Читать книгу Land der Wölfe - Julia Adamek - Страница 4
Kapitel
ОглавлениеGlücklicherweise hatten die Geschehnisse Jessy so erschöpft, dass sie auf der Strohmatratze, die man ihr in einer Dachkammer zugewiesen hatte, schlief wie ein Stein. Andernfalls hätte das Schnarchen der drei Mädchen, mit denen sie das Zimmer teilte, sie keine Sekunde zur Ruhe kommen lassen. Und schon im ersten Morgengrauen begannen sie zu schnattern und Jessy neugierige Fragen zu stellen. Als sie feststellten, dass Jessy nicht besonders viele Auskünfte geben konnte, ließen sie jedoch von ihr ab.
Sie selbst beschloss, sich ein wenig umzuhören. Es konnte nicht schaden, möglichst viele Informationen über diesen seltsamen Ort und seine Bewohner zu sammeln. Man hatte sie bereits verdächtigt, etwas gegen den König im Schilde zu führen, deshalb musste sie vorsichtig vorgehen. Aber Kyra spielte ihr in die Hände. Der kühlende Umschlag hatte Jessys Knöchel schon beinahe geheilt und sie konnte sich humpelnd durch die ganze Burg bewegen. Kyra schickte sie von der Speisekammer in den Speicher, in die Bäckerei und wieder zurück. Sie half beim Polieren des Bestecks und beim Schneiden riesiger Gemüseberge für das Mittagessen und holte sogar unter Protest ein paar tote Hühner aus der Schlachterei. Bei all diesen Tätigkeiten war sie umgeben von Dienern und Mägden, die sie unauffällig ausfragen konnte.
„Wie ich höre gibt es hier auch einen Prinzen?“ fragte sie beiläufig, während sie am späten Vormittag beim Kneten von Pastetenteig half. Die beiden Mädchen Tisi und Marna liefen sofort rot an und begannen zu kichern.
„Oh ja, den gibt es. Wie kommt es nur, dass du noch nie von ihm gehört hast? Prinz Tychon. Er ist der Schönste unter der Sonne“, sagte Tisi schwärmerisch. „Wenn ich mir einen backen könnte, mein Mann müsste genauso sein wie er.“ Dabei bearbeitete sie liebevoll den Teigklumpen vor sich.
„Er ist sehr klug und gewandt“, erklärte Marna, die ruhigere der beiden. „Aber der König will seinen Thron noch nicht freimachen und ihn dem Prinzen überlassen. Tychon ist erst zweiundzwanzig. Deshalb haben die beiden ständig Streit, sagt man. König Bairtliméad behandelt ihn noch immer wie einen Jungen. Dabei ist er bereits ein Krieger und sitzt im Kronrat. Er wird sicher einmal ein sehr guter König sein, weise und gut. Alle Menschen lieben ihn.“
„Hört sich ja zauberhaft an“, sagte Jessy leichthin und sofort wurden die Mädchen ernst.
„Was meinst du damit?“ fragte Tisi. Jessy hob die Brauen. Zauberei war also ein gefährliches Thema. Am besten sprach sie nie wieder davon. Dabei hätte genau das sie brennend interessiert.
Meinst du, es ist Magie im Spiel? hatte der Prinz seinen scheußlichen Freund gefragt.
„Nichts, ich meine gar nichts“, sagte sie schnell. „Traumhaft, es hört sich traumhaft an. Hat er denn auch eine Frau, dieser Traummann?“
Dieses Thema schien den Mädchen mehr zu behagen. Sie grinsten wieder.
„Noch nicht. Dabei treiben sich so viele reiche Fräulein hier herum, die für ihn passend wären. Aber er besteht darauf selbst zu wählen.“
„Ist das nicht romantisch? Er wartet, bis er der Richtigen begegnet…“
„Ihr dummen Gänse“, tönte die raue Stimme von Barla vom anderen Ende der Küche herüber. Sie war eine dicke Frau in den Fünfzigern mit gerötetem Gesicht und kleinen Augen. „Ihr tut gerade so, als ob er eine von euch aussuchen würde.“
„Tychon schätzt die Dienerschaft nicht gering“, antwortete Tisi spitz. „Immerhin ist einer von den Wölfen sein bester Freund.“
„Wie man hört, soll die Prinzessin aber bald verheiratet werden“, sagte Marna nachdenklich. „Das arme Ding. Sie ist jünger als ich. Und wird wahrscheinlich irgendeinen alten Adligen nehmen müssen.“
Klar, dachte Jessy. Das Mädchen darf natürlich nicht auf den Richtigen warten.
„Wenn ihr mich fragt“, mischte sich Barla wieder ein, „ist sie nichts als ein verwöhnter Fratz. Sie sollte sich glücklich schätzen mit all ihrem Reichtum und ihren schönen Sachen. Doch was tut sie? Macht ihren Eltern nur Kummer.“
„Was ist denn mit ihr?“ fragte Jessy.
„Sie ist eben ein Wildfang“, antwortete Tisi schulterzuckend. „Will sich nicht benehmen wie eine Dame, will nicht lernen oder handarbeiten. Man sagt, sie bittet manchmal Knechte im Stall, mit ihr zu kämpfen. Mit Holzschwertern! Ist das nicht lächerlich? Dabei bräuchte sie doch den Stall eigentlich nicht mal zu betreten.“
„Ich glaube, sie ist sehr unglücklich“, meinte Marna bedrückt.
In diesem Augenblick kam Kyra herein und unterbrach das Gespräch.
„Jessy, geh bitte mit mir in den Keller. Wir brauchen noch mehr Obst und Speck, du kannst tragen helfen“, sagte sie und winkte Jessy zur Tür. Mittlerweile konnte sie wieder fast schmerzfrei auftreten und lächelte.
