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7.
Kapitel
ОглавлениеAls Marie am nächsten Tag nach acht Stunden Arbeit die Hacke in der Scheune verstaute, war sie todmüde. Ihr schmerzte jeder Muskel, das ganztägige Bücken, Aufrichten und Hacken war sie nicht gewöhnt. Sie freute sich darauf, sich auf ihrem Bett auszustrecken.
Alexandros schien die Arbeit nichts auszumachen, ganz entspannt stellte er den wilden Katzen eine Schale Milch am Rand der Terrasse hin.
Während Marie hinter dem Haus ihre Schuhe auszog, starrte ein Augenpaar sie an. Eine große sandfarbene Echse, die farblich fast mit dem Untergrund verschmolz, ließ sie nicht aus den Augen. Marie schlich auf Zehenspitzen in ihr Zimmer, um ihre Kamera zu holen.
Als sie wieder auf die Terrasse kam, war die Echse verschwunden. Sie hatte vor einer kleinen Zeder gelegen. Vielleicht würde sie wieder auftauchen.
Marie begann stattdessen die Zeder zu fotografieren. Sie suchte den richtigen Standpunkt, das beste Licht. Sie stellte alles ein, für den Fall, dass das Tier den Stamm hochkriechen würde. Sie war völlig vertieft, als Alexandros plötzlich hinter ihr murmelte:
»Stellagama stellio cypriaca, dreh dich um!«
Tatsächlich, hinter ihr auf dem Kies verharrte die Agame reglos und sie hatte Zeit, das Objektiv so einzustellen, dass sie den dreieckigen Kopf und die kleinen weißen Sternenflecken auf dem Rücken der Echse einfangen konnte.
Sie bedankte sich bei Alexandros, und nachdem sie die Kamera zurückgebracht hatte, erinnerte sie sich an seine Aufforderung, dass sie mit Kochen an der Reihe wäre.
Im Gemüsebeet pflückte sie reife Tomaten, dazwischen entdeckte sie Klee, Sauerampfer und Spitzwegerich. Sie dachte an ihre Wildkräuterführungen, pflückte alles, wusch es in der Küche, schnitt die Blätter und mischte sie in einer Salatschüssel. Dann bereitete sie aus Olivenöl, Essig und Senf ein Dressing zu. Für den Nachtisch pflückte sie ein paar Pfirsiche von den Bäumen hinter dem Haus, von einem Weinberg direkt daneben nahm sie reife rote Trauben und wusch alles.
Sie deckte auf der Terrasse und rief Alexandros zum Essen. Der schaute nicht näher auf den Salat, erst als er auf Kleeblätter biss, wurde er misstrauisch.
»Was ... ist ... das ...?«, fragte er.
»Klee hat mehr Vitamine als jedes Gemüse, das du im Supermarkt kaufst, genau wie die anderen Wildkräuter auch.«
Als Alexandros schwieg, fuhr sie fort:
»Du hast doch gefragt, was ich in den letzten Jahren gemacht habe. Also, neben dem Studium habe ich Wildkräuterführungen angeboten.« Sie war immer noch fasziniert davon, dass man diese Wildpflanzen verzehren konnte.
Alexandros stand auf.
»Du servierst mir Unkraut? Auf Zypern geben die Bauern ihren Eseln und Ziegen Klee zu fressen. Aber ich bin keine Ziege.«
»Das ist gut für die Abwehrkräfte«, entgegnete Marie, indem sie an ihm hinunterschaute.
Er sah jedoch nicht so aus, als müsse er etwas für seine Immunabwehr tun.
