prinzen. Sofort hatte Jessy abgelehnt. Sie konnte hier nicht fort gehen! Falls es für sie irgendeinen Weg nach Hause gab, dann begann er hier, in diesem Wald, in dem sie gelandet war. Sich von dem Punkt ihrer seltsamen Ankunft zu entfernen erschien ihr völlig absurd. Denn das würde auch bedeuten, dass sie noch tiefer in diese Welt vordringen würde, die sie doch so schnell wie möglich verlassen wollte. Sie wusste nicht, was noch geschehen würde und hier in diesen Mauern fühlte sie sich halbwegs sicher. Hier konnte sie warten und Pläne schmieden. Aber auf einer Reise durch völlige Fremde, die noch dazu wahrscheinlich nicht ungefährlich war, war sie ihren Begleitern komplett ausgeliefert. Eine hilflose Geisel und nicht mehr ansatzweise Herrin ihrer Lage.
Niemand wollte jedoch auf ihre Einwände hören. Sie war tatsächlich eine Gefangene und hatte ihr Recht auf eigene Entscheidungen eingebüßt. Am Nachmittag hatte sie es endlich durch beinahe hysterisches Betteln geschafft, dass man sie zu Tychon vorließ. Er empfing sie in einem schönen Wohnzimmer mit Wandteppichen und polierten Holzmöbeln und sah aus wie der strahlende Morgen, jetzt da seine Wünsche in Erfüllung gegangen waren. Sie kam sich in ihrer Wut beinahe lächerlich vor, wie sie mit rotem Kopf und zerzausten Haaren vor ihm stand und ihm sagte, dass sie auf gar keinen Fall mitkommen könne.
Tychon war sichtlich betrübt von ihrem Widerwillen.
„Siehst du nicht, dass wir am selben Strang ziehen?“ fragte er eindringlich. „Ich suche Antworten auf all die Fragen, die auch deine sind! Antworten, die dich nach Hause bringen können. Und ich versichere dir, in der Obhut der Wölfe wird unsere Reise so sicher sein wie nur möglich.“
Er wies auf Rheys, der stumm wie ein Standbild am Fenster stand und sie anstarrte. Sie erwiderte seinen ausdruckslosen Blick böse. Der Gedanke, ständig in der Gegenwart dieses Mannes sein zu müssen, machte alles noch unerträglicher.
„Was ist, wenn jemand kommt um mich zu holen? Dann werde ich nicht hier sein!“ sagte sie. Tychon schaute sie fast mitleidig an.
„Unglücklicherweise ist es nicht allein meine Entscheidung. Der Kronrat und der König sind sich einig, dass du auf dieser Mission eine große Hilfe sein kannst.“
„Scheiß auf den Kronrat“, murmelte Jessy und Tychon überhörte es glücklicherweise. Doch aus dem Augenwinkel sah sie eine verräterische Bewegung, als Rheys sich aufrichtete. Er hatte sie genau gehört, der Mann musste Ohren wie ein Luchs haben.
„Also habe ich nichts dazu zu sagen? Ihr werdet mich mitschleppen, auch gegen meinen Willen?“
„Es tut mir Leid, dass du es so siehst“, antwortete Tychon und sein Tonfall machte deutlich, dass er nicht länger mit ihr diskutieren wollte. „Aber ja.“
Jessy stürmte hinaus, zutiefst empört über diese Art der Bevormundung. Nun, nachdem sie dieses halbwegs stille Plätzchen unter den langsam aufleuchtenden Sternen gefunden hatte, beruhigte sich in Inneres etwas. Die Wut wich nun vollends der Furcht. Alles was sie gehört hatte über die Kriege, über diesen Skarphedinn und nicht zuletzt der schreckliche unsichtbare Luftangriff in der Nacht machte ihr große Angst. Egal, wohin all das führte – sie würde mittendrin sein, wenn der Sturm losbrach, daran bestand kein Zweifel.
Sie stützte die Stirn auf die geballten Fäuste. Langsam wurde ihr ein wenig schwarz vor Augen. Ein Traum, ein Traum, ein Traum, es ist alles nur ein verdammter Traum… Doch das Mantra half nicht, die harten Steine in ihrem Rücken aufzulösen oder den Duft nach Essen in der Luft, der aus dem Hof aufstieg. Es blieb alles real und ihre Situation blieb es auch. Und sie hockte hier wie ein Häufchen Elend.
Ein plötzliches Geräusch ließ sie aufblicken. Es war noch hell genug um ohne Fackelschein deutlich zu erkennen, wo die Wachen sich bewegten. Doch der Laut, es war eindeutig ein Schluchzen gewesen, kam aus einer anderen Richtung, wo bereits der Schatten des Bergfrieds Dunkelheit auf den Wehrgang warf. Jessy richtete sich auf. Dort drüben machte sie eine schwerfällige Bewegung aus, als versuche jemand, etwas Großes über die Mauer zu werfen. Jessy kam auf die Füße und warf einen Blick hinunter. Die Mauer reichte ihr bis zur Brust und tief unten lag ein steiniger Abhang, an dessen Grund die Wiesen und Weiden sich bereits im Dunkelblau der Dämmerung erstreckten. Plötzlich hatte sie ein Gefühl von drohendem Unheil, als beobachte man, wie ein kleines Kind ungeschützt auf eine Straße zuläuft.
