Читать книгу Land der Wölfe - Julia Adamek - Страница 9
Kapitel
ОглавлениеSie hatten den Wald hinter sich gelassen und ritten durch wilde Wiesen und mit Bäumen bestandene Hügel, in denen die einzige Spur von Menschen hier und da verwitterte Weidezäune waren. Die Straße wurde breiter, die Sonne schien warm und Jessy genoss die freie Sicht auf den Himmel und die kühlende Brise, die gelegentlich aufkam. Ihr Weg verlief parallel zu einem breiten Fluss mit steilen Ufern, der sich gemächlich durch sein steiniges Bett schlängelte. Die Luft duftete nach Gras und wilden Blumen, dem Staub des Weges und manchmal landete ein großer Schmetterling völlig ungeniert auf Lias Mähnenkamm und zeigte Jessy seine farbenfrohen Flügel. Was für ein paradiesischer Ort.
Jessy fragte sich unwillkürlich, wann sie auf die ersten Dinge aus ihrer Welt stoßen würden, die dieser Landschaft nur schaden konnten. Und sei es nur durch ihre unpassende Anwesenheit in der unberührten Natur.
Nachdem Jessys Schlangenbiss dank Benoas‘ Umschlägen fast verheilt war, hatte sich ihr panischer Wunsch nach medizinischer Versorgung als unnötig erwiesen. Und die Männer, scheinbar wirklich beeindruckt von ihrer Tapferkeit, hatten an ihrer Anwesenheit beim abendlichen Biertrinken nichts mehr auszusetzen. Nicht einmal Rheys, dessen Racheaktion noch auf sich warten ließ, hatte sich ihr in den Weg gestellt. Sie freute sich, nicht länger misstrauisch beobachtet zu werden und wünschte sich inständig, dass auch Albin in die Runde aufgenommen würde. Doch er schien daran kein Interesse zu haben, blieb für sich und war nach der erneuten Demütigung beim Fechten wieder in sein Schneckenhaus zurück gekrochen.
„Wir rasten!“
Sie hatten eine Stelle erreicht, wo das Flussufer abflachte und sie die Pferde tränken konnten. Ein paar Birken spendeten Schatten. Jessy stieg aus dem Sattel und streckte sich.
„Komm, du Scheusal“, raunzte Albin sein Pferd an und zerrte den schwarzen Hengst am Zügel zum Wasser. Das Tier hatte Schaum vor dem Maul und war schweißgebadet, es stemmte sich unwillig gegen das Zerren an der Trense.
Am gegenüber liegenden Ufer war eine Gruppe Frauen dabei, Wäsche zu waschen. Sie waren die ersten Menschen, denen sie seit Efrem und seiner Jagdgesellschaft begegneten. Ihr Gelächter war laut und sie sangen ein wildes Lied, dessen Text Jessy nicht verstehen konnte. Ihre Kleider waren einfach, beinahe schäbig und sie trugen das Haar offen und nicht streng aufgesteckt, wie Jessy die Mode in der Eisenfaust kennen gelernt hatte.
„Sind das Bauersfrauen?“ fragte sie.
Bosco grinste. „Das sind Gauklerweiber.“
Die Frauen waren schon auf sie aufmerksam geworden und nun stand Bosco auf und winkte.
„He da, ihr Täubchen!“ schrie er. „Wo ist euer Lager?“
Eine Frau mit üppigem Busen erhob sich. „Nur eine Stunde von hier“, rief sie herüber. „Ist das nicht der herrliche Prinz Tychon mit seinen Wölfen? Wir warten schon seit Tagen auf euch!“
Die Frauen lachten.
„Bestellt eurem Anführer meine Grüße“, rief Tychon gutgelaunt. „Wir werden ihn bald aufsuchen.“
„Tut das, mein Herr! Und bringt eure Männer mit und auch die Mädchen. Ihr werdet sehen, was wir zu bieten haben, gibt es nirgendwo in ganz Ovesta.“
„Was meint sie?“ fragte Jessy Albin.
„Die Gaukler sind ein wildes Völkchen“, antwortete er und tränkte ein hellblaues Seidentaschentuch mit Wasser. Er trug noch immer seine höfische Kleidung, die verstaubt und knittrig war. „Es ist ihnen verboten, nach Ovesta zu kommen, denn sie bringen Spiele, Weiber und genügend Rauschmittel in ihren Wagen mit, um die gesamte Eisenfaust drei Tage zu betäuben und mit leerer Börse zurück zu lassen. Ich weiß nicht, warum Tychon mit ihnen sprechen will.“
„Vielleicht will er nur ein bisschen Spaß“, mutmaßte Jessy. Albin schaute sie irritiert an.
„Es ist in höchstem Maße unpassend für ihn, dorthin zu gehen. Wie es scheint, sieht das Fabesto auch so.“
Fabesto redete eindringlich auf Tychon ein, doch dieser ging gar nicht auf die Ermahnungen ein. Ein amüsiertes Grinsen spielte um seine Lippen.
„Mach dir doch nicht solche Sorgen“, sagte er dann. „Du weißt, bei den Gauklern gibt es keine Namen und keine Ränge und was bei Dunkelheit geschieht, wird bei Tag vergessen. Und ich habe genügend Männer dabei, die mich beschützen.“
„Ich befürchte, Herr, dass die Hälfte dieser Männer Euch dort keine Hilfe sein werden“, sagte Fabesto mit strenger Miene.
„Wir werden schon aufpassen“, sagte Rheys beschwichtigend. „Aber die Gauklerherren kommen viel herum und sie wissen Dinge, die anderen verborgen bleiben. Haben ihre Ohren überall und wissen, was so mancher nur betrunken ausspricht. Wir können vielleicht etwas von Wichtigkeit erfahren.“
„Wenn ihr es nur bis zum Morgen nicht vergessen habt“, brummte Fabesto.
Im Gegensatz zu Amileehna ließ Jessy es sich nicht verbieten, das Lager der Gaukler zu besuchen. Sie hatte sich ein wenig Abwechslung verdient und war höchst neugierig. Von ihrem Zeltplatz aus konnten sie die Musik hören, die durch die Abendluft herüber wehte und der rhythmische Trommelschlag war geradezu verlockend.
„Reiten wir nicht?“ fragte Jessy und schloss sich den Männern um Tychon an.
Amileehna hockte in ihrem Zelt und schmollte, wohl auch weil Kaj zu ihrer Bewachung zurück blieb und nicht Wiar. Dieser hatte dagegen keine Einwände. Offenbar ging seine Zuneigung zu der Prinzessin nicht so weit, dass sie ihn von einem Besuch bei Weib, Wein und Gesang abhalten konnte.