Sie dachte daran, wie wichtig sie es fand, dass die Menschen über die Kräuter in ihrer Umgebung informiert waren und schlug vor:
»Ich könnte im Troodos-Nationalpark auch Führungen anbieten: zum Beispiel Essbares im Wald.«
Alexandros war schon auf dem Weg in die Küche, drehte sich aber noch einmal um und erwiderte:
»Wir sind hier, um Pflanzen zu schützen, nicht um uns in Kühe zu verwandeln. Oder ist das wieder so ein Trend aus Mitteleuropa? Weil ihr keine brauchbaren Tomaten habt, müsst ihr Unkraut essen. Wir haben hier wirklich genug frisches Gemüse. Ich glaube, es gibt keinen Bedarf für deine Führungen.«
Dann ging er mit seinem unregelmäßigen Gang ins Haus und rumorte in der Küche. Kurze Zeit später roch es nach gebratenem Fleisch.
Sie zuckte die Schultern, aß den Salat alleine auf und telefonierte dann mit ihren Eltern. Ihre Mutter erzählte:
»Wir sitzen gerade auf der Terrasse mit Blick auf das Wasser.«
»Das vermisse ich«, seufzte Marie. »Die Terrasse, den Garten, den Fluss und am allermeisten euch.«
***
Am nächsten Morgen nahm Marie den Wecker erst nach dem siebten Klingeln wahr. Als sie sich aufrichtete, schmerzte jeder Muskel. Sie setzte sich hin und schwang die Füße aus dem Bett.
Als ihre Fußsohlen den Holzboden berührten, entdeckte sie genau an der Stelle eine Delle im Parkett, es war abgewetzt von den vielen Füßen, die vor ihr an dieser Stelle gestanden hatten. Wer war aus diesem Bett aufgestanden? Der Förster? Vielleicht auch seine Frau oder seine Kinder.
Sie stellte ihre Füße in die Mulde, bewegte dann die Zehen an den Rand der Vertiefung. Eigentlich könnte es sie stören, dass der Boden so abgenutzt war, doch das Gegenteil war der Fall. Sie fühlte sich als Teil einer langen Kette von Förstern, die sich hier für den Wald eingesetzt und Spuren hinterlassen hatten.
Sie erhob sich, bewegte sich mühsam zum Waschbecken und blickte in den Spiegel. Unter den Augen zeichneten sich dunkle Ränder ab. Sie band sich die Haare zu einem Pferdeschwanz, wobei ihr der ganze Rücken weh tat. Deshalb würde sie es nicht schaffen, heute fünfzig Setzlinge zu pflanzen.
Während sie sich mit Sonnenmilch eincremte, dachte sie an die anderen Auslandspraktika, die zur Wahl standen. Vielleicht war es möglich, in das Bisonprojekt in den polnischen Wäldern zu wechseln.
Nachdenklich ging sie zum Fenster. In der Ferne, weit hinter dem Bach, den Pfirsichbäumen und Hügelketten ahnte sie das Meer. Sie würde so gern etwas von dieser Insel sehen, bevor sie zurückflog. Aber wenn ihr Chef die gleiche Haltung an den Tag legte wie Alexandros, würde sie das Praktikum abbrechen.
Als sie ins Büro kam, fiel ihr ein Stein vom Herzen, ihr Vorgesetzter war endlich da. Er erhob sich von seinem Stuhl, lächelte und stellte sich als »Stavros Georgiou« vor. Er trug ein hellgrünes Hemd, eine Jacke mit zwei gelben Streifen und dem Emblem der Forstabteilung auf dem Ärmel und dazu eine dunkelgrüne lange Hose. An der Stirn lichteten sich die Haare.
»Es tut mir so leid, dass ich Sie nicht persönlich abholen konnte. Ich war bei Kollegen im Zederntal und habe eine Ladung Pflanzen für uns organisiert. Die Situation ist zurzeit schwierig.«
Sie war erleichtert, dass er viel liebenswürdiger schien als Alexandros.