„Deine Medizin ist großartig, Kyra“, sagte sie voller Bewunderung. „Sagst du mir, was du dafür verwendet hast? Bei mir zuhause…“ Sie stockte. Worauf wollte sie denn hinaus? Sicher würde ihr kein Apotheker einen solchen Kräuterumschlag machen. Doch Kyra überhörte ihr Zögern.
„Natürlich, meine Liebe. Es freut mich, dass es besser geworden ist. Du bist auch schon sehr fleißig gewesen heute.“
Das stimmte allerdings. Seit dem Morgen war Jessy auf den Beinen. Schon lange war sie an einem Tag nicht mehr so viel hin und her gelaufen. Und zwischendurch wurde sie sich immer wieder überdeutlich der seltsamen fremden Dinge bewusst, die sie umgaben. Nichts was sie berührte war künstlich, alles war handgemacht. Es gab keine Elektrizität und doch schien sie an keiner Stelle des Haushalts zu fehlen. Keine Nebengeräusche von Fernsehern, Telefonen oder Verkehrslärm lagen in der Luft und trotzdem brummte und summte die Burg vor Geschäftigkeit. Zuhause schaltete Jessy meistens das Radio ein um die Stille aus ihrer Wohnung zu vertreiben. Hier konnte sie sich so ein hintergründiges Gedudel überhaupt nicht vorstellen. Sie fühlte sich seltsam wohl, aber auch schmerzhaft abgeschnitten von allen Dingen, die sie eigentlich wertschätzte. Eine heiße Dusche hätte ihr gut getan oder eine große Tasse Kaffee. Ein kleiner Internet-Bummel zur Entspannung…
Sie erreichten die Tür zum Vorratskeller. Die ganze Burg war unterhöhlt von riesigen Gewölben, wo verderbliche Speisen, Bier und Wein gelagert wurden. Kyra fluchte leise, als sie sah, dass die Tür offen stand und hob ihre Laterne. Hier unten war es finster wie in einem Verlies und von den Steinwänden ging feuchte Kälte aus.
„Wie oft muss ich eigentlich sagen, dass diese Tür immer verschlossen werden muss“, rief Kyra ins Innere des Kellers. Schon erleuchtete ihre Lampe das Gesicht des Übeltäters. Oder vielmehr dessen Hinterseite. Es war ein Junge mit leuchtend roten Haaren. Seine Kleider wirkten mit ihren grellen Grün- und Blautönen hier unten völlig fehl am Platz. Nun fuhr der Junge herum. Er war ein wenig mollig und starrte sie aus großen braunen Augen an wie ein Reh im Scheinwerferlicht.
„Nun“, sagte Kyra. Ihr Zorn schien abgeflaut. „Hatte ich Euch nicht gebeten, den Schlüssel nicht mehr zu benutzen?“
Der Junge schwieg verschämt. In seiner Hand lag ein großes Stück Wurst das er offenbar gestohlen hatte.
„Verzeiht“, murmelte er und schob sich in ihre Richtung.
„Das Mittagessen ist bald fertig“, sagte Kyra und machte ihm den Weg frei. Der Junge stob an ihnen vorbei und polterte die Treppe hinauf. Im Vorbeigehen sah Jessy, dass sein Gesicht blutrot angelaufen war.
„Ein Wurstdieb?“
„Albin Tabassum. Er ist einer der Söhne aus dem Kronrat. Ein armer Tropf, sein Vater ist ein Untier. Ich erwische ihn häufig dabei, dass er Essen stielt. Wohl sein einziger Trost.“
Jessy verstand. Kyra konnte diesen Jungen, der rangmäßig so weit über ihr stand natürlich nicht ausschimpfen. Während sie nun Speckschwarten und Äpfel in Jessys Korb lud, plauderte sie weiter.
„Im Gegensatz zur Königsgarde muss man sich nicht besonders auszeichnen um in den Kronrat zu kommen. Die Sitze werden vom Vater auf den Sohn vererbt. Die Söhne gehen in die Kriegerausbildung und sitzen danach einige Jahre als Beobachter im Rat, bis ihre alten Herren den Platz frei machen. Dann übernehmen sie deren Aufgaben. Der König schart altes, adliges Blut um sich, wo ihm doch ein wenig frische Gedanken gar nicht schaden würden.“
„Ich hörte, alle Hoffnung ruht dabei auf dem sagenhaften Prinz Tychon.“
Kyra lächelte. „Die Mädchen schwätzen gerne über ihn. Aber bevor es soweit ist, wird er noch viele Kämpfe auszustehen haben.“
Sie hob ihren eigenen Korb hoch und ging zur Tür. „Komm, wir müssen das Essen servieren. Danach gibt es auch für uns das Mittagessen.“
„Halleluja“, murmelte Jessy, deren Magen vernehmlich knurrte.
Nach dem Essen gewährte Kyra ihr ein wenig Freizeit und Jessy war zutiefst dankbar dafür. Ihr Kopf schwirrte vor Informationen, die sie heute gesammelt hatte. Ihr Fuß tat wegen der ständigen Belastung wieder etwas mehr weh und sie fühlte sich müde. Instinktiv suchte sie wieder den Pferdestall auf – ein Ort tiefer Ruhe und Friedlichkeit. Und das obwohl sie dort von dem unheimlichen Rheys aufgegriffen worden war. War dieser Mann tatsächlich der beste Freund und engste Berater des netten Prinzen, den alle so liebten? Sie konnte es sich kaum vorstellen.
An diesem Tag war es sogar noch heißer als gestern und im Stall stand die Luft still. Das Summen der Fliegen und die dösenden Pferde, die kaum auf Jessys Eintreten reagierten, verstärkten den Eindruck, alles hier befände sich im verdienten Mittagsschlaf.
Nach dem üppigen Mittagessen, das man den Hochwohlgeborenen in der großen Halle servierte, zogen diese sich zur Ruhe zurück. In dieser Zeit hatten die meisten Diener auch ein paar freie Stunden. Die meisten von ihnen waren seit dem Morgengrauen an der Arbeit und hatten sich ein Päuschen in Jessys Augen mehr als verdient. Aber niemand schien unzufrieden mit seiner Tätigkeit, beschwerte sich über Stress und Überstunden oder ungerechte Behandlung. Vielmehr wirkten alle Menschen, mit denen Jessy bisher zu tun gehabt hatte, sehr zufrieden mit ihrem Dasein in dieser Burg.