„Nein, das ist zu gefährlich“, antwortete Bosco. „Die stehlen dir das Sattelzeug unter dem Hintern weg. Gib auf deine Börse Acht.“
Jessy spürte Röte in ihr Gesicht steigen. „Ich habe gar keine Börse“, sagte sie leise und schmerzlich wurde ihr bewusst, dass sie tatsächlich keinen Pfennig Geld besaß. Was für ein seltsames Gefühl.
Bosco klopfte ihr auf den Rücken. „Keine Sorge. Ich bin sicher, als Gefolge des herrlichen Tychon werden wir kein Geld brauchen.“
Auf einer großen Wiese standen unzählige bunte Zelte und dazwischen brannten Feuer und Fackeln steckten in der Erde. Es duftete nach Essen und würzigem Wein und schweren Parfums. Auf Decken und Teppichen saßen Menschen beisammen, spielten und tranken. Auf einer roh gezimmerten Bühne tanzten junge Frauen mit Glöckchen an den nackten Fußknöcheln. Die fröhliche Musik von Trommeln, Flöten und Fiedeln erweckte auch in Jessy den Wunsch zu tanzen, aber davon war sie noch einen halben Liter Würzwein entfernt.
Viele Leute aus der näheren Umgebung waren gekommen um das Lager zu besuchen und sich den Vergnügungen hinzugeben. Die ersten Jugendlichen torkelten betrunken vorüber. Auch Bauersfrauen und junge Mädchen mit rotwangigen Gesichtern waren da, ließen sich die Zukunft vorhersagen und kauften Bänder und verwunschenen Schmuck und Liebestränke. Die Gaukler sangen laut und ungehemmt und von allen Seiten wurden die Besucher angesprochen und mit verführerischen Angeboten gelockt.
„Sehe ich aus wie ein Betrüger? Nein, meine edlen Herren, hier gewinnt jeder! Diese Würfel sind frei von jeder Schuld, unschuldig wie die Morgenröte. Kommt her und legt eure Münzen auf den Tisch und seht es selbst!“
„Süßeren Met habt ihr nie gekostet! Und keine süßeren Mädchen! Ruht eure Glieder aus, genießt die schöne Nacht in unserer Runde!“
An einem Stand, hinter dem eine ruhige alte Frau saß, blieb Jessy stehen. An Lederbändern funkelten kunstvoll geschnitzte Anhänger im Feuerschein. Plötzlich wünschte sie sich wirklich, ein wenig Geld zu haben um etwas zu kaufen. Sie nahm einen großen ovalen Anhänger in die Hand, in dessen Mitte ein grüner Stein ruhte.
„Das ist das Holz der Meereiche“, sagte die alte Frau. „Ein sehr alter Baum mit sehr viel Kraft.“
„Es ist wirklich schön.“
Sie spürte, dass die Alte sie musterte, aber es war ihr nicht unangenehm. Dann schnalzte sie mit der Zunge und nahm Jessy das Schmuckstück sanft aus den Händen.
„Das ist nicht das Richtige“, sagte sie. „Dieses ist für dich.“
Sie legte einen anderen Anhänger in Jessys Hand. Er war so groß wie ein Zwei-Euro-Stück, ein weißer Ring mit drei Knoten, in der Mitte ruhte eine Sonne aus rotem Stein.
„Dies ist der Knochen des Westlandhirsches“, sagte die Alte. „Ein edles und tapferes Geschöpf. Es begleitet dich auf deinem Weg.“
Sie wies auf die drei Knoten. „Wo du warst, wo du bist, wohin du gehen wirst. Es schützt das Feuer in deinem Herzen, die rote Sonne.“
Jessy bekam eine köstliche Gänsehaut.
„Ich habe kein Geld“, sagte sie leise.
„Oh nein, es ist ein Geschenk“, antwortete die Alte schnell. „Ich möchte, dass du es nimmst. Es wurde für dich gemacht.“ Sie zögerte. „Und es ist ein weiter Weg, der vor dir liegt, das sehe ich. Ein Weg, auf dem du Schutz benötigen wirst. Mehr als ihn die Wölfe dir bieten können.“
Sie wies auf Rojan, der als stummer Schatten Jessys Begleiter war.
„Nicht nur dein Fleisch wird in Gefahr geraten“, flüsterte die Frau. „Auch dein Herz.“
Jessy legte sich den Anhänger um den Hals. Sofort erwärmte er sich auf ihrer Haut und fühlte sich an wie ein Teil von ihr.
„Ich danke dir“, flüsterte sie. Die Alte nickte und zog sich in den Schatten ihres Standes zurück. Jessy beeilte sich, den anderen zu folgen. Ihre Wangen glühten. Noch nie hatte sie etwas so wertvolles geschenkt bekommen.
Tychon hatte inzwischen den Anführer dieser bunten Gesellschaft ausfindig gemacht. Also zuerst der ernsthafte Teil. Im Inneren des großen Zeltes, in dem man sie bereits erwartete, lagen dicke Teppiche und Kissen auf der Erde. Aus einer Feuerschale strömte ein würziger Duft, der Jessy schwindelig machte. Ein kleiner, drahtiger Mann erhob sich von einem Kissenberg und verneigte sich höflich aber nicht demütig.
„Was für eine große Ehre ist dieser hohe Besuch für uns, mein Herr“, sagte er mit einem seltsamen rollenden Akzent. „Mein Name ist Illdin. Was immer ihr heute Nacht wünscht und begehrt, soll euch zur Verfügung stehen.“
Sie setzten sich, Jessy saß zwischen Albin und Sketeph. Bis auf Rheys und Bosco warteten alle Gardisten draußen. Eine junge Frau brachte Wein und einen Teller mit Süßigkeiten.
„Ich komme um mit dir einige wichtige Dinge zu besprechen“, sagte Tychon. „Du und deine Leute, ihr seht das ganze Land und sprecht mit vielen Menschen. Uns wurden Informationen zugetragen, dass sich merkwürdige Dinge im Reich ereignen. Habt ihr davon gehört?“
Illdin hatte sich zurückgelehnt. Er trug keine Schuhe, seine Fußsohlen waren schwarz und sein dunkles Haar lang und strähnig. Aber seine Kleider waren gepflegt und sein Schmuck kostbar. Er rauchte eine kleine Pfeife, die denselben würzigen Duft wie die Feuerschalen verbreitete. Bestimmt irgendeine Droge, mutmaßte Jessy. Sie fühlte sich schon leicht benebelt.
„Gefährliche Gegenstände erscheinen aus dem Nichts“, sagte Illdin leise und hüllte sein Gesicht in Rauch. „Der Himmel und die Erde beben und grollen. Menschen erscheinen aus dem Nichts und verschwinden wieder dorthin.“
„Also ist es wahr?“ fragte Tychon aufgeregt.