»Ich bin so froh, dass Sie da sind«, erwiderte Marie. »Tut mir leid, aber ich glaube, ich schaffe es nicht jeden Tag fünfzig Setzlinge zu pflanzen und bis in die Dunkelheit zu arbeiten. Dafür reichen meine Kräfte nicht. Ich bin ursprünglich zum Planen des Wanderwegs nach Zypern gekommen.«
Sein Lächeln verschwand. Misstrauisch wandte er sich zu Alexandros. Ruhig aber mit untergründiger Spannung fragte er:
»Hast du ihr den Auftrag gegeben, fünfzig Pflanzen zu setzen? Wir bekommen im Moment so wenige Zedern, da hättet ihr euch auch zwei Tage Zeit lassen können. Darf ich fragen, was das soll, Alexandros?«
Der lehnte sich in seinem Stuhl zurück.
»Ich finde es wichtig, dass unsere Kollegin«, er schaute sie nicht an, »merkt, was sie erwartet und sich eine andere Stelle sucht, bevor sie nach ein paar Wochen zusammenbricht. Außerdem sollte sie sich eine Wohnung suchen, in der sie besser regenerieren kann. Wenn ich ganz ehrlich bin: für die schwere Arbeit brauchen wir einen männlichen Praktikanten.«
Während Marie die Praktikumsunterlagen aus ihrem Zimmer holte, war ihr eines ganz klar: Wenn das Gespräch mit dem Chef nicht zu einem guten Ende kam, würde sie das Praktikum beenden.
Stavros nahm ihre Unterlagen und verglich sie mit einem aufgeschlagenen Aktenordner auf seinem Schreibtisch.
»Die Informationen sind korrekt: Marie Sommer, vier Monate Praktikum, Mitarbeit bei der Konzeption des Zedernwanderwegs.«
Ihre Erleichterung bekam einen Dämpfer, als Stavros seufzte und die Unterlagen bei Seite schob.
»Leider liegt die Konzeption der Wege momentan auf Eis. Ich hätte mich so gern mit dir über deine Ideen für mehrtägige Routen ausgetauscht, aber zurzeit ...«
»Liegt der Fokus auf körperlicher Arbeit« fuhr Alexandros fort, »und weil die für sie zu schwer ist, stellen wir den Antrag, dass wir einen männlichen Kollegen bekommen.«
Stavros wirkte unbehaglich.
»Aufgrund des europäischen Gleichstellungsgesetzes hat man keinen Einfluss auf die Auswahl der Praktikanten. Wir sprechen später darüber.«
Normalerweise hätte sie an dieser Stelle protestiert und gesagt, dass sie der körperlichen Arbeit genauso gewachsen war wie jeder Mann, aber die Arbeit in den letzten Tagen hatte zu viel Kraft gekostet.
Marie kamen die Tränen. Sie drehte sich so, dass Alexandros ihr nichts ins Gesicht sehen konnte. Stavros stand auf und sprach zu ihr mit einer Entschiedenheit, die sie ihm nicht zugetraut hätte:
»Du nimmst keine Anweisungen mehr von Alexandros an, hörst du? Du bleibst hier, pflanzt in deinem Tempo und wenn du nur zehn Bäume am Tag setzt, ist das in Ordnung! Die Gewerkschaft hat hart dafür gekämpft, dass wir täglich nur bis fünfzehn Uhr arbeiten müssen.«
Sie nickte dankbar. Seine Worte taten ihr extrem gut. Er setzte sich wieder und fuhr fort:
»Wir haben ganz andere Schwierigkeiten. Normalerweise zeichnen wir den Plan für den Wanderweg, entscheiden, welche Bäume in welchem Abstand gepflanzt werden, und überprüfen, ob wir Maschinen brauchen. Wir sorgen dafür, dass täglich die Setzlinge aus der Baumschule geliefert werden, die die Forstarbeiter unter unserer Aufsicht einpflanzen.« Stavros wurde immer leiser und brach schließlich ganz ab.
»Und wo ist das Problem?«, fragte Marie vorsichtig.
Er nahm einen neuen Anlauf.