Entschlossen ging sie vorwärts und erkannte, dass jemand versuchte, auf die Mauer zu klettern. Nun hörte sie auch das erstickte Weinen und das Keuchen. Die Person hatte alle Mühe, sich zwischen den Zinnen hinauf zu wuchten. Bunt gemusterte Kleider leuchteten im Halbdunkel auf.
„Was tust du da?“
Die Gestalt erstarrte und Albin wandte ihr sein kalkweißes Gesicht zu. Seine Augen waren schreckgeweitet. Er hing mit dem Oberkörper auf der Mauer, schaffte es aber nicht, die Beine nach zu ziehen.
„Verschwinde“, knurrte er. „Das geht dich nichts an.“ Seine Stimme war heiser vom Weinen.
„Willst du da etwa runter springen?“ fragte Jessy fassungslos.
„Geh weg!“ rief er. „Vergiss, dass du mich gesehen hast.“
Jessy schwieg und beobachtete ein paar Sekunden, wie er weiter versuchte sich in eine günstige Position zu bringen. Dann wurde ihm offenbar klar, dass es so nicht gehen würde und er ließ sich schwer wie ein Sandsack zurück auf den Boden fallen. Dort sank er in sich zusammen.
Seine Verzweiflung hing wie ein bitterer Geruch in der Luft und plötzlich kam sich Jessy dumm vor, weil sie so hysterisch geworden war. Sie war eine erwachsene Frau, sie konnte sich vieler Dinge erwehren und sie würde schon einen Ausweg finden. Er hingegen, schien keinen Funken Hoffnung in sich zu haben. Warum sonst sollte ein Sechzehnjähriger von einer Mauer springen wollen?
„Ich bin sogar zu unfähig um mich umzubringen“, murmelte er schließlich. Jessy wertete es als gutes Zeichen, dass er redete und setzte sich in einigem Abstand neben ihn.
„Ich hatte nicht den Eindruck, dass du unfähig bist“, sagte sie.
„Dann eben zu fett“, fuhr er sie an. „Und auch noch zu feige. Das ist ungefähr das hundertste Mal, dass ich es versuche. Aber heute wollte ich es wirklich.“
Stumme Tränen liefen über seine Wangen und er tat Jessy unendlich leid.
„Warum heute?“
„Mein Vater schickt mich auf die verfluchte Südland-Reise. Damit ich endlich zum Mann werde. Hah. Er wird schon sehen, was er davon hat, wenn ich in einem Leichensack zurückkehre.“
Jessy schauderte. „Ist es wirklich so gefährlich?“
„Ich kann das nicht, ich kann das nicht“, sagte Albin. Er nahm Jessy überhaupt nicht richtig wahr, so verstrickt war er in seinen Kummer. „Reiten und kämpfen, im Freien schlafen… Es wird sein wie im Kriegerlager, ein einziger Albtraum. Sie werden mich peinigen und verspotten und ich werde mich in allem lächerlich machen. Am Ende wird der Tod eine Erlösung sein. Vielleicht wird mich ein Felsenbär erwischen oder ich stürze einfach in eine Schlucht. Oder breche mir den Hals, wenn ich vom Pferd falle. Eins ist sicher, ich werde nicht zurückkommen.“
„Und um dir das zu ersparen, wolltest du dich umbringen? Kannst du nicht deinem Vater sagen, dass du es nicht willst?“ Jessy kannte die Antwort auf die Frage, als Albin sie mit bitterem Blick aus seinen großen Augen anstarrte.
„Mein Vater… Ich glaube, es wäre ihm gar nicht unrecht, wenn ich irgendwo in der Wüste umkomme. Dann könnte er sagen, ich bin als tapferer Gesandter an Tychons Seite gestorben. Das wäre weniger peinlich für ihn, als ein lebender Sohn, der fett und ungeschickt ist und niemals ein Krieger werden wird. Und auch kein weiser Staatsmann, weil er den Mund nicht aufbekommt, wenn es sein muss. Es wäre für alle die beste Lösung.“
„Ich könnte ja auf dich aufpassen“, sagte sie. „Wie es der Zufall will, werde ich auch auf diese Reise mitgeschleppt – gegen meinen Willen. Und ich habe nicht vor in der Wüste umzukommen oder wo auch immer man uns hinführen wird.“
Nun war Albin überrascht. Doch er zögerte, vielleicht fürchtete er, dass sie ihn auf den Arm nehmen wollte. Jessy rückte ein wenig näher.
„Zwar bin ich keine Kriegerin, aber ich kann Steine auf Felsenbären werfen– was auch immer das ist. Und wenn dir einer dumm kommt, weiß ich einige Tricks, mit denen man aufgeplusterte Männer in die Schranken weist.“
Die Spur eines Lächelns huschte über Albins Gesicht und Jessy atmete auf. Die Gefahr schien für den Moment gebannt. Ein Kreischen ließ sie aufschrecken. Es war fast dunkel und die Fackeln und Feuerbecken waren entzündet worden, damit die Wachen nicht über ihre Füße stolperten. Albin hatte die Stimme sofort erkannt und sprang überraschend wendig auf die Beine.
„Die Prinzessin“, hauchte er.
Jessy sah die zierliche Gestalt mit dem wallenden weißblonden Haar durch den Feuerschein huschen. Ihr Weinen war laut und dramatisch, ganz anders als Albins leiser Kummer.