Westland war ein friedliches Land mit viel Landwirtschaft, soviel hatte sie heute erfahren. König Bairtliméad war beliebt, aber schon in die Jahre gekommen. Alles lief hier einen ruhigen Gang. Vor zehn oder fünfzehn Jahren hatte es einen Krieg gegeben, über den aber niemand genau Auskunft geben wollte oder konnte. Jessy wollte jedoch nicht drängen. Auf keinen Fall sollte noch jemand auf die Idee kommen, sie sei eine gefährliche Spionin.
Und trotzdem fragte sie sich, wie die aufgebrachte Stimmung des Prinzen, die sie im Stall klar und deutlich vernommen hatte, in dieses idyllische Bild eines glücklichen Königreiches passte. Irgendetwas hier lief also doch nicht so reibungslos. Aber darüber konnten ihr die Dienstboten natürlich nichts sagen.
Während ihrer Überlegungen spukte Jessy immer wieder das Wort Magie durch den Kopf, das die Menschen in große Unruhe versetzte, wann immer es jemand aussprach. Sie hatte verschiedenste Vorstellungen davon, was damit gemeint sein könnte, von Harry Potter bis hin zur wahrsagenden Zigeunerin. Am wahrscheinlichsten aber erschien ihr das Bild von Hexenverfolgung, Folter und Scheiterhaufen. Es passte in diese Welt und sie hoffte inständig, dass sie sich damit täuschte.
Eine leise Stimme riss sie aus ihren Gedanken. Sie hatte sich auf einem kleinen Hocker neben einer Boxentür niedergelassen und das verletzte Bein ausgestreckt. Jetzt hörte sie, dass in der Nähe jemand sprach, eine Frau. Tu es nicht schon wieder, mahnte Jessy sich selbst. Geh einfach raus.
Doch es half nichts, sie war zu neugierig. Diesmal aber würde sie sich nicht anschleichen, sondern erhob sich und ging auf die junge Frau zu, die neben einer kleinen weißen Stute stand und liebevoll auf diese einredete. Beim Näherkommen sah Jessy, dass es ein Mädchen war, sehr hübsch mit hüftlangem weißblondem Haar, für das man in ihrer Welt ein Vermögen beim Friseur ausgegeben hätte. Die Kleine trug ein edles blaues Kleid mit Stickerei, das perfekt ihre zierliche Figur umschmeichelte. Als sie Jessy kommen hörte, sah sie auf.
„Das ist ein schönes Pferd“, sagte Jessy und lächelte freundlich. Diese junge Dame gehörte offensichtlich zur Oberschicht und hatte vielleicht eine andere Sicht auf die Dinge, als die Dienstboten.
„Ja, sie gehört … meiner Herrin“, sagte das Mädchen. „Ich bin eine Hofdame der Prinzessin.“
„Solltest du dann nicht drin sein und Sticken oder so was?“ fragte Jessy. Das Mädchen lachte.
„Ja, das sollte ich wohl. Aber um ehrlich zu sein, ich hasse es. Nichts ist schlimmer, als den ganzen Tag dort drinnen eingesperrt zu sein. Es ist so langweilig. Und seit meine Herrin eine richtige Dame ist, können wir auch nicht mehr ausreiten.“
„Ich habe gehört, sie übt das Kämpfen mit den Stallburschen.“
„Oh ja“, sagte das Mädchen eifrig. „Sie ist wirklich eine Kriegerin. Prinz Tychon, ihr Bruder, hat ihr alles beigebracht. Sie könnte jederzeit in eine Schlacht ziehen.“
Die Begeisterung für die Königskinder durchdrang hier wohl jeden Stand.
„Wer bist du, ich habe dich noch nie in der Burg gesehen“, fragte das Mädchen nun und musterte Jessy neugierig.
„Ich bin neu hier, ich komme von weit her und suchte Arbeit. Ich heiße Jessy.“
„Mein Name ist Ami. Ich wurde hier geboren. Und bleibe wohl auch für immer hier“, sagte das Mädchen bitter.
„Die Prinzessin habe ich noch nicht gesehen. Wie ist sie so?“
Ami errötete ganz bezaubernd und Jessy ahnte, dass sie dieser Prinzessin bereits ziemlich nahe gekommen war. Gedankenverloren streichelte das Mädchen über die seidige Mähne des Pferdes.
„Alle sehen in ihr nur eine schöne Puppe, einen Gegenstand, über den man bestimmen kann.“
Ihre Bewegungen wurden energischer bei diesen Worten.
„Aber in ihr steckt viel mehr, als alle ahnen. Doch niemanden interessiert, was sie zu sagen hat. Und jetzt wollen sie auch noch einen Ehemann für sie aussuchen.“
„Vielleicht ist er sehr nett“, meinte Jessy. „Der König wird für seine Tochter doch keine Ehe arrangieren, in der sie unglücklich ist.“
Ami seufzte. „Nein, wahrscheinlich nicht. Aber leider wird sie in jeder Ehe unglücklich sein. Da ist sie sich ganz sicher. Hast du einen Mann?“
„Nein“, antwortete Jessy. „Ich habe keinen.“
Keinen, der zuhause auf mich wartet. Der Gedanke traf sie mit unerwarteter Härte. Andererseits – einer weniger, der sich um sie Sorgen machte. Oder böse auf sie wurde, weil sie ihn so lange nicht zurückrief.
Plötzlich ertönten laute schwere Schritte in der Stallgasse und in Erwartung eines neuerlichen Angriffs von Rheys zog Jessy den Kopf ein. Doch es war Bosco, der angerannt kam. Er war außer Atem und sein Kopf hochrot.