»Wir haben den Plan für den Wanderweg entworfen, Baumarten ausgesucht, den Abstand festgelegt, einen Praktikanten beantragt ...«, er nickte ihr zu, »... und dann fingen die Schwierigkeiten an: Es gibt keine Setzlinge mehr und noch schlimmer ist, dass wir keine Maschinen und keine Arbeiter bekommen.«
Er saß da, als wäre alle Luft aus ihm gewichen.
»Das Schlimmste ist, dass wir nicht erfahren, warum. Es gibt nur Vermutungen. Es ist nicht sicher, ob ein Wanderweg eingerichtet wird oder eine Straße. Ich muss unbedingt herausbekommen, was los ist.«
Nachdem Marie fünfzig Zedern gepflanzt hatte, verstand sie die Welt nicht mehr.
»Aber wenn es keinen Wanderweg gibt, pflanzen wir die Zedern umsonst, sie stehen für eine Straße zu eng und müssten verpflanzt oder platt gewalzt werden. Warum machen wir das überhaupt und warten nicht ab, was entschieden wird?«
Stavros nickte.
»Das wollte ich auch, aber ... Bisher lief immer alles so gut in der Forstbehörde. Es gab nie Probleme. Solange ich hier arbeite, gab es immer nur scheinbare Schwierigkeiten. Man musste nur anrufen oder persönlich miteinander reden, und dann hat sich alles geklärt. Immer! Wirklich! Aber durch die Wirtschaftskrise ...«
Jetzt schaltete sich Alexandros ein. Auf seiner Stirn bildete sich eine steile Falte.
»Und ich habe mich nie auf die Forstabteilung verlassen. Sondern immer nur auf mich selbst.« Er zeigte ihnen seine offenen Hände, die Marie wie riesige Pranken vorkamen. »Damit kann ich die ganze Insel bepflanzen und das tue ich auch. Vielleicht entscheiden sich die Verantwortlichen für einen Wanderweg, wenn alle Bäume stehen. Straßen werden normalerweise erst im Oktober oder November gebaut. Bis dahin ist unser Zedernweg fertig.«
Er erhob sich, ging nach draußen und griff nach seiner Hacke.
Marie war durcheinander. Sie arbeitete an einem Projekt mit, das jederzeit gestoppt werden konnte. Was sie verstand, war, dass die Forstbehörde einen Zedernwanderweg bewilligt hatte und dass jetzt nichts mehr weiter ging.
In Deutschland würde sie nicht eher ruhen, bis sie herausfände, wer aus welchen Gründen dagegen war. Und hier? ... würde sie genau das auch sehr gerne wissen.
Stavros bemerkte ihre Enttäuschung und schlug vor:
»Ich nehme dich mit nach Omodos und stelle dich meiner Frau Ludmilla und den Kindern vor. Das wird dich auf andere Gedanken bringen.«
***
Während der Autofahrt erklärte er:
»Das Forsthaus ist ein bisschen abgelegen. Es sind zwar alle Arbeitsgeräte da, und es liegt direkt am Wanderweg, aber du kannst gerne hier ins Dorf ziehen oder in die nächste Stadt.«
Die Familie wohnte in einem umgebauten Bauernhaus am Ortsrand. Die Fassade aus hellgrauen Flusssteinen war liebevoll restauriert, die dunkelbraunen Holzbalken zwischen erster und zweiter Etage befanden sich noch im Originalzustand.
Innen zeigte ihr Stavros’ Frau Ludmilla stolz eine blankpolierte hölzerne Küchenzeile und ein nagelneues Bad mit blitzenden Armaturen und strahlend weißer Dusche.
Marie freute sich, Ludmilla kennenzulernen. Die junge Frau aus der Ukraine schaute sie fröhlich an. Sie hatte rote schulterlange Haare und eine winzige Lücke zwischen den Vorderzähnen. Ihre Kinder, Loukas, fünf, und Katharina, drei, schaukelten und rutschten im Garten. Marie ging nach draußen und spielte gleich mit den Kindern Fangen.