„Sie kommt auch oft hier herauf, wenn sie traurig ist“, sagte Albin nunmehr ganz gefesselt von ihrem Anblick. Und in der Tat sah sie aus wie ein elfenhaftes Wesen aus einer anderen Welt. Hinter ihr kam Tychon heraus, diesmal ohne seine getreuen Gardisten als Schatten. Anscheinend war das hier ein Privatgespräch.
„Komm sofort hier her“, zischte er. „Du benimmst dich wie ein hysterisches Dienstmädchen!“
„Niemand hier liebt mich! Niemand versteht mich oder hört mir zu! Nicht einmal du!“ kreischte sie ihm entgegen. Die Wachen entfernten sich unauffällig. Solche Vorfälle gab es wohl häufiger.
„Das ist doch Unsinn, Ami, wir alle lieben dich. Aber es ist viel zu gefährlich, das musst du doch einsehen. Das ist keine Spazierfahrt durch die westländischen Wälder. Teile der Route kennen wir nur von sehr alten Karten, wir wissen überhaupt nicht, was auf uns zukommt. Oder wie wir in Samatuska empfangen werden.“
Na, das kann ja heiter werden, dachte Jessy.
„Es wäre völlig unverantwortlich, dich mitzunehmen.“
Nun eilte Amileehna auf ihren Bruder zu und packte seine Arme.
„Aber ich kann reiten, ich kann kämpfen! Du weißt es! Ich würde niemandem zur Last fallen! Kann ich nicht nur ein einziges Mal ein Abenteuer erleben? Einmal in meinem Leben, bevor ich endgültig eingesperrt werde?“
„Eine Ehe ist kein Gefängnis, Amileehna“, sagte er streng.
Abenteuer… Das Wort hallte seltsam intensiv in Jessys Innerem wider.
„Du weißt, was ich meine. Bitte, Tychon, bitte! Rede mit Vater, er muss es erlauben.“
Der Prinz haderte mit sich. Sicher war es schwer, dem Mädchen etwas abzuschlagen.
„Es geht nicht, Ami. Tut mir Leid. Ich kann die Verantwortung für dich nicht übernehmen. Du bist zu wertvoll für Vater – und für Westland. Nimm an, mir passiert etwas. Dann bist du die zukünftige Königin!“
Das brachte Amileehna kurz zum Grübeln. Dann wandte sie sich ab und weinte wieder.
„Niemand hat mich je gefragt, ob ich das auch sein will“, schluchzte sie.
„Hör mir damit auf, ja?“ sagte Tychon zornig. „Es ist nun mal, wie es ist und du solltest dankbar sein. Sogar die Diener fangen schon an über dich zu tratschen. Du wirst lernen müssen, dich zu fügen. Während ich weg bin, wirst du versuchen, Vater keinen Kummer zu machen. Versprich es mir.“
Amileehna hatte sich abgewandt und weinte bitterlich in die verschränkten Arme.
Nach einer Weile ging Tychon fort, seine Schwester antwortete ihm nicht mehr.
„Wir sollten gehen“, raunte Jessy. „Es ist nicht richtig, sie so zu beobachten.“
Albin nickte abwesend und gemeinsam schlichen sie zur nächsten Tür, die sie in ein dunkles Treppenhaus führte. Unten angekommen klopfte Jessy auf Albins Schulter.
„Mach dir keine Sorgen mehr. Es wird schon alles gut gehen. Sieh es wie die Prinzessin – als Abenteuer.“
Sie versuchte, aufmunternd zu lächeln, aber es gelang ihr nicht ganz.
„Wer weiß, vielleicht wirst du alle überraschen und als Held zurückkehren.“
Albin starrte sie an, als habe sie ihn gebeten, den Mond vom Himmel zu holen.
„Dann sehen wir uns also morgen früh“, murmelte er.
„Gehst du nicht zum Essen?“ fragte sie. Er sah nicht so aus, als würde er Mahlzeiten auslassen.
„Ich habe keinen Hunger.“
„Na gut. Aber keine weiteren Sprungversuche, ja?“
„Nicht heute“, antwortete Albin, doch er lächelte zaghaft. Amileehna zu sehen – und sei es auch in schlimmer Verfassung – hatte ihn merklich aufgeheitert.
„Wir werden es schon schaffen“, sagte sie aufmunternd. Woher nahm sie nur diesen Optimismus? Sie hatte keine Ahnung, was auf sie zukam. Wenn auch nur die Hälfte von dem zutraf, was sie über diese Reise aus Tychons und Albins Mund gehört hatte, dann würde es nicht gerade ein Spaziergang werden.
Jessy konnte sich nicht erinnern, wann sie jemals zuvor so sehr eine Tasse heißen Kaffee herbei gesehnt hatte. Es herrschte noch tiefe Nacht, als jemand an ihre Tür klopfte um sie zu wecken und es kam ihr vor wie ein schlechter Traum. Doch sie musste aufstehen. Sebel war nicht da, sie hatte die Nacht bei ihren Eltern in der Stadt verbringen dürfen, um sich zu verabschieden. Denn natürlich musste sie Jessy auf ihrer Reise begleiten, wohl mehr um den Anstand zu wahren, als um Jessy zu bedienen. Alleine unter Männern konnten sie ihre kostbare Geisel immerhin nicht auf den Weg schicken. Als Sebel erfuhr, was ihr bevor stand, wurde sie erst sehr blass, dann fasste sie sich und kehrte zurück zu der gewohnten demütigen Haltung einer Dienerin. Sie kam nicht einmal auf den Gedanken, sich zu wehren.