„Im ganzen Westland, mein Herr, ich schwöre es bei meinen Augen. Viele Menschen machen sich Gedanken, sorgen sich. Gut für uns. Sie suchen Trost im süßen Rausch und in Vergnügungen.“
„Du sagst es sind Menschen verschwunden und wieder aufgetaucht?“ fragte Fabesto.
Jessy wurde heiß und kalt. Gab es noch andere wie sie, die es hier her verschlagen hatte? Und die wieder zurückgegangen waren?
Illdin schien es zu genießen, dass die hohen Gäste so neugierig auf seine Informationen waren. Er zuckte gleichgültig die Schultern.
„Ich habe es gehört. Aber die Menschen reden viel Unsinn. Wer weiß, was davon wahr ist.“
„Habt ihr solche fremden Gegenstände? Ihr kauft und handelt mit seltenen Waren. Können wir sie sehen?“
„Meine Herren, ich kaufe nur Dinge, die mir jemand abkauft. Niemand gibt einen Silberling für etwas, das er fürchtet.“
„Was kannst du uns noch sagen?“ fragte Tychon. „Sprich ganz offen und es wird dir kein Schaden entstehen.“
Illdin schwieg einen Moment und musterte den Prinzen prüfend durch den Rauch seiner Pfeife. Er lächelte leicht. Seine Schneidezähne waren aus Gold.
„Wie ich hörte, haben sich vor kurzem einige, die mit uns reisen von der Truppe entfernt. Doch ich kann euch nichts sagen. Über sie zu sprechen kostet mich den Kopf.“
„Magier? Eure Magier haben sich entfernt?“
Im Kreise dieses Gesindels war es also noch nicht verpönt, sich mit Magiern abzugeben. Jessy fragte sich, ob ihr Anhänger womöglich verzaubert war.
„Zu einer Versammlung, wie man hört. Einem Treffen.“
Alle Blicke wandten sich Sketeph zu. Der kleine Mann schien ebenso überrascht zu sein. „Ich habe davon nichts gehört. Wie Ihr wisst, pflege ich keinen Kontakt zu Mitgliedern der Gilde.“
„Die Gilde existiert also noch immer“, sagte Fabesto atemlos. „Das steht außer Frage. Und sie ruft ihre Leute zusammen. Es ist ungeheuerlich!“
„Dafür haben wir keinen Beweis“, knurrte Tychon ärgerlich. „Wohin sind sie gegangen, die Magier? Sind sie zurückgekehrt?“
„Nach wenigen Tagen waren sie wieder bei uns. Wir fragen nicht danach, wohin jemand geht oder woher er kommt. Das ist nicht unsere Art“, antwortete Illdin.
„Ich möchte mit einem von ihnen sprechen“, sagte Tychon entschlossen.
„Sie werden euch nichts sagen, Herr“, antwortete Sketeph mit dünnem Lächeln. „Wenn die Gilde sich zusammentut, dann werden sie unter Tod und Folter schweigen. Wer auch immer sie gerufen hat, besitzt große Macht über sie. Immerhin riskieren sie ihr Leben, wenn sie diesem Ruf folgen.“
Tychon schwieg und dachte nach. Sein Gesicht war angespannt, seine Kiefer fest aufeinander gepresst.
„Ich danke dir für deine offenen Worte. Das sind wahrlich beunruhigende Nachrichten für uns.“
Illdin neigte respektvoll den Kopf. „Ich freue mich immer, wenn ich dem König dienen kann. Oder in diesem Fall seinem Sohn. Aber jetzt sehe ich, dass unser Gespräch Euch betrübt hat. Das kann ich nicht dulden in meinem Zelt und in meinem Lager.“
Er winkte der jungen Frau zu, die mehr Wein brachte. „Ihr seid meine Gäste. Genießt eine Nacht in unserer Runde. Morgen ist noch Zeit genug um sich zu sorgen. Heute sollt ihr frei vom Kummer sein.“
Jessy war nicht beleidigt, als Tychon ihr nahe legte, sich zurück zu ihrem Lager bringen zu lassen. Die Nacht war herein gebrochen und die Sterne funkelten über ihnen. Die kühle Luft klärte ihren Geist ein wenig. Von dem Rauch im Zelt fühlte sie sich benommen. Sie war müde und hatte genug gesehen.
„Ich will keinem Eurer Männer zumuten, auf mich aufpassen zu müssen“, sagte sie lächelnd. „Sie sollen ihren freien Abend genießen.“
Der Weg durch die Wiesen in Rojans schweigsamer Gesellschaft entspannte sie. Grillen zirpten im hohen Gras, die Musik wurde leiser und sie freute sich auf einen kühlen Schluck Wasser und ihre Pritsche. Doch wahrscheinlich musste sie Amileehna noch lang und breit alles berichten, was sie gesehen hatte. Bestimmt lag die Prinzessin wach im Bett und wartete auf sie. Die Geschichte mit dem Amulett würde ihr bestimmt gefallen. Doch Jessy wollte sie nicht teilen. Dies war ihr Geheimnis. Besonders die Prophezeiung der alten Frau. Ein langer Weg mit Gefahren für ihr Herz? Sie mochte sich gar nicht ausmalen, was das bedeuten sollte.
Doch es war nicht Amileehna, die sie erwartete, sondern Morian. Lächelnd stand er am Eingang seines Zeltes. Es war unter seiner Würde, sich in das Gauklerlager zu begeben und so hatte er darauf verzichtet, mit Tychon zu gehen. Vielleicht auch nur um Jessy jetzt abzufangen. Jedenfalls winkte er sie heran und sie hatte kaum die Chance sich zu wehren, als er sie in sein Zelt schob.
„Du kannst gehen“, sagte er zu Rojan. „Sei versichert, dieser Dame droht in meiner Gesellschaft nicht die geringste Gefahr.“
Sein Grinsen schien Jessy noch maskenhafter als sonst. Rojan zögerte einen winzigen Moment, dann neigte er den Kopf und verschwand.
„Bitte setz dich“, sagte er höflich und deutete auf einen Klappsessel. „Möchtest du etwas trinken?“
„Wasser“, sagte sie schroff. Morian hob die Brauen.