„Da bist du ja!“ rief er. „Oh, Prinzessin Amileehna! Ihr solltet Euch hier nicht allein aufhalten.“
Die ertappte Prinzessin warf Jessy einen schüchternen Blick zu. Doch Jessy lächelte sie nur an. Sie mochte das Mädchen irgendwie.
„Verzeiht, Herrin, aber Jessy muss sofort mit mir kommen. Sie soll vor dem Kronrat sprechen.“
Jessy spürte, wie ihre Gesichtszüge entgleisten. Vor dem Kronrat? Was sollte das denn bedeuten? Wieso wusste überhaupt jemand von ihrer Anwesenheit?
„Ich erkläre dir alles auf dem Weg“, sagte Bosco, als habe er ihre Gedanken gelesen. „Aber man lässt den König nicht warten. Also schnell!“
Jessy bemühte sich, ihm zu folgen, doch Boscos Schritte waren doppelt so lang wie ihre und sie humpelte. Er war so erregt, dass er es gar nicht beachtete. Seine dichten Brauen waren zusammen gezogen und er machte ein finsteres Gesicht.
„Habe ich etwas falsch gemacht?“ fragte Jessy. Plötzlich bekam sie Angst. Sollte dieser Rheys sie etwa als Spionin angezeigt haben?
„Nein, nein“, sagte Bosco grimmig. „Hör zu, hier gehen merkwürdige Dinge vor sich. Schon seit Monaten. Es tauchen Gegenstände auf, wie sie noch nie jemand hier gesehen hat. Wir wissen nichts damit anzufangen. Manchmal leuchten am Himmel Lichter auf und es gibt ohrenbetäubenden Lärm, den wir uns nicht erklären können. Das alles ist uns völlig fremd und es erscheint aus dem Nichts…“
„So wie ich“, beendete Jessy seinen Satz. „Das meinen die doch, oder?“
Bosco nickte während sie durch eine Seitentür in das Hauptgebäude traten und eine weite Treppe hinaufstiegen. Drinnen war es angenehm kühl und dämmrig. Doch Jessys Puls hämmerte.
„Bei deiner Ankunft hat dich jemand in deinen seltsamen Kleidern gesehen und es heute im Kronrat vorgebracht. Und nun wollen sie dich sprechen.“
„Weil sie denken, ich habe etwas mit diesem Zeug zu tun“, schloss sie seine Ausführungen.
Jessy musste zugeben, dass dies ein naheliegender Schluss war. Ihre Gedanken rasten. Immer wieder tauchte das Bild vor ihren Augen auf, wie sie auf den Scheiterhaufen gebracht wurde. Eine Hexe… Wer wusste schon, wie rückständig diese Menschen wirklich waren? Übelkeit rumorte in ihrem Bauch.
Sie erreichten eine breite Tür mit zwei Wachposten und traten ein. Sofort richteten sich alle Blicke auf Jessy. Der Raum war langgestreckt und hatte große Fenster. Von den geschwärzten Deckenbalken hingen bunte Fahnen. Der riesige Kamin gähnte wie ein schwarzer Mund, doch um die Kälte des alten Mauerwerks zu vertreiben, standen überall im Raum verteilt Schalen mit glühenden Kohlen. Jessy spürte die Hitze auf ihrem Gesicht und Schweiß rann ihren Rücken herab.
Es gab keine Möbel außer einem riesigen Tisch an dem etwa zwanzig Männer saßen. Jessy sah verschwommen das blonde Haar des Prinzen. Hinter ihm stand Rheys und starrte sie mit undurchdringlicher Miene an. Es gelang ihr nicht, ihm einen zornigen Blick zuzuwerfen. Ihre Handflächen waren schweißnass und ihre Knie zitterten.
In dem Saal war es so still, dass man eine Stecknadel hätte fallen hören. Sie spürte Boscos nervöse Unruhe überdeutlich neben sich. Hoffentlich bekam er keinen Ärger wegen ihr.
„Tritt näher, Kind“, sagte der König laut. Seiner Stimme war das Alter deutlich anzuhören, aber trotzdem hallte sie volltönend durch den ganzen Saal. Jessy schluckte und machte einige Schritte vorwärts.
„Hören Sie, ich…“, platzte es aus ihr heraus. Einer der Kronräte fuhr von seinem Stuhl hoch und funkelte sie wütend an.
„Du sprichst nur, wenn der König dir eine Frage stellt, verstanden?“
Jessy verstummte schockiert. Wenn sie jetzt einen Fehler machte, würde sie das Kopf und Kragen kosten, so viel war ihr klar.
„Woher kommst du“, sagte er König nicht unfreundlich. Er hatte kluge Augen und die Ähnlichkeit zu seinem Sohn war deutlich zu sehen. Beide hatten ein starkes Kinn und einen sehr lebendigen Zug um den Mund. Der König trug einen gepflegten weißen Bart und kostbare Kleider. Auf seinem schneeweißen Haar saß eine schmale silberne Krone.
„Nicht von hier“, antwortete Jessy. „Nach einem Sturz erwachte ich im Wald und dieser nette… Krieger brachte mich hier her. Weil ich nicht wusste, wo ich war und auch keinen Weg zurück kannte, bot er mir seine Hilfe an.“
„Du bist also nicht aus Westland?“ fragte ein anderer Mann interessiert. Jessy schaute zu ihm hin. Er hatte glänzend schwarzes, pomadisiertes Haar und stechende schwarze Augen. Seine Zähne schimmerten unnatürlich weiß. Er erinnerte Jessy an einen Bankmanager. Instinktiv spürte sie, dass eine Gefahr oder zumindest etwas durch und durch künstliches von ihm ausging.
„Nein und ehrlich gesagt habe ich von diesem Land auch noch nie etwas gehört.“
Es klang schrecklich in ihren Ohren. Nun hatte sie ihre Hilflosigkeit in Worte gefasst. Die Kronräte tuschelten.