„Ich bin froh, dass du mit kommst“, sagte Jessy zu ihr und Sebels Miene hellte sich auf. Warum musste ausgerechnet sie eigentlich jeden anderen aufheitern, der zu dieser Expedition gezwungen wurde?
Nun saß sie alleine auf den Stufen des Prinzenhauses und beobachtete, wie sich langsam die Umrisse von Gebäuden, Männern und Pferden aus der Dunkelheit schälten. Der Morgen graute und obwohl es nur frisch aber nicht kalt war, schlotterte sie. Allein in ihrem Zimmer hatte sie kaum ein Auge zugetan vor Aufregung. Und nun hockte sie hier, übermüdet und frierend. Aber wenigstens war sie anständig angezogen. Ein praktisch denkendes Wesen, vermutlich Kyra, hatte ihr eine lederne und eine wollene Hose und mehrere Leinenhemden zukommen lassen. Darüber trug sie nun ein hübsches Wams aus hellem Leder und Stiefel, die beinahe perfekt passten. Außerdem hatte sie einen dicht gewebten Wollumhang. Neben ihr lag eine Tasche, die man ihr für ihr Gepäck gegeben hatte und die nun alles enthielt, was Jessy momentan besaß. Einen Kamm und sämtliche Seife, die ihr die Hofdamen geschenkt hatten, außerdem Unterwäsche und ihren Nike-Pullover, von dem sie sich unter gar keinen Umständen trennen wollte. Auch wenn sie ihn wahrscheinlich lieber nicht tragen sollte. Sie hatte noch eines der schönen Kleider eingepackt, damit die Tasche nicht halb leer blieb.
Bisher hatte noch niemand sie wahrgenommen, die Männer brachten Pferde aus dem Stall, redeten gedämpft, ein Wagen wurde beladen. Trotz der routinierten Geschäftigkeit war die Aufregung aller deutlich zu spüren.
Bosco kam auf sie zu. Er grinste. Die Klingen seiner Äxte blitzten im ersten Licht der aufgehenden Sonne.
„Guten Morgen“, sagte er gut gelaunt und setzte sich neben sie.
„Es ist mitten in der Nacht“, brummte sie. Bosco streckte sich.
„Genau die richtige Zeit um aufzubrechen. Und sieh dich an, du siehst aus wie eine Kriegerin. Wenn es so etwas gäbe.“
Jessy schnaubte und wies auf die Gruppe der Gardisten, die sich fröhlich unterhielten und lachten. Keine Spur von morgendlicher schlechter Laune.
„Ihr Typen seht aus, als habt ihr nur auf diesen Tag gewartet. Auf die Reise ins Unbekannte.“
„So ist es irgendwie auch. Die Älteren von uns waren im Krieg, aber die Jungen haben die Eisenfaust kaum je verlassen. Sie brennen darauf, endlich etwas zu erleben und ihre Fähigkeiten auszuprobieren“, antwortete Bosco. „Für sie ist es eine Bewährungsprobe. Für Dennit zum Beispiel, ihn kennst du ja schon. Der blonde Schönling ist Wiar, auch so ein Jungspund. Der große Kerl ist Kaj.“
Jessy kannte den Mann, er war mit ihr im Hof gewesen, als die unsichtbaren Flugzeuge über die Burg gedonnert waren. Sie war froh, dass bekannte Gesichter unter ihren Begleitern waren. Bosco fuhr fort, seine Truppe vorzustellen.
„Der zwielichtige Kerl ist Talis, und ja, er ist ebenso gefährlich wie er aussieht. Aber nicht für dich natürlich. Und der dort mit der Narbe am Auge ist Rojan. Er redet nicht viel, also versuch gar nicht erst, ein Gespräch mit ihm anzufangen.“
„Ist das eine Verletzung aus dem Krieg?“ fragte Jessy.
Die Narbe, die das Gesicht des Mannes verunstaltete, reichte von der Augenbraue bis zum Kiefer.
„Nein, es war eine Dummheit unter Jungen. Rojan hat eine Gabe, er ist schneller mit dem Schwert als jeder Mann, den ich je gesehen habe. Und seine Pfeile gehen niemals ins Leere. Als wir in der Ausbildung waren forderte ihn jemand heraus. Viele haben sich vor ihm gegruselt, denn er ist schon immer schweigsam und unnahbar gewesen. Sie waren eifersüchtig auf sein Können und hielten ihn für überheblich. Deshalb sollte er beweisen, was er kann und mit verbundenen Augen einen Messerkampf bestehen. Tja, er tat es.“
„Und verlor offensichtlich“, sagte Jessy.
„Nein, er siegte. Aber sein Gegner – verfluchter Bastard – holte ein letztes Mal aus, als Rojan sich schon abgewendet hatte. So kassierte er den Schnitt.“
Jessy zog schaudernd die Schultern hoch. Mit verbundenen Augen zu kämpfen… Und sie hielt man für eine Magierin! Aber sie sagte nichts.
Nun trat Rheys zu den herumstehenden Männern und erteilte mit ruhiger, kühler Stimme Anweisungen.
„Und Rheys wird unser aller Anführer sein?“ fragte sie schnippisch.