„Ich bitte dich. So einen köstlichen Tropfen wie diesen hier, kannst du mich nicht allein genießen lassen. Aus meinem Privatvorrat.“ Als er ihr einen Becher mit goldenem Rand reichte, zwinkerte er Jessy zu. Sie fühlte sich sehr unwohl und wappnete sich gegen Vorwürfe, Schmeicheleien, Lügen – was auch immer er vorhatte, ihr zu erzählen. Das Zelt war sehr viel luxuriöser als ihres, auf dem Boden lag ein Teppich und es gab mehrere Feuerschalen. An einem Pfosten hing ein kleiner Rasierspiegel und auf einem Tischchen standen eine Waschschüssel aus Porzellan und ein passender Krug. Eine der Liegen war mit vielen Kissen und Pelzdecken ausgestattet, das musste Morians sein. Er hatte sogar Bücher mitgebracht, die sich neben seinem Bett türmten. Auf Tychons Pritsche lagen sein schmutziges Hemd und ein Stapel Landkarten, die er sich offensichtlich gerade noch angesehen hatte. Das Bett von Fabesto glich ihrem schon eher, es gab nur ein kleines Kissen und eine raue Decke. Er hätte wahrscheinlich lieber auf dem Boden geschlafen.
„Hattest du einen schönen Abend?“
„Das hatte ich. Und sehr informativ“, antwortete sie. Sie hatte nicht die geringste Lust, Morian Bericht zu erstatten. Sollte er sich doch von jemand anderem alles erzählen lassen. Doch er verzog nur spöttisch den Mund.
„Das bezweifle ich. Von diesen Leuten kann man keine ehrlichen Aussagen erwarten. Sie sind durch und durch verkommen, betrügen und stehlen und bewegen sich nur am Rande des Gesetzes der Krone. Ihnen ist nicht zu trauen. Sie würden dem Prinzen alles erzählen, was er hören will, wenn er nur ein paar Goldmünzen in ihrem Lager zurück lässt.“
„Hast du das Tychon auch gesagt?“
„Selbstverständlich. Aber wie du vielleicht schon festgestellt hast, bildet sich unser Herr gerne seine eigene Meinung.“
„Was er auch tun sollte als zukünftiger König“, versetzte Jessy.
Morian schien durch ihren Seitenhieb amüsiert. „Da stimme ich dir völlig zu. Trotzdem – er ist sehr jung und braucht Führung.“
„Ich bin müde und möchte gerne schlafen“, sagte sie. „Könntest du also bitte auf den Punkt kommen, warum du mich noch sprechen wolltest?“
Morian lehnte sich zurück und streckte die langen schlanken Beine aus, die in schwarzen ledernen Hosen steckten. Sein Hemd war aus blauer Seide und sein Wams mit Stickerei verziert. Jessy hatte den Eindruck, dass er der Herr dieses Zeltes war und nicht ein anderer.
„Ich möchte mit dir plaudern, das ist alles. Es gibt so viele Dinge, die ich über dich erfahren möchte. Ich bin von Natur aus sehr neugierig.“
„Zum Beispiel? Noch mehr Kram aus meiner Welt?“
„Nein, ganz im Gegenteil. Du bist es, die mich interessiert.“ Seine Stimme klang gefährlich leise. „Bisher sind wir davon ausgegangen, dass du durch einen Zufall hier her gelangt bist. Aber vielleicht war es auch die Vorsehung, die ausgerechnet dich auf diese Reise geschickt hat. Irgendetwas Besonderes ist an dir, das spüre ich genau. Deshalb möchte ich dich kennen lernen. Um zu verstehen, welche Rolle du hier spielen wirst.“
Jessy antwortete nicht. Was für ein eigenartiger Gedanke. Bisher hatte sie selbst über ihr Leben bestimmt. Schicksal – gab es das überhaupt? In jedem Fall würde sie mit Morian das Ganze nicht erörtern. Sie vertraute diesem Mann kein Stück.
„Warum führen wir dieses Gespräch nicht mit Tychon. Er sollte über alles Bescheid wissen“, sagte sie. Ihre Finger hielten den Becher fest umklammert. Es war unmöglich, sich in der mächtigen Gegenwart dieses Mannes zu entspannen. Nun wurde seine Miene eine Spur unfreundlicher.
„Du bist ihm sehr ergeben, nicht wahr? Dabei dürfte dir klar sein, dass ich allein es war, der deinen Kopf gerettet hat. Nur meine Stimme hat im Kronrat Gewicht und deine Begnadigung habe ich bewirkt.“
„Und deshalb soll ich mich dir verpflichtet fühlen und den Prinzen hintergehen? Wie wäre es, wenn ich morgen früh zu ihm gehe und ihm berichte, dass du irgendetwas gegen ihn ausheckst?“
Morian lachte laut. „Ich hecke etwas aus? Ich bitte dich. Meine Familie ist seit dreihundert Jahren im Kronrat vertreten. Niemand könnte loyaler sein. Und warum sollte ich Tychon oder dem König etwas anhaben wollen? Mir geht es gut, wo ich bin.“
„Du kannst mir nichts vormachen. Ich weiß, dass du irgendwelche Ziele verfolgst, die du nicht offen legst. Ich werde schon dahinter kommen.“
„Du hast eine sehr schlechte Meinung von mir, wie mir scheint. Dabei habe ich dich immer sehr zuvorkommend behandelt. Ein Grund mehr unsere Bekanntschaft zu vertiefen. Ich bin immerhin kein Bösewicht.“
Seine Zähne leuchteten unnatürlich weiß. Jessy verabscheute sein selbstsicheres Gehabe und sie stand ruckartig auf.
„Wir können gerne über alles sprechen, was du wissen möchtest. Aber nur in Gegenwart des Prinzen. Ich habe keine Geheimnisse vor ihm.“
„Wirklich nicht?“ Sein Blick ruhte unangenehm lange auf ihrem Gesicht. Jessy fühlte, dass sie rot wurde. Aber er konnte nichts von dem Handy wissen, dass sie vor Tychon versteckt hatte und auch nichts von ihrer Lüge über die Gefahren, die dem Westland drohten. Er versuchte nur, sie aus der Fassung zu bringen.
„Wo ich herkomme sagt man: Wer im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen.“
„Ein schöner Satz. Ich werde ihn mir merken. Du solltest jetzt wirklich schlafen“, sagte Morian wieder völlig entspannt und freundlich.
Ohne ein weiteres Wort rauschte Jessy aus dem Zelt.
Am nächsten Morgen rechnete sie mit massiver Katerstimmung, doch die Wölfe waren bester Laune und schon bei Tagesanbruch auf den Beinen. Nur Albin und auch der Prinz waren etwas grün um die Nase. Auf die Frage hin, wie die Nacht verlaufen war, schüttelte Albin nur den Kopf.
„Ich glaube, es ist besser, nicht davon zu sprechen“, sagte er und sein Gesicht wurde tiefrot. Jessy grinste.
„Verstehe“, sagte sie. „Was in Vegas passiert, bleibt in Vegas.“
Albin nickte, obwohl er ihre Anspielung mit Sicherheit nicht verstanden hatte. Die Soldaten hatten ihn wahrscheinlich so manchem Mannbarkeitsritual unterzogen, das sein Vater nicht im Sinn gehabt hatte.