„Aber ich kann allen hier versichern, dass ich nichts Böses im Schilde führe“, sagte sie laut. „Ich bin keine Spionin oder so was. Und auch keine Hexe.“ Das war ihr herausgerutscht, bevor sie darüber hatte nachdenken können und sie biss sich auf die Zunge. Sie spürte beinahe körperlich, wie sich jeder im Raum aufrichtete und ihr blankes Misstrauen entgegenschlug.
„Was weißt du über die Hexen?“ fragte der König. Eine steile Falte hatte sich zwischen seinen weißen Brauen gebildet. Jessy hob abwehrend die Hände
„Ich weiß gar nichts, wirklich. Es war nur so daher gesagt. Wo ich herkomme, gibt es gar keine Hexen.“
„Also weißt du doch, wo du her kommst“, schnappte der Manager und ein Lächeln spielte um seine schmalen Lippen. Jessy stöhnte.
„Ja, aber ich weiß nicht, wie es möglich ist, dass ich hier landen konnte. Oder wie ich zurückkommen soll. Bitte, Sie müssen mir glauben. Ich bin nicht Ihre Feindin.“
„Das ist in der Tat eine seltsame Geschichte“, sagte der König nachdenklich. „Beinahe unglaublich, nicht wahr?“
Die Kronräte seufzten und murmelten zustimmend. Jessy hatte Mühe ruhig stehen zu bleiben. Zeig dich einfach kooperativ, sagte sie sich. Dann wird dir niemand etwas tun.
„Aber im Augenblick geschieht viel Unglaubliches in dieser Gegend“, fuhr er nachdenklich fort. „Vielleicht kannst du uns helfen, etwas Licht ins Dunkel zu bringen.“
„Ich weiß wirklich nicht, Herr König, ob ich Ihnen helfen kann“, wich Jessy aus. Was erwartete er denn bloß von ihr?
„Zeigt ihr die Gegenstände“, befahl er dann und ein Diener eilte aus dem Saal. Nervös leckte Jessy sich über die trockenen Lippen. Noch immer starrten die Männer sie voll unverhohlener Neugierde an. Nur wenige Augenblicke später schleppten zwei Männer eine große Truhe durch den Saal und stellten sie vor Jessy auf den Boden. Ihr graute vor dessen Inhalt, was auch immer es sein mochte.
Der Deckel wurde geöffnet und sie musste sich zusammen nehmen um nicht laut aufzustöhnen. In der Truhe, die mit schweren Eisenbeschlägen und einem Schloss gesichert war, lagen eine Plastiktüte mit Aufdruck, ein Autolenkrad, eine Festplatte, eine CD und eine Spiritusflasche. Also lagen diese Männer genau richtig mit ihrer Vermutung. Jessy war Opfer des gleichen Phänomens geworden, das auch diese Gegenstände aus ihrer Welt hier her gebracht hatte. Ihr wurde schwindelig. War es tatsächlich eine Art Öffnung, eine Tür, die sich aufgetan hatte? Konnten noch mehr Dinge hindurch kommen, noch mehr Menschen? Und wie zur Hölle sollte sie diese Tür finden und es schaffen, wieder auf die andere Seite zu gelangen? Aber das war jetzt nicht wichtig. Wenn diese Leute glaubten, dass sie ihnen bei ihrem Problem eine Hilfe sein konnte, würden sie sie hier festhalten, sie ausquetschen und niemals gehen lassen. Diese Männer durften nicht erfahren, dass sie wahrscheinlich viele Antworten liefern konnte auf die Fragen, die den König und seine Räte so sehr umtrieben. Und wollte nicht gerade der Prinz besonders dringend mehr über all das erfahren? Sein Gesicht leuchtete vor gespannter Erwartung auf ihre Reaktion. Jessy fasste sich schnell.
„Ich kenne nichts davon“, log sie und es ging sogar relativ leicht. Ihre Angst beflügelte sie. „Tut mir wirklich leid. Meine Erinnerung wird sich bald wieder einstellen und dann gehe ich zurück nach Hause. Wahrscheinlich komme ich aus irgendeinem Dorf…“
„Wir gehen davon aus, dass bei dieser ganzen Sache Magie im Spiel ist“, sagte ein breitschultriger Mann aus dem Kronrat mit militärischem Haarschnitt und schwarzer Kleidung. „Mit Magiern im Bunde zu sein bedeutet Hochverrat. Du solltest dir also ganz sicher sein bei deinen Aussagen.“
Die Drohung schwebte im Raum wie eine hell glänzende Messerklinge. Jessy erwiderte den Blick des Mannes standhaft.
„Ich sage die Wahrheit. Ich habe mit dieser Magie nichts zu tun, das schwöre ich.“
„Die Schuhe!“ rief plötzlich ein sehr fetter Mann mit glänzender Glatze. „Zeigt uns ihre Schuhe. Der junge Tabassum sagte, ihre Schuhe hätten im Licht der Sonne geleuchtet.“
Verwirrt folgte Jessys Blick den sich umwendenden Köpfen. Jetzt erst entdeckte sie eine Steinbank an der Wand, auf der einige junge Männer saßen. Einer von ihnen leuchtete wie ein Komet, das Gesicht glühte rot unter dem feurigen Haarschopf. Es war der Junge aus der Speisekammer. Noch vor kurzem hatte sie Mitleid mit ihm gehabt, nun war er vielleicht der Nagel zu ihrem Sarg. Bei ihrer Ankunft im Hof musste er sie gesehen haben und nun lieferte er sie diesem Verhör aus. Sie warf ihm einen strafenden Blick zu, unter dem er noch röter wurde und die Schultern noch weiter hoch zog. Die allgemeine Aufmerksamkeit behagte ihm anscheinend nicht.