„Du solltest darauf hören, wenn er etwas sagt. Er weiß, was er tut und bei so einer Sache ist es wichtig, dass niemand auf eigene Faust Dummheiten macht. Fang einfach keinen Streit mit ihm an, dann hast du keine Schwierigkeiten.“
Jessy beobachtete den Mann einen Moment, der hier, zwischen Pferden und kläffenden Hunden voll in seinem Element zu sein schien. Er strahlte große Ruhe und Konzentration aus und wirkte gar nicht so aggressiv, wie sie ihn bisher kennen gelernt hatte. Aber sie wusste, dass sich das jederzeit ändern konnte. Nun beobachtete er, wie der große Proviantwagen mit Kisten und Bündeln beladen wurde. Sofort verfinsterte sich seine Miene.
„Nicht gerade das, was man sich unter einem schnellen, unauffälligen Trupp vorstellt“, sagte Bosco. „Aber die edlen Herren haben eben viel Gepäck. Der dürre Diener auf dem Wagen ist Benoas, der Leibdiener des Königs. Er ist für unser Wohl verantwortlich. Wahrscheinlich wird er wie eine Glucke auf dem Bierfass sitzen.“ Bosco seufzte.
„Was denn für edle Herren?“
„Na ja, der Prinz natürlich. Für ihn müssen wir sogar ein Zelt mitschleppen. Und außerdem kommt Morian mit. Da ist er ja. Schau ihn dir nur an, hat sich mit so vielen Juwelen behängt, dass der erstbeste Strauchdieb über uns herfallen wird.“
Jessy sank das Herz. Warum musste ausgerechnet er sie begleiten? Der Mann führte irgendetwas im Schilde und hatte sicher selbst dem König den Floh ins Ohr gesetzt, dass der Prinz seine Aufsicht brauchte. Jetzt stolzierte er durch den Hof, während sein persönlicher Diener Taschen und Truhen zum Wagen schleppte und in Streit mit Benoas geriet, weil dieser mit freiem Platz auf dem Gefährt offenbar genauso knauserte wie mit Bier.
Auch Albin war heraus gekommen, er trug eine noch farbenfrohere Kluft als Morian und wich furchtsam zurück, als ein Stalljunge ihm ein riesiges schwarzes Pferd präsentierte, das nervös am Zügel zerrte.
„Diese reichen Schnösel kommen auf die verrücktesten Ideen. Setzten den Jungen auf so einen Hengst. Und wir dürfen ihn alle halbe Stunde vom Boden aufsammeln“, murmelte Bosco kopfschüttelnd.
„Komm jetzt, ich möchte dir noch eine ganz besondere Dame vorstellen.“
Er reichte Jessy die Hand. Sie nahm ihre Tasche und kam auf die Füße. Langsam wurde sie richtig wach und die Sonnenstrahlen, die über die Burgmauer krochen, wärmten ihr Gesicht. Bosco führte sie zu einer kleinen Stute mit cremefarbenem Fell und einer silberweißen Mähne.
„Moment mal“, sagte Jessy. „Ich denke ich fahre im Wagen mit!“
„Unsinn, du reitest dieses schöne Mädchen hier. Ihr Name ist Lia. Sie ist lammfromm und sehr tüchtig.“
„Aber ich kann überhaupt nicht reiten“, wandte Jessy ein und merkte, dass ihre Stimme laut geworden war. Boscos Augen weiteten sich ein wenig, als sei diese Aussage völlig unglaubwürdig.
„Du musst ja gar nichts tun, sie wird einfach den anderen hinterher laufen“, sagte er.
„Was ist los?“ Rheys war zu ihnen getreten und verschränkte die Arme. Reize ihn nicht, mahnte Jessy sich. Bleib ganz ruhig. Doch seine Nähe machte ihr Angst und sie wappnete sich instinktiv um zum Angriff überzugehen.
„Warum kann ich nicht im Wagen mitfahren?“ fragte sie.
„Der Wagen ist voll. Du wirst reiten wie alle anderen.“ Er wollte sich schon abwenden, rechnete offenbar nicht mit Widerspruch.
„Aber ich habe das noch nie gemacht. Ich werde mir den Hals brechen.“
Nun warf er ihr diesen eiskalten Blick aus seinen glasklaren Augen zu, den Jessy so fürchtete.
„Ich kann dich am Sattel anbinden, dann fällst du nicht herunter. Und komm ja nicht auf die Idee und versuch zu fliehen. Du bist eine Gefangene und fliehenden Gefangenen schießt man einen Pfeil in den Rücken. Hast du mich verstanden?“
„Rheys“, mahnte Bosco leise. „Sagte der König nicht, sie ist ein Gast?“
„Schon gut“, sagte Jessy kalt. „Ich weiß schon, wer hier auf meiner Seite ist und wer nicht. Das hätte er wohl gern, dass ich ihm eine schöne Gelegenheit verschaffe, mich loszuwerden.“
Sie erwiderte Rheys Blick so giftig sie konnte, doch es fiel ihr schwer.
Plötzlich rief jemand Boscos Namen. Sie schauten über den Hof und sahen Kyra und ihre Kinder, die sich mit vielen anderen dort versammelt hatten, um die Truppe zu verabschieden.
Bosco lief zu ihnen hinüber und Jessy beobachtete, wie er seine Kinder nacheinander umarmte und ihnen wichtige Dinge sagte. Als er sich Kyra zuwandte und sie Tränen in den Augen der Frau schimmern sah, schaute Jessy weg. Ihr Herz war plötzlich sehr schwer.