Als sie an dem Gauklerlager vorüber ritten, sah es im Licht der strahlenden Morgensonne aus wie eine verlassene Spielzeugstadt. In den bunten Zelten regte sich nichts, die Feuerstellen waren kalt, hier und da schlief ein Betrunkener seinen Rausch im Gras aus. Das fröhliche Gezwitscher der Vögel vertrieb jede Erinnerung an den verführerischen Trommelklang und die wilden Gesänge.
Trotz ihrer Grübeleien über Morians Hintergedanken und schaurigen Träumen über alte Wahrsagerinnen hatte Jessy erstaunlich gut geschlafen. Sie fühlte das Amulett, das sich unter ihrem Hemd warm an ihre Haut schmiegte und lächelte. Kaum eine Woche in dieser seltsamen Märchenwelt und schon war sie bereit an Dinge zu glauben, die sie zu Hause als Humbug abgetan hätte. Sie las nicht einmal ihr Horoskop. Aber die Worte der alten Frau hatten sich ihr eingeprägt und sie würde sie sicher nicht vergessen.
Langsam veränderte sich die Umgebung und die Spuren menschlicher Bewirtschaftung wurden deutlicher. Viele Wiesen waren gemäht und sie sahen grasende Rinder- und Schafherden und schließlich von einem Hügel aus einen Flickenteppich aus Äckern und Feldern, der sich bis zum Horizont erstreckte. Dazwischen lagen wie hingestreut kleine Dörfer oder einzelne große Höfe, verbunden durch schmale Straßen. Bald sahen sie auch Menschen, die auf den Feldern arbeiteten und Reiter und Fuhrwerke kreuzten ihren Weg. Jedermann schien zu wissen, wer Tychon war und grüßte freundlich und respektvoll, aber nicht unterwürfig.
„Ihr habt Glück, Herr“, sagte ihnen ein Bauer mit rot verbranntem Gesicht und lustigen Augen. „Es war trocken die letzte Zeit. Die Straße ist in einem guten Zustand. Ihr werdet schnell vorwärts kommen. Aber mit diesen prachtvollen Gäulen ist das auch kein Kunststück, nicht wahr?“
Ohne Scheu streichelte er die Nase von Boscos Pferd. Ein kleiner Junge ohne Schuhe war vom Kutschbock des Ochsengespanns gesprungen und zupfte seinen Vater am Ärmel.
„Pap, ist das dort die Prinzessin?“ fragte er leise und deutete auf Jessy.
„Nein, Dummkopf. Die Prinzessin ist fünfzehn Jahre alt. Die junge Dame auf dem grauen Pony wird es sein.“
Er lächelte Amileehna beinahe schüchtern zu. „Was für ein Glück für das Hügelland, dass beide Königskinder es beehren. Ihr werdet sehen, Herrin, nirgends begegnet Euch größere Gastfreundschaft und Treue zur Eisernen Faust als hier.“
Amileehna nickte unbestimmt. Die netten Worte waren ihr sicher völlig gleichgültig. Der Bauer hob seinen Jungen wieder auf den Wagen und stieg selber auf.
„Als dann, gute Reise!“ rief er und gab den beiden Ochsen mit einem Zungenschnalzen zu verstehen, dass die Pause vorbei war. Gehorsam trotteten sie davon.
„Und Feuerschlucker, Wiar?“ fragte Amileehna, als sie weiter ritten. „Gab es die auch?“
Den ganzen Morgen löcherte sie ihn schon mit Fragen nach den Gauklern. Sie war noch immer beleidigt, weil man sie ausgeschlossen hatte.
„Nein“, sagte Wiar. „Aber ich sah einen Mann, der sich ein Schwert in den Rachen schob. Bis zum Heft.“
Er tat so, als würde er eben das gleiche mit einem unsichtbaren Schwert machen. Amileehna schauderte. Sie ritt zwischen Jessy und Wiar und Jessy war gezwungen sich das Gespräch anzuhören. Wiar schmückte seine Geschichte ziemlich stark aus, Jessy hatte keine Spur von Riesenschlangen oder zusammen gewachsenen Zwillingen gesehen. Aber sie wollte Amileehna, die man ungerechterweise um ihren Spaß gebracht hatte, nicht auch noch diese Illusionen nehmen. Trotzdem ärgerte sie sich darüber, dass Wiar das Mädchen schamlos anlog.
„Und noch etwas, Herrin“, sagte er nun gedämpft und schaute mit verschämtem Grinsen zu Amileehna herüber.
„Was denn?“ fragte sie lachend.
„Ich wollte es euch eigentlich erst später geben. Aber ich befürchte, so bald werden wir uns nicht unter vier Augen sehen.“
Er warf Jessy einen Blick zu, den sie streng erwiderte. Worauf du dich verlassen kannst!
Nun reichte er der Prinzessin unauffällig ein in Leder gewickeltes Ding, das sie mit zittrigen Fingern auspackte.
„Oh, Wiar“, hauchte sie. „Ein Geschenk für mich?“
„Ich sah es und wusste, ich musste es euch mitbringen.“
Jessy sog scharf die Luft ein, als sie sah, was Wiar ausgewählt hatte. Es war ein kleiner handlicher Dolch, nicht kostbar oder edelsteinbesetzt aber mit einer wertvollen Schnitzerei am Griff. Ein schönes Geschenk und für Amileehna sicher sehr viel passender als Schmuck oder Süßigkeiten.
„Er ist wunderbar, vielen Dank!“ Sie strahlte ihn an und packte das Messer in ihre Satteltasche, bevor es jemand sehen konnte. Doch Jessy hatte das Gefühl, dass es nicht richtig von ihm war, das Mädchen zu beschenken. Er versuchte ihr offensichtlich den Kopf zu verdrehen und es würde ihm zweifellos gelingen. Sollte sie Rheys etwas davon sagen, wie ernst die Sache wurde? Er hatte das Sagen bei den Wölfen und würde Wiar in seine Schranken weisen. Aber dann wäre ihr die Prinzessin schrecklich böse und das letzte was sie wollte, war ein schmollender Teenager in ihrer Obhut.
Das Problem erledigte sich von selbst, als Amileehna das Messer bei ihrer Mittagsrast herauszog und es bewundernd in den Händen drehte. Tychon sah es und fragte sie sofort, woher sie es hatte.
„Man hat es mir geschenkt“, sagte Amileehna und sah zu ihrem Bruder auf. „Und ich werde es nicht hergeben!“
„Wer hat es dir geschenkt? Etwa Jessy?“
Jessy schnaubte und schaute von ihrem Apfel auf, den sie gerade sorgfältig abnagte.