Ein Wachmann war näher getreten und hob ihren Rock hoch. Darunter kamen ihre neongrünen Joggingschuhe zum Vorschein. Was war sie nur für eine Idiotin? Sie hätte die Schuhe längst ausziehen sollen. Der reflektierende Streifen an der Seite musste diesen Hinterwäldlern ja wie Zauberei vorkommen. Schon ging ein schockiertes Raunen durch die Sitzreihen.
„Es ist Hexerei, Herr“, rief jemand. „Keine Menschenhand kann so etwas erschaffen!“
„Das ist es nicht, wirklich!“ antwortete Jessy ohne zu wissen, an wen sie ihre Worte richten sollte. Aber irgendwie blieb ihr Blick an Prinz Tychon hängen, der sie noch immer interessiert und freundlich anschaute. Er hatte keine Angst. Doch die aufgeregten Stimmen der anderen brachten ihre aufkeimende Hoffnung schnell zum Erlöschen.
„Schafft die Truhe fort! Sie wird uns alle mit ihren Werkzeugen vernichten!“
„Ins Verlies mit der Lügnerin!“
„Ich schwöre, ich lüge nicht! Ich habe dieses Zeug noch nie gesehen! Sie müssen mir glauben! Ich muss nicht ins Verließ!“ rief sie schrill.
Der fette Mann war aufgestanden und hatte watschelnd den Tisch umrundet. Er schwitzte und stank nach Essen. Jessy unterdrückte ein Würgen. Seine kleinen blauen Augen waren wässrig wie bei einem Schwein. Ächzend bückte er sich und nahm die Spiritusflasche aus der Kiste.
„Diese Frau betrügt Euch, Herr“, sagte er in Richtung des Königs „Ich sehe es eindeutig. Sprich die Wahrheit, Weib! Du spielst mit deinem Leben!“
Er gestikulierte wild vor Jessys Gesicht herum. Der Geruch des Spiritus verstärkte ihre Übelkeit noch und schmerzlich war sie sich der Nähe und Hitze der Feuerschale bewusst, neben der sie stand. Die Flasche war offen. Wenn dieser Idiot sie ein wenig drückte, würde er das Zeug direkt in die Glut spritzen und sie standen beide mitten im flammenden Inferno.
„Hören Sie, ich bin ja bereit, alles zu sagen, was ich weiß“, sagte sie beruhigend und versuchte, sich und ihren Peiniger ein wenig von der Schale fort zu bewegen, aber sie war mittlerweile umringt von Wächtern und konnte keinen Schritt zurück weichen. Der fette Mann ging sogar noch näher an die Schale heran.
„Bah, dieses stinkende Zeug“, sagte er. „Das kann nur aus den Kochtöpfen der verfluchten Magier stammen. Wir sollten zusehen, dass wir es loswerden, Herr.“
Er wölbte die Hand und machte Anstalten, sich im Schein der Glut etwas aus der Flasche hinein zu schütten um es genauer zu betrachten. Panik schrillte in Jessys Ohren und sie tat einen Sprung und riss ihm die Flasche aus der Hand.
„Seien Sie vorsichtig damit!“ rief sie atemlos.
Nun hatte sie ist kostbare Deckung aufgegeben. Die Kronräte schimpften aufs Neue los und die Wachposten ergriffen ihre Oberarme.
„Also belügst uns doch“, sagte der König. „Das ist schändlich.“ Er klang beinahe traurig.
Aber sie konnte auch nicht zulassen, dass diese Leute ihre Burg abfackelten!
„Bitte, passen Sie damit auf. Die Flüssigkeit darf nicht in die Nähe von Feuer gebracht werden“, beschwor sie ihn.
Noch immer hielt sie den Spiritus in der Hand, machte sich energisch von den Wächtern los und spritzte ein wenig davon in die Glutschale. Sofort schlugen Flammen hoch. Blankes Chaos brach im Saal aus, die Kronräte sprangen auf und schrien durcheinander.
Jessy wurde gepackt und ihre Sicht verschwamm. Sie hörte Worte, die ihr das Herz gefrieren ließen vor stummer Angst.
„Holt den Folterknecht, er bringt die Wahrheit schon aus ihr heraus!“
„Hängt sie auf! Es ist Hochverrat! Magie ist Hochverrat!“
„Zeigt keine Gnade, Herr!“
Jessy spürte heiße Tränen auf ihrem Gesicht. Sie schaute sich um, versuchte ein einziges Gesicht zu erkennen, das nicht vor Wut verzerrt war. Doch das einzige, das sie sah, war das von Bosco, der sie verwirrt und enttäuscht anblickte. Sie wollte ihm, ihrem einzigen Verbündeten, etwas zurufen, aber die Worte blieben ihr im Hals stecken. Dann schleiften die Wächter sie aus dem Saal und hinunter in die Kellergewölbe der Burg.
Das Zuschlagen der schweren eisenbeschlagenen Tür hinter ihr, brachte Jessy wieder zu sich. Als erstes spürte sie die Kälte und Feuchtigkeit, die sich wie ein Schleier auf ihr Gesicht legten. Fast sofort begann sie zu schlottern.
Das kann nicht sein. Das ist alles nicht wahr.
Sie befand sich in einem kleinen niedrigen Raum, Wände und Boden waren aus groben Steinquadern, die dunkel schimmerten. Unter der Decke gab es ein vergittertes schmales Fenster, durch das die letzten Sonnenstrahlen hereinfielen. Auf dem nackten Boden lag Stroh. Es roch muffig und leicht nach Urin. Und nach Einsamkeit.
Ich träume, dachte sie verzweifelt. Das ist alles nur ein Traum. Reine Einbildung.
Sie ließ sich an der Wand zu Boden sinken und hockte dort – die Knie eng an die Brust gezogen.
„Wach auf, Jessy!“ Ihre eigene Stimme klang laut und schrill. Und dann immer leiser. „Wach auf, wach auf, wach auf!“
Doch nichts geschah. Der harte Stein, gegen den sie ihren Hinterkopf immer wieder fallen ließ, gab nicht nach, wurde nicht zu einem Kissen. Sie begann leise zu weinen. In ihrem Kopf drehte sich alles und sie bemerkte den Geschmack von Erbrochenem im Mund.