„Steig auf das Pferd und es wird keinen Ärger geben“, schnauzte Rheys in ihre Richtung und ging davon.
Jessy streckte die Hand aus. Die Stute schaute sie freundlich an und ließ sich die Nase streicheln.
„Du gehörst hoffentlich zu denen, die auf meiner Seite sind“, murmelte sie seufzend.
Bosco behielt recht, zumindest vorerst. Lia trug Jessy absolut sicher und ohne die geringsten Anzeichen von Unwillen vorwärts und ließ sich durch die Schlachtrösser um sie her überhaupt nicht verunsichern. Jessy war dafür zutiefst dankbar, denn sie beobachtete, wie Albin mit seinem schwarzen Hengst von Sekunde zu Sekunde verbissener um die Führerschaft kämpfte. Bedauerlicherweise sah es selbst für Jessy, die keine Ahnung von Pferden hatte aus, als würde der Hengst am Ende gewinnen. Albin hing mittlerweile kraftlos im Sattel und seine feinen Kleider waren durchgeschwitzt. Das Pferd tänzelte, warf den Kopf hin und her und schnappte nach den anderen Pferden. Beim nächsten tiefhängenden Ast würde es versuchen, den hilflosen Reiter abzustreifen. Jessy betete, dass Albin das erspart blieb. Nicht nur, dass ein Sturz aus dieser Höhe sehr schmerzhaft würde. Die Männer spotteten auch jetzt schon über ihn, zwar verhalten aber doch offensichtlich.
Die Gardisten, die alle nur „Wölfe“ nannten, saßen dermaßen selbstsicher und entspannt im Sattel, als seien sie dort geboren worden. Aber sie kannten ihre Pferde auch und waren geübt. Tychon stand ihnen in nichts nach. Er strahlte wie die Vormittagssonne selbst auf seinem schneeweißen Hengst, auf dem er voller Tatendrang die Truppe anführte war. Die Verabschiedung durch den König war wenig herzlich ausgefallen. Bestimmt bereute er seine Entscheidung bereits, Tychon gehen zu lassen.
Um ihre Abreise vorerst geheim zu halten, waren sie nicht durch die Stadt geritten sondern direkt in den Wald hinein. Jessy bedauerte das, sie hätte Ovesta gerne gesehen.
Nun ritten sie auf einer breiten ungepflasterten Straße durch den herrlichen Wald. Insekten summten und die Vögel zwitscherten, Jessy sah sogar Kaninchen, die eilig ins Unterholz flüchteten und hörte in der Nähe einen Bach rauschen. Was für eine Idylle. Es fiel ihr schwer, sich nicht von der guten Stimmung aller anstecken zu lassen. Die Gardisten machten Witze, Morian diskutierte an der Spitze des Zuges mit Tychon und Jessy war froh, dass er nicht in ihrer Nähe war. Neben dem Prinzen ritt Rheys und hinter ihnen Fabesto, der als zweiter Kronrat zur Beratung mitgekommen war. Obwohl der Mann zuerst gegen Jessy gesprochen hatte, fand sie ihn sympathisch. Er hatte die gleiche ruhige Art an sich, die ihr an Rheys aufgefallen war. Wenn er nicht gerade Feuer in ihre Richtung spuckte.
Neben ihr ritt Sebel auf einem Pony, ihr schien das Reiten überhaupt nichts auszumachen, obwohl sie einen Rock trug. Sie hatte sich geweigert, Hosen anzuziehen, anscheinend war sie um ihre Tugendhaftigkeit besorgt. Hinter ihnen holperte der Wagen den Weg entlang. Die Gardisten hatten genau festgelegte Plätze im Tross und obwohl sie sich unterhielten und Witze machten, hatte Jessy das Gefühl, dass sie die Umgebung tatsächlich im Blick hatten.
Bosco lenkte sein riesiges Pferd neben sie.
„Siehst du, du machst es doch ganz gut“, sagte er.
„Ich mache gar nichts, die Kleine ist wirklich brav“, antwortete sie. „Nur mein Hintern tut weh. Wann machen wir Pause?“
„Das wird noch schlimmer, glaube mir. Und wünsch dir lieber keine Pause. Wenn du einmal abgestiegen bist, willst du erstmal nicht mehr in den Sattel.“
„Sehr aufbauend. Was macht der eigentlich hier?“
Sie deutete auf Sketeph, einen weiteren Begleiter, mit dem sie nicht gerechnet hatte.
„Unser besonderer Freund? Frag mich nicht. Es war Tychons ausdrücklicher Wunsch, ihn mitzunehmen. Keine Angst, wir haben ein Auge auf ihn.“
„Ich denke, er ist ein Spion auf der Seite des Königs?“ fragte sie. „Warum misstrauen ihm alle?“
„Er ist ein Magier, obwohl er es nicht mehr sein darf. Das genügt. Magiern ist niemals zu trauen, sie sind Abschaum.“
„Erzähl mir etwas über das Südland“, bat Jessy. „Damit ich wenigstens weiß, was mich erwartet.“
„Ich weiß nicht viel“, antwortete Bosco. „Außer Fabesto ist noch niemand von uns dort gewesen. Nur Morian natürlich. Seine Familie handelt mit Samatuska. Die Stadt ist legendär, hundert Mal größer als Ovesta und bevölkert von Menschen aus allen Teilen der Welt. Ein wahrer Sündenpfuhl.“
„Du scheinst dich darauf zu freuen“, neckte sie ihn.