„Also bitte, ich wäre die letzte, die einem jungen Mädchen eine Waffe gibt.“
Amileehna warf ihr einen warnenden Blick zu. Doch Jessy würde nicht verraten, dass die Prinzessin auch noch ein Schwert in ihrem Gepäck hatte.
„Wiar hat es mir gegeben“, sagte Amileehna und hob trotzig das Kinn. Tychons Augen flackerten noch blauer in plötzlich aufwallendem Zorn. „Bitte nimm es mir nicht weg“, fügte sie dann hinzu, wieder ganz leise und mädchenhaft. Sie hatte ihren Bruder wirklich gut in der Hand.
„Nimm keine Geschenke von Dienern an“, sagte er streng. „Das ist unangemessen.“
„Aber er ist kein…“, begann Amileehna, doch Jessy gab ihr einen kleinen Stoß mit dem Ellbogen.
Tychon ging davon und winkte Wiar und Rheys zu sich heran. Jessy beobachtete, wie zuerst Tychon auf Wiar einredete und Rheys‘ Gesicht währenddessen immer mehr versteinerte.
„Oh je“, sagte Amileehna, der offensichtlich erst jetzt bewusst wurde, was sie angerichtet hatte.
„Tja, er wird mächtig Ärger bekommen“, sagte Jessy mit mühsam unterdrückter Genugtuung.
„Das habe ich nicht gewollt“, murmelte sie. „Aber was ist denn so falsch daran. Jeder weiß, dass ich mit einem Messer umgehen kann!“
„Darum geht es doch gar nicht. Er sollte dir nichts schenken“, sagte Jessy. „Er macht dir ganz offen Avancen und das gehört sich nicht.“
„Er macht was?“
„Ihr würdet wohl sagen, er wirbt um dich. Und das geht nicht. Er ist zu alt und du bist zu jung, er ist ein Krieger und du eine Prinzessin… Muss ich noch mehr Beispiele finden?“
„Das ist nicht gerecht. Ich kann selbst entscheiden, vom wem ich Geschenke annehme. Und Wiar wäre mehr als passend für mich.“
Jessy musterte das Mädchen von der Seite. Man hatte ihr in ihrem goldenen Käfig in der Eisenfaust wahrscheinlich mit keinem Wort die Männerwelt erklärt. Sicher hatte sie überhaupt keine Vorstellung davon, in welcher Gefahr sie schwebte.
„Er könnte dich ausnutzen, weil du Einfluss auf Tychon und deinen Vater hast. Er könnte auf deinen Reichtum aus sein. Oder nur auf deinen Körper.“
Amileehna wurde rot und begann ihr Messer hin und her zu drehen. Davon hatte sie also auch keine Ahnung.
„Den Wölfen ist nichts wichtiger als ihre Ehre und ihre Königstreue“, sagte sie etwas unsicher. „So etwas Schändliches würde er niemals tun.“
„Ich weiß nicht, aber ich habe das Gefühl, er nimmt es damit nicht so genau“, antwortete Jessy leise. Wiar stand da wie ein gerügter Junge und ließ gerade Rheys‘ Standpauke über sich ergehen ohne ein Wort zu sagen. Aber sein Gesicht war nicht gerade reuig oder demütig. Er sah eher aus, als würde er Rheys gleich an die Kehle springen und unterdrückte seine Wut über diese Behandlung nur mühsam. Sicher nicht das gewünschte Verhalten eines Soldaten gegenüber seinem Vorgesetzten.
Die Sonne brannte auf ihren Köpfen, als sie am Nachmittag inmitten von Kornfeldern dahin ritten. Jessy hätte gerne einen Hut gehabt, sie würde sicher einen Sonnenstich bekommen. Das Korn stand hoch und leuchtete gelb, Insekten summten und bald peinigten sie auch Mücken. Jessy schwitzte und hoffte, dass es bald wieder einen Regenschauer geben würde. Näher käme sie einer Dusche in der nächsten Zeit sicher nicht.
Amileehna war Gott sei Dank verstummt, die Enthüllungen, die Jessy in der Mittagspause gemacht hatte, beschäftigten sie und Wiar war auch nicht in der Stimmung sie zu unterhalten. Er blickte verkniffen drein und warf zornige Blicke in Rheys‘ Richtung. Albins Pferd machte die elende Hitze wieder besonders unleidig, es schlug unablässig mit dem Schweif und Jessy sah die dicken Bremsen, die sich auf seinem Hinterteil niederließen. Niemand sprach, alle waren damit beschäftigt, die Hitze zu ignorieren.
Da sah Jessy einen kleinen Stein, der aus dem Feld geflogen kam und Albin traf. Er schreckte auf und schaute sich verwirrt um.
„Was war das?“ fragte er und die Ängstlichkeit ließ seine Stimme heller klingen. Keine Spur mehr von dem Jungen, der den Felsenbären getötet hatte. Und das nur wegen eines dummen Spiels am Lagerfeuer. Schon flog wieder ein Stein und gleich der nächste hinterher. Einer traf Albin an der Schläfe, was sicher wehtat, aber er hatte alle Mühe, das Pferd zu kontrollieren und gleichzeitig ins Feld zu starren.
„Wahrscheinlich ein Feldgeist“, sagte Talis mürrisch. „Beachte ihn nicht. Sie wollen nur Aufmerksamkeit. Sie lieben es, Reisende zu triezen.“
Mehrere Steine auf einmal flogen und einer traf den Hals des Rappen, der erschrocken wieherte.
„Hört auf damit!“ schrie Albin und tat damit genau das, was man offenbar nicht tun sollte. Jessy glaubte, irgendwo zwischen den dicken Ähren ein Kichern zu vernehmen. Dann ging ein wahrer Regen aus Kieseln auf Albin nieder und im selben Moment huschte ein großes Kaninchen über die Straße. Die Geister hatten es vielleicht aufgescheucht, jedenfalls geriet der Rappe völlig in Panik, stieg auf die Hinterhand und brachte seinen Reiter endlich zu Fall. Albin stürzte auf den Boden und bedeckte instinktiv den Kopf mit den Armen. Das durchgehende Pferd wieherte schrill und prallte gegen die umstehenden Tiere, die ebenfalls unruhig wurden. Zwischen den Hufen hoppelte noch immer das Kaninchen wie ein dunkler Schatten hin und her. Einer der Hunde begann wie wild zu kläffen und schnappte nach dem Tier. Die Pferde drängten auseinander und als der Rappe schließlich vollends die Fassung verlor, stob er einfach davon, mitten hinein ins Kornfeld. Und ihm hinterher die Pferde, die den Wagen zogen.