Sie werden mich umbringen. Oder noch Schlimmeres.
Die Schatten an der Wand bewegten sich, verformten sich, krochen auf sie zu und von ihr weg. Die uralte Kälte des Mauerwerks schlich sich in ihre Knochen. Und mit ihr die Angst derer, die vor ihr hier gesessen und geweint hatten. Draußen wurde es dunkel und die Dämmerung begann, die Umrisse ihres Gefängnisses zu verschlucken. Bald würde nur noch Schwärze um sie sein.
Jessy mochte nicht nachdenken. Nicht überlegen, was sie tun sollte. Sie wollte einfach alles geschehen lassen. Dann würde der Traum sicher enden und sie wäre bald wieder daheim. Daheim in ihrer gemütlichen Zweizimmerwohnung mit Badewanne, Spülmaschine und Kühlschrank. Sie würde sich auf die Couch legen und das Fernsehprogramm tagelang über sich hinweg rieseln lassen, bis sie all das hier vergessen hatte.
Sie konzentrierte sich so stark auf die Erinnerung an ihr Heim, dass sie es für eine Weile schaffte, die Kerkerzelle auszublenden.
Irgendwann musste sie tatsächlich eingeschlafen sein, denn ein schmerzhaftes Zwicken an ihren nackten Zehen ließ sie erschrocken hochfahren. Der instinktiv zutretende Fuß traf auf etwas Weiches, Pelziges. Jessy kreischte. Die Ratte flüchtete ebenso erschrocken ins Stroh.
„Warte gefälligst bis ich tot bin, du Drecksvieh!“ rief Jessy. Ihr Puls raste, sie war wieder hellwach. Ihr Körper schmerzte von der unbequemen Haltung. Widererwarten war es nicht völlig dunkel. Durch die Fensteröffnung fiel das Flackern von Feuerschein herein. Vielleicht brannten draußen Fackeln. Mühsam stand sie auf und schielte eng an die Wand gepresst durch das Fenster hinaus. Der Kerker war ein Kellerverlies, nur wenige Meter unter dem Burghof. Sie konnte über den Hof sehen und wenn sie sich etwas verrenkte und den Kopf in den Nacken legte auch den Himmel und die Sterne über den Zinnen. Es musste spät nachts sein, denn nichts regte sich draußen.
Sie erinnerte sich nur verschwommen an den Moment, wie sie hier herein gestoßen worden war. Sie hatte geweint und das Gefühl der Verzweiflung, die sich wie eine kalte Hand um ihr Herz legte, hallte noch in ihr nach. Ihr Gesicht juckte von den getrockneten Tränen.
„Reiß dich gefälligst zusammen“, murmelte sie und schämte sich wegen ihrer Kopflosigkeit. „Es wird schon einen Weg hier heraus geben.“
Entschlossen schüttelte sie Arme und Beine aus, um sich etwas Wärme in die Glieder zu pumpen. Sie streckte den Rücken und die Schultern. Eine Runde Yoga würde ihr sicher helfen. Was würden ihre neuen Freunde wohl dazu sagen, wenn sie hereinkämen um sie abzuführen und sie gerade im perfekten Lotussitz meditierte?
Der Gedanke brachte sie zum Schmunzeln. So ist es besser, dachte sie. Immer ruhig bleiben. Es tat gut, wieder bei Sinnen zu sein. Sie tastete sich an der Wand entlang zur Zellentür. Das Holz war steinhart und vom langen Gebrauch geglättet. Sie rüttelte daran, sah aber sofort ein, dass es hier kein Hinauskommen gab.
„Hallo?“ rief sie. Sicher gab es einen Kerkermeister. Das waren meistens dumme, schwerfällige Männer, die man leicht überlisten konnte. Zumindest war es in den Filmen so. Sie hämmerte gegen die Tür und rief immer wieder. Schließlich hörte sie schlurfende Schritte näher kommen. Ihre Augen hatten sich mittlerweile gut an die Dunkelheit gewöhnt und sie konnte deutlich den gelben Lichtschein erkennen, der unter der Tür hindurch fiel.
„Was willst du!“ knurrte eine Stimme.
„Wasser. Bitte geben Sie mir einen Schluck Wasser. Das wird mir doch gestattet sein, oder nicht?“
Der Wächter zögerte. Sie konnte die schwerfälligen Gedanken beinahe hören. Dann bewegte er sich. Der Schlüssel wurde im Türschloss gedreht. Jessy trat einen Schritt zurück und machte sich bereit. Sie würde den Mann einfach überrennen und losstürmen. Vielleicht musste sie ihm in seine herrlichsten Teile treten und sie trug nur noch einen Schuh. Hoffentlich trug er keine Rüstung.
Die Tür schwang auf, Fackelschein fiel auf den vergammelten Strohbelag am Boden. Jessy stürmte los – und prallte gegen die ausgestreckte Hand des Mannes, der in aller Seelenruhe einen Krug auf den Boden gestellt hatte und sich ächzend wieder erhob. Ohne einen Laut schubste er sie wieder zurück in die Zelle und schlug die Tür zu. Ein dumpfer Schmerz pochte in Jessys Brustbein, als sie nach hinten stolperte.