„Ich bin gespannt. Aber zwischen uns und dieser Oase liegt noch ein weiter Weg. Wenn wir die Grenze überqueren müssen wir durch die Steppe, die Öde Ebene. Man sagt, sie sei ein Sammelbecken für Banditen und anderes Ungeziefer. Das wird der heikelste Teil der Reise. Dann durchqueren wir den Dschungel und gelangen schließlich nach Samatuska. Wenn alles gut geht in ungefähr vier Wochen.“
„Vier Wochen?“ rief Jessy. „Das kann nicht wahr sein! Gab es keinen Direktflug?“
Bosco schaute sie verständnislos an. Sie winkte ab. „Vergiss es. Steppe, Dschungel, sündhafte Großstadt. Das klingt wirklich einladend.“
Wütend starrte sie geradeaus und spürte deutlich Boscos Blick auf sich. Wenn sie auch nur geahnt hätte, wie lang und gefährlich, diese Reise würde, hätte sie sich an ihren Türpfosten gefesselt, damit man sie zurück ließ. Aber dafür war es ja nun zu spät.
Bei Einbruch der Dunkelheit gab Rheys die Anweisung ein Lager aufzuschlagen. Jessy stöhnte voller Dankbarkeit. Sie war in ihrem Leben noch niemals so erschöpft gewesen. Außer einer kurzen Rast zur Mittagszeit, bei der sie, wie Bosco empfohlen hatte, auf dem Pferd geblieben war, waren sie den ganzen Tag geritten. Nun verließen sie die Straße und kamen auf eine Lichtung.
„Hier bleiben wir“, bestimmte Rheys. Niemand widersprach.
Jessy löste ihre verkrampften Füße aus den Steigbügeln und ließ sich beinahe ungebremst ins Gras fallen. Ihr ganzer Körper schmerzte, sie war verschwitzt und müde und unendlich hungrig.
„Ich brauche was zu essen“, sagte sie schwach.
Dennit stand in ihrer Nähe und nahm die Zügel ihrer Stute. „Erst die Pferde“, sagte er freundlich. „Immer zuerst die Pferde.“
Damit führte er Lia davon. Jessy war dankbar, dass sie sich nicht um die Versorgung kümmern musste. Sie glaubte nicht, dass sie noch einmal aufstehen konnte und beobachtete, wie Benoas und ein anderer junger Diener die Zelte aufbauten. Eines für Tychon und die Kronräte und eines für Jessy und Sebel. Ein wenig Privatsphäre, für die sie unendlich dankbar war.
Außer ihr schien niemand die Strapazen des Ritts zu spüren, auch wenn alle staubig von der trockenen Straße und die Pferde verschwitzt waren. Sebel kam zu ihr herüber. Sie hatte ihr Kopftuch abgenommen, ihre Wangen waren hübsch gerötet und das honigblonde Haar kringelte sich um ihr Gesicht. Wie konnte sie nach so einem Tag noch so adrett aussehen?
„Ich hole Wasser zum Waschen“, verkündete sie. „Brauchst du sonst noch etwas?“
„Ein großes Menü mit Big Mac und eine Dusche“, antwortete Jessy und spürte sofort, dass solche Gedanken die Sehnsucht nach ihrem Zuhause von einer Sekunde zur nächsten schmerzhaft aufflammen ließen. Sebel trat unsicher von einem Fuß auf den anderen.
„Schon gut. Wasser zum Waschen ist wunderbar.“
Während die Zofe sich davon machte, rappelte Jessy sich hoch um in ihrem Zelt zu verschwinden. Ihre Beine zitterten von der ungewohnten Anstrengung. Sie suchte Albin und entdeckte ihn etwas abseits, wo Rheys gerade gedämpft aber eindringlich auf ihn einredete. Albin war in sich zusammen gesunken und wurde kleiner und kleiner, während er das Gerede über sich ergehen ließ. Auch er musste am Ende seiner Kräfte sein. Sein Kopf war hochrot und seine bunten Kleider völlig verschwitzt.
Müde oder nicht, Jessy hatte versprochen, auf ihn aufzupassen und das letzte was er jetzt brauchen konnte war eine Strafpredigt. Entschlossen lenkte sie ihren wackeligen Schritt in die Richtung, wo die beiden standen.
„Es bringt Unruhe in den ganzen Tross“, hörte sie Rheys gerade ärgerlich sagen. „Wenn er durchgeht verlieren wir womöglich Stunden, also sieh zu, dass du zurechtkommst.“
„Ja“, antwortete Albin kleinlaut. „Ich bin kein geübter Reiter…“
„Das sehe ich. Aber ich habe keine Skrupel und setze dich auf ein Packpony, wenn du den Hengst nicht unter Kontrolle bekommst. Gewöhn ihm ab, nach den anderen zu beißen, sonst lege ich ihm einen Maulkorb an. Und rate mal, wer seine Wut dann abbekommen wird.“
Albin nickte ohne ein weiteres Wort. Jessy kam zu spät um noch einzugreifen, denn Rheys wandte sich bereits brüsk ab und wollte davon stapfen. Sie stand direkt in seinem Weg und konnte gerade noch ausweichen. Schnaubend machte er einen Bogen um sie und ging davon.