Jessy sah zu, wie Benoas auf dem Kutschbock schrie und versuchte, die panischen Tiere zu stoppen. Sebel kreischte und ein paar Kisten stürzten auf die Erde, während das Gefährt durchs Feld holperte. Dann ertönte ein Krachen und der Wagen fiel beinahe zur Seite. Sie Pferde wieherten wild in ihrem Gespann, weil sie nicht weiter konnten. Jessy stieg ab und beruhigte Lia, die nur ein wenig in Panik geraten war. Wenn sie durchgegangen wäre, Jessy hätte im Staub gelegen wie Albin. Bosco preschte dem Rappen eine Weile hinterher, der nur noch ein schwarzer Punkt in der Ferne war. Sie beugte sich zu Albin, der noch immer reglos auf dem Boden lag.
„Bist du verletzt?“ fragte sie und berührte ihn an der Schulter.
Da kam Morian angestiefelt.
„Komm auf die Beine“, sagte er barsch und tippte Albin mit der Stiefelspitze an. „Hörst du nicht? Steh auf! “
Albin stand auf, er hatte sich wohl nicht schwer verletzt. Aber sein Gesicht war schmutzverschmiert und er blutete ein wenig an der Stirn. Morian starrte ihn voller Abscheu an.
„Soweit musste es ja kommen. Kannst du nicht die einfachsten Anweisungen umsetzen? Feldgeister darf man nicht reizen, das weiß jeder! Und jetzt schau, was du angerichtet hast!“
Er wies mit ausgestrecktem Finger auf das Feld. „Der Gaul ist weg und der Wagen ist kaputt! Das kostet uns mindestens einen Tag. Und alles ist deine Schuld.“
„Es tut mir Leid“, sagte Albin erstickt.
„Pah, das hilft uns jetzt auch nichts! Dein Vater hätte dich in deinem Kämmerchen lassen sollen, wo du hin gehörst!“
„Morian“, sagte Tychon scharf. „Das genügt. Pferde gehen durch, das passiert jedem. Albin, nimm ein anderes Pferd und versuch den Rappen einzufangen.“
Albin nickte schweigend und stieg mühselig auf Lia, die Jessy ihm bereitwillig überließ. Auf ihr war er wenigstens sicher. Aber sie bezweifelte, dass er das verrückte Pferd einholen würde. Einen Moment beobachteten alle, wie Albin mit eingesunken Schultern davon ritt und der wilden Spur durch das Kornfeld folgte.
„Und jetzt?“ fragte Jessy.
„Die Achse ist gebrochen“, sagte Rheys. Auch er war ärgerlich. Jessy war froh, das Albin bereits außer Reichweite war. „Aber eine halbe Stunde entfernt gibt es ein großes Dorf. Dort können wir Zimmerleute anwerben, die den Wagen hier draußen reparieren. Ihr könnt schon ins Dorf reiten, es gibt dort einen Gasthof, wo alle sich ausruhen können.“
Jessys Stimmung hob sich sofort. Ein Gasthof! Schlafen in einem richtigen Bett! Was für ein Glücksfall. Doch sie wollte nicht ausruhen, so lange Albin alleine durch die Gegend irrte. Außerdem hatte sie kein Pferd.
Also blieb sie in der Nachmittagshitze und setzte sich in den Schatten des Wagens, wo das Korn bereits völlig platt getreten war. Sie döste ein wenig und unterhielt sich mit Dennit, der zusammen mit Rojan zurück geblieben war, um den Wagen zu bewachen. Benoas zeterte leise vor sich hin, während er prüfte, welche seiner Vorräte beschädigt worden waren.
Plötzlich erschien wie aus dem nichts eine ihrer Hündinnen und ließ den blutigen Kadaver eines Kaninchens mit zufriedenem Blick in Jessys Schoß fallen.
„Ach du meine Güte“, entfuhr es ihr. Dennit lachte.
„He, gut gemacht, Raba! Sieh nur, sie hat den Übeltäter erwischt! Und ihn dir als Friedensangebot überbracht! Du musst sie loben.“
Jessy schaute in die gelben Augen, die erwartungsvoll auf sie gerichtet waren. Die Hündin leckte sich über die großen Zähne und wedelte leicht mit dem Schwanz.
„Und sie wird mich auch nicht beißen?“ fragte sie. Die Erinnerung an die erste Begegnung mit diesen Kampfmaschinen jagte ihr noch immer einen Adrenalinstoß durch den Körper.
„Sicher nicht. Du musst es ihr nachsehen, sie kennt keine Frauen. Da war sie wohl etwas misstrauisch.“
Zögernd streichelte Jessy den kräftigen Hals der Hündin und diese begann ihr die Hand zu lecken. Also herrschte wohl wirklich Frieden zwischen ihnen.
„Warum das denn nicht? Mögen die Frauen in der Eisenfaust keine Hunde?“
„Das kann ich dir ehrlich gesagt nicht beantworten“, sagte Dennit schulterzuckend. „Ich kenne nicht besonders viele Frauen.“
Jessy grinste. „Kaum vorstellbar.“
Die Art wie Dennit beinahe verschämt den Kopf senkte und lächelte, ließ Jessy schmerzhaft erkennen, dass er große Ähnlichkeit mit David hatte. Das gleiche jungenhafte Benehmen, die Witze, die gute Laune, die freundlichen braunen Augen. War sie deshalb so gerne in seiner Gesellschaft? Gefahr für das Herz hatte man ihr vorausgesagt.
Denk nicht daran, mahnte sie sich. Es hatte zu lange gedauert David und das ganze schmerzhafte Ende ihrer Beziehung aus ihrem Kopf zu verdrängen. Sie wollte jetzt nicht wieder damit anfangen, sich zu fragen, warum alles so schief gegangen war. Und Dennit – er war so nett, so aufrichtig. Nicht die Art Mann, die einer Frau wirklich gefährlich werden konnte.
Mittlerweile hatte Raba sich entspannt hingelegt und ließ sich von Jessy kraulen. Besonders viele Streicheleinheiten bekamen die Hunde wohl nicht, immerhin lebten sie in einem Zwinger. Das Gefühl noch eine Freundin gefunden zu haben, tat ihr gut.
„Und solche Frauen wie dich habe ich überhaupt in ganz Westland noch nicht gesehen“, setzte Dennit das Gespräch fort. Jessy lachte.