„Das hat ja wunderbar geklappt“, murmelte sie. Sofort kam ihr die ganze Idee dämlich vor. Im Gegensatz zu den Leuten hier war sie körperlich schwach und unbelastbar. Sie hatte keine Waffen. Ihre einzige Chance war es, die Menschen zu beschwatzen. Sie war sicher, dass man ihr ihre Unwissenheit geglaubt hätte, wenn ihr nicht der Fehler mit dem Spiritus unterlaufen wäre. Dabei hätte sie zu gerne gesehen, wie dieser dicke, unverschämte Kerl sich die Augenbrauen versengte. Jessy versuchte, sich an die Gesichter der einzelnen Männer zu erinnern. Der schwarzhaarige Manager war gefährlich. Die ganze Zeit über hatte er entspannt gewirkt und überlegen gelächelt. Nicht einmal ihr dramatischer Auftritt hatte ihn aus der Ruhe gebracht. Und Prinz Tychon – auch er war nicht entsetzt gewesen, sondern nur erstaunt. Vielleicht gab es ja doch noch eine Chance. Nachdem sie ihre Panik überwunden hatte, merkte sie nun, dass sie nicht bereit war, aufzugeben. Zu groß war ihre Sehnsucht nach Zuhause. Und auch ihre Neugierde. Was für eine Magie war das, die diese Menschen so sehr fürchteten? Verbotene Magie, für die man gefoltert und hingerichtet wurde. Jessy schauderte. Jetzt nicht daran denken. Die Stille und Dunkelheit um sie herum waren zu bedrückend. Wenn sie jetzt wieder in Panik geriet, würde sie verrückt werden.
Konzentriere dich auf das Nächstliegende, ermahnte sie sich. Sie hatte Hunger und Durst. Vorsichtig ertastete sie den Wasserkrug auf dem Boden und nahm einen Schluck. Es schmeckte frisch und kühl. Zu essen bekam sie offenbar nichts, aber das war nicht so wichtig. Ihr Kopf war bleischwer und sie war entsetzlich müde. Erschöpft schob sie etwas Stroh mit dem Fuß zusammen und setzte sich hin, den Rücken an die Wand gelehnt. Sie lauschte auf ihren lauten Atem in der Hoffnung, wieder einzudösen.
„Jessy Falk“, raunte eine Stimme. Sie schien überall zu sein. Jessy setzte sich auf. Hatte sie es sich im Halbschlaf nur eingebildet oder sagte jemand ihren Namen?
„Hier oben!“
Sie sprang auf die Füße. Jemand kauerte vor dem niedrigen Fenster und schaute herein. Die dunkle Gestalt verdeckte die Sterne und den Fackelschein, so dass es in der Zelle plötzlich stockfinster war.
„Wer bist du?“ fragte sie.
„Ich kann dir helfen“, raunte die Gestalt. Es war eindeutig ein Mann. Ein seltsamer, betäubender Geruch ging von ihm aus. „Wenn du mir hilfst.“
„Wie sollte ich helfen? Ich bin eine Gefangene!“
„Hat Skarphedinn dich geschickt?“
„Ich kenne niemanden, der so heißt. Ich bin nicht von hier, falls du es noch nicht gehört hast. Niemand hat mich geschickt.“
„Bist du aus dem Südland? Weißt du etwas über die Verhandlungen? Wenn du redest, helfe ich dir hier heraus.“
Jessy schluckte. Sie konnte einfach irgendwas erzählen und der Mann würde sie befreien. Doch tief in ihrem Bauch spürte sie, dass ihm nicht zu trauen war. Warum kam er mitten in der Nacht zu ihr?
„Wer bist du?“ fragte sie.
„Ich kann dein Freund sein, wenn du meiner sein willst. Ich habe viel Macht. Aber du musst dafür dein Wissen preisgeben.“
„Woher weiß ich, dass du mir helfen wirst?“
Der Mann bewegte sich, seine Kleider raschelten. Plötzlich sah sie seine weißen schlanken Hände in einem grünlichen Licht aufscheinen. Das Licht bewegte sich und flog durch die Gitterstäbe in die Zelle herein. Jessy hielt vor Erstaunen den Atem an.
Es war ein Schmetterling, ziemlich groß und lebhaft. Und er leuchtete von innen heraus. Noch viel stärker als ein Glühwürmchen. So etwas hatte sie noch niemals zuvor gesehen. Das Tier tanzte durch die Zelle und der Lichtschimmer wirkte sofort tröstlich auf Jessy. Sie schaute zu dem Mann hin. Sein Gesicht war nun leicht erhellt, es war schmal und jung und die lange Nase trat deutlich hervor.
„Nimm das als Vorschuss“, sagte er. „Gefangenschaft ist mit etwas Licht viel leichter zu ertragen, ich weiß das.“
Jessy war tatsächlich dankbar.
„Wie bist du her gekommen?“ fragte er weiter, nun drängender. „Gehört Bosco auch dazu? Ist er ein Spion? Oder hast du ihm einen Bann auferlegt?“
Jessy schüttelte den Kopf. Das war doch absurd.
„Blödsinn, Bosco hat nichts mit mir zu tun. Er war nur zur falschen Zeit am falschen Ort. Zieh ihn da nicht mit hinein. Und ich bin keine Magierin oder Hexe, verstanden?“
Der Mann schwieg einen Moment. Der Schmetterling hatte sich auf dem Boden niedergelassen und schlug sachte mit den Flügeln. Das Licht, das von ihm ausging pulsierte sanft und stetig.
„Bist du eine Hure? Ein angeworbenes Weib, das Skarphedinn eingeschleust hat?“
Jessy stieß die empört die Luft aus. „Das ist ja eine Unverschämtheit. Verschwinde, ich will nichts mit dir zu tun haben. Ich weiß nichts von deinem ganzen Zeug.“
Eine Sekunde später hatte der Mann sich davon gemacht. Jessy blinzelte. Sie fühlte sich, als wäre plötzlich ein großer Druck von ihr abgefallen.
Der Mann kam nicht zurück. Sie setzte sich wieder auf ihren Strohhaufen und tröstete sich am Anblick des leuchtenden Schmetterlings. Er war seltsam und sie konnte sich gar nicht daran sattsehen. Es war ein lebendiges Tier, sie konnte keine Spur von Elektronik erkennen. Sie wollte ihn gerne genauer untersuchen, befürchtete aber, das filigrane Wesen zu verletzen. So ließ sie ihn einfach herumflattern und wartete frierend und voller dunkler Ahnungen auf den Morgen.