„Was für ein Ekel“, murmelte sie. „Alles in Ordnung?“
„Er hat Recht“, sagte Albin betrübt. „Ich bin geradezu lächerlich auf diesem Pferd.“
Sie blickten hinüber zu dem Pferch aus Seilen, den die Männer für die Pferde aufgestellt hatten. Der Rappe war ebenso erschöpft von seinem Kampf mit Albin wie sein Reiter und ließ müde den Kopf hängen.
„Wie kommst du überhaupt dazu? Hätte es nicht etwas Passenderes gegeben? Der König hat so viele Pferde.“
„Ein Geschenk von meinem Vater. Damit ich ihm auch ja alle Ehre mache in der Fremde“, sagte Albin bitter. „Genauso wie das hier.“ Er deutete auf seine Tasche, aus der der juwelenbesetzte Griff eines großen Schwerts herausschaute. Jessy konnte sich unmöglich vorstellen, dass Albin eine Waffe führte. Bei den anderen Männern, die alle Schwerter und Dolche am Gürtel trugen, sah es ganz normal aus.
„Ich trage es lieber nicht, sonst kommt noch jemand auf die Idee, mich zu einem Schaukampf herauszufordern.“
„Weise Entscheidung“, antwortete Jessy. „Na ja, der erste Tag ist überstanden. Jetzt kannst du dich im Zelt für die Hochwohlgeborenen ausruhen.“
„Oh nein. Noch eine Aufmerksamkeit von meinem Vater“, sagte Albin und ließ sich ins Gras sinken. „Ich schlafe draußen bei den Wölfen. Zur Abhärtung.“
Jessy starrte ihn fassungslos an. Was für ein abscheulicher Mann und unmöglicher Vater war dieser Ioann Tabassum nur? Anscheinend hatte er es sich wirklich zum Ziel gesetzt, seinen Sohn zu brechen. Jeder vernünftige Mensch musste doch sehen, dass das hier nicht das richtige für diesen klugen Jungen war.
„Du könntest in unserem Zelt schlafen…“ schlug sie vor. Doch Albin schüttelte den Kopf.
„Es ist nett, dass du helfen willst. Aber ich komme schon zurecht. Hast du nicht genug eigene Sorgen?“
Die hatte sie in der Tat. Aber im Augenblick war sie nur hungrig und todmüde. Sie ließ Albin mit seinem Kummer allein und ging zu ihrem Zelt. Es war aus einer dicken braunen Plane gefertigt, die eine Mischung aus Leder und Stoff zu sein schien. Drinnen hatte Sebel bereits zwei Liegen aufgestellt und ihre Decken darüber gebreitet. In einer kleinen Schale brannte ein Feuer aus Zweigen und darin erwärmte die fleißige Dienerin einen kleinen Krug mit Wein. Heißer Wein war nicht gerade was sich Jessy wünschte, aber sie wollte nicht unhöflich sein. Gerade brachte Sebel Wasser und Jessy packte ihre kostbare Seife aus. Ihre Glieder waren so kraftlos, dass sie beim Waschen kaum aufrecht stehen konnte. Als sie dann ihren Magen mit heißem Eintopf gefüllt hatte, den Sebel ihr brachte, überkam sie die Erschöpfung mit ganzer Wucht. Sie sank auf ihre Liege.
Draußen war es dunkel, die Nachtvögel und Insekten sangen ein romantisches Lied. Das große Feuer knisterte, die Männer redeten leise und lachten. Alles war so friedlich. Jessy fühlte, wie ihr Körper sich entspannte. Doch dann wanderten ihre Gedanken in Richtung ihrer Heimat. Wie viele Tage war sie fort? Hatte man schon die Polizei verständigt? Im Augenblick hatte sie keine Ahnung, wie lange sie wegbleiben würde. Aber ihren Job war sie mit Sicherheit los. Was für eine Schande, denn sie arbeitete so gern in der Redaktion des Radiosenders und hatte sich ihre Position hart erkämpft. Sie mochte Kollegen und Vorgesetzte und verdiente gut. Doch all das war so wahnsinnig weit entfernt. Spielte es überhaupt noch eine Rolle? Sie sollte sich vielmehr darauf konzentrieren, heil aus dieser Sache heraus zu kommen. Alle redeten von Krieg und Kämpfen und trugen ihre Waffen sicher nicht zur Dekoration. Und nach Jessys Bauchgefühl zu urteilen, lief sie der Gefahr im Moment geradezu in die Arme. Auch wenn dieser Wald so friedlich war mit seinen Bächlein und Kaninchen und sonnenbeschienenen Lichtungen. Was Bosco ihr über ihre Reiseroute gesagt hatte, fand sie ziemlich beunruhigend. Steppe und Banditen? Und ihre Mitreiter hatten selbst keine Ahnung, was ihnen bevor stand. Nein, es brachte nichts, sich mit Gedanken an zu Hause zu martern. Jessy musste ihre Sinne beisammen halten und zusehen, dass sie sich nicht in größere Schwierigkeiten brachte. Trotzdem blieb das Heimweh und rumorte in ihrem Bauch. Nicht wegen all dem Luxus, den sie hier entbehren musste. Es war viel mehr eine tiefgründige dumpfe Angst, dass sie nicht mehr dorthin zurückkommen würde, wohin sie gehörte.
Denk nicht daran, sagte sie sich. Du bist erst ein paar Tage hier, es ist noch viel zu früh um die Hoffnung aufzugeben. Es wird schon irgendeinen Weg geben. Aber dass es diese Straße in Richtung Süden war, bezweifelte Jessy stark.