„Ist das jetzt eine Beleidigung oder ein Kompliment?“
„Nein, nein, ich meine es nicht böse. Nur kommt es bei uns nicht oft vor, dass eine Frau ihre Meinung so laut und deutlich sagt und sich für Dinge einsetzt. Du verteidigst Albin, wann immer er Hilfe braucht, das sehen alle. Und du hast den Mut, dich mit Rheys anzulegen. Das wagen nicht viele. Du bist sehr mutig. Wenn man bedenkt, dass du fremd bist – und allein.“
Jessys Lächeln erlosch. „Ich bin gar nicht mutig“, sagte sie leise. „In Wahrheit habe ich Angst. Aber ich will mich nicht von ihr beherrschen lassen. Ich bin völlig hilflos hier bei euch und muss mich auf das verlassen, was man mir sagt. Wenn ich anfange, mich zu fürchten, gebe ich die Zügel vollends aus der Hand, verstehst du. Solange ich klar denken kann, entscheide ich auch selbst.“
„Sieh mal an“, rief Dennit plötzlich und kam behände auf die Füße. „Da sind Rheys und Bosco und bringen die Zimmerleute mit.“
Während Bosco den Männern zeigte, wo sie gebraucht wurden, stieg Rheys vom Pferd. Raba hob den Kopf von Jessys Schoß, machte aber keine Anstalten, ihren Platz zu verlassen.
„Wo ist der Junge?“ fragte er ohne ein Grußwort.
„Ist noch nicht aufgetaucht“, antwortete Dennit.
„Das dachte ich mir. Es musste ja so weit kommen“, brummte Rheys. „Völliger Irrsinn, ihn auf so ein Pferd zu setzen. Wenigstens hat er sich nicht den Hals gebrochen.“
„Sollen wir ihn nicht suchen gehen? Er ist bestimmt völlig verzweifelt. Vielleicht traut er sich nicht, zurück zu kommen“, meinte Jessy.
Rheys starrte auf sie hinunter und musterte sie und den dösenden Hund streng.
„Was machst du da?“
„Ich streichle einen Hund. Ist das verboten?“
„Das ist ein Arbeitstier, kein Schoßhündchen. Sie werden nicht verhätschelt.“
„Natürlich hat er was dagegen“, sagte Jessy verschwörerisch zu Raba. „Wenn man keinen hat, der einem den Rücken krault, weiß man nicht, was einem entgeht. Aber du magst es, nicht wahr?“
Bevor Rheys fortfahren konnte, rief Bosco vom Wagen herüber: „Ich glaube, da ist er!“
Und tatsächlich. In der Ferne war Lia zu sehen, die sich entspannt ihren Weg durch das Kornfeld bahnte und reiterlos zu ihren Herren zurückkam. Albin war zurück geblieben und rührte sich nicht vom Fleck. Wahrscheinlich hatte er wirklich Angst. Vor allem, da er das Pferd nicht gefunden hatte.
Jessy stand auf. „Ich werde mit ihm reden“, sagte sie.
„Nein, warte“, sagte Bosco, der zu ihnen herüber gekommen war. „Rheys, du solltest gehen.“
„Was?“ fragten Jessy und Rheys wie aus einem Mund, beide gleich bestürzt über diesen Vorschlag. Bosco schaute seinen Freund vielsagend an.
„Du weißt doch, was man sagen muss.“
Rheys seufzte und wand sich einen Moment. Zum ersten Mal entdeckte Jessy, dass er sich offenbar unwohl fühlte. Er scharrte mit den Stiefeln auf der Erde und rieb sich mit der rechten Hand über den Nacken. Noch nie zuvor hatte sie auch nur die Spur von Unsicherheit an ihm gesehen.
„Meinetwegen“, murmelte er und stieg auf sein Pferd, trieb es zu einem leichten Trab an und entfernte sich schnell in Albins Richtung.
„Oh Bosco!“ rief Jessy. „Er wird ihm den Hals umdrehen!“
„Nein, wird er nicht. Du kennst ihn nicht. Er ist kein Ungeheuer. Zumindest nicht die ganze Zeit. Und er weiß genau, was der Junge durchmacht.“
„Das bezweifle ich“, sagte sie spöttisch. Rheys war sicher niemals ein stiller kleiner Junge ohne Selbstbewusstsein gewesen.
„Oh doch“, antwortete Bosco. Lia war zu ihnen heran gekommen und begrüßte Jessy, indem sie ihre weiche Nase auf ihre Schulter legte.
„Komm, wir reiten ins Dorf, die kommen hier ohne uns zurecht. Ich erzähle dir auf dem Weg eine kleine Geschichte.“
Jessy stieg in den Sattel und zusammen folgten sie der Straße in Richtung des Dorfes. Sie wusste nicht, ob sie irgendetwas über Rheys erfahren mochte, das ihn ihr sympathischer machte. Falls es solche Fakten über ihn wirklich gab.
„Als Rheys ins Kriegerlager kam, war er neun. Viel jünger als die anderen, ich selbst war zwölf und Kaj vierzehn. Und er war klein, fing erst spät an zu wachsen. Sein Vater war in der Armee und kaum jemals zu Hause. Seine Mutter war im Kindbett gestorben und er wuchs bei seiner Tante auf, die ihn eigentlich nur fütterte und im Stall mithelfen ließ. Das einzige was er wollte, war ein Krieger werden um seinem Vater zu imponieren. Ein großer Krieger. Deshalb wartete er nicht, bis er alt genug war, sondern kam alleine nach Ovesta, den ganzen weiten Weg von der Nordküste. Als er ankam war er Haut und Knochen und schmutzig wie ein Erdferkel. Aber was unter dem Dreck zum Vorschein kam, hat alle beeindruckt. Bis auf seinen Vater. Er kam ihn niemals besuchen und schickte keine Briefe. Im Nordlandkrieg ist er gefallen ohne auch nur zu ahnen, dass sein Sohn einer der besten Krieger unseres Landes geworden war.“
„Kein Wunder, dass er ein Herz aus Stein hat“, sagte Jessy.
„Jedenfalls versteht er Albins Lage besser, als jeder andere. Und vor allem besser als du. Du bist bestimmt von Geburt an geliebt und geachtet worden, nicht wahr?“
Damit hatte er Recht.
„Von mir aus“, gab sie zu. „Dann soll er Albin eben trösten. Aber ich habe trotzdem kein Mitleid mit ihm. Eine tragische Kindheit ist keine Entschuldigung für permanente Unhöflichkeit und Feindseligkeit.“
„Also was Starrsinnigkeit betrifft stehst du ihm jedenfalls in nichts nach“, sagte Bosco und gab ihr einen Stoß gegen die Schulter, der sie fast aus dem Sattel warf.
„Wie ist dieses Dorf?“ fragte sie um das Thema zu wechseln. Die Sonne ging schon unter und sie hatte großen Hunger und freute sich auf den Gasthof.
„Oh, es ist sehr schön. Sie veranstalten ein kleines Fest für uns. Und du wirst dich freuen, Tychon hat eine Überraschung für die Damen geplant.“
„Sehr gut“, sagte Jessy. „Ich liebe Überraschungen.“