Anschließend half sie Ludmilla beim Salatschneiden auf der Terrasse und erfuhr, dass die junge Frau seit acht Jahren auf der Insel war und sich hier wie Zuhause fühlte. Zurzeit kümmerte sie sich um ihre Kinder und den Haushalt, manchmal half sie abends in einem Restaurant im Dorf aus. Sie las, wann immer sie die Zeit dazu fand, und vermietete ein Zimmer unter dem Dach an eine englische Malerin, die im Sommer zum Malen nach Zypern kam.
»Das kann ich gut nachvollziehen«, meinte Marie und schaute übers Tal zu den Weinhängen, die im Licht der Nachmittagssonne grün, gelb und rot leuchteten.
Beim Abschied entdeckte Marie vor Stavros‘ Haus ein orangefarbenes Motorrad.
»Eine Kawasaki-Maschine«, stellte sie fest.
»Fährst du auch Motorrad?«, fragte Stavros.
Als Marie nickte, bot er an, ihr die Maschine auszuleihen. Marie strich über das glatte, warme Metall.
»Wenn du sie an einem der nächsten Wochenenden entbehren kannst, gerne.«
»Klar! Sag mir einfach, wenn du sie brauchst. Helm und Lederkombi kannst du von Ludmilla leihen, sie fährt seit der Geburt der Kinder nicht mehr.«
Auf dem Rückweg zum Forsthaus fragte Marie Stavros, warum er nicht auch dort lebte. Stavros lächelte.
»Früher mussten die Förster in diesen Häusern leben, da die Straßen zu den nächsten Ortschaften schlecht waren. Heute kann ich hier im Dorf bei meiner Familie wohnen und komme morgens zum Forsthaus. Von dort aus arbeite ich bis nachmittags und fahre dann wieder zu meiner Familie nach Omodos zurück.« Erleichtert atmete er aus. »Alexandros ist dabei eine riesengroße Hilfe, weil er meine Brandschutzdienste übernimmt. Mehrmals im Monat müsste ich deswegen im Forsthaus sein, aber Alexandros macht das für mich, weil er ohnehin da ist – und wenn wir mal ausgehen wollen, dann kommt er zu uns und passt auf die Kinder auf.«
***
Abends im Forsthaus schaute Marie sich im Büro um, es gab außer den zwei Schreibtischen noch einen großen Metallschrank.
Sie betrachtete die Poster und Fotografien. Auf einem waren Wildblumen des Troodos-Gebirges abgebildet, ein anderes zeigte Raub- und Zugvögel. Auf den Fotos waren das Gebirge im Schnee, ein Wasserfall, ein Mufflon und eine alte Ansicht von Plateia Troodous zu sehen, wie die Bildunterschrift verriet.
Als sie vor einem Schlangenposter stand, bemerkte Alexandros:
»Schließ gut die Haustür, wenn du vermeiden willst, dass Schlangen ins Haus kommen. Sie wärmen sich nachts drinnen auf. Menschen und Schlangen können gut zusammenleben, wir haben hier im Haus allerdings kein Gegengift gegen Schlangenbisse.«
Unwillkürlich suchte Marie mit den Augen die Ecken ab.
»Die Tür geschlossen zu halten, ist auch wichtig wegen der Mäuse. Und nachts sollte man die Fenster nicht öffnen, weil Fledermäuse hineinfliegen könnten.«
Nachdem Marie das ganze Zimmer kritisch gemustert hatte, setzte sie sich an einen der Schreibtische. Auf dem anderen hatte Alexandros zahlreiche Bücher verteilt.
Er schrieb teils am Laptop, teils auf Papier und wirkte konzentriert. Marie schaute auf sein dunkelgrünes Poloshirt, das an der Brust geflickt war, und auf seine Hände, mit denen er den ganzen Tag Bäume pflanzte.
Wenn sie herausfinden wollte, warum der Wanderweg gestoppt wurde, dann musste sie mit den Zyprioten in ihrer Sprache reden können.
»Ich habe mal eine Frage: Ich würde gerne mehr Griechisch lernen. Kennst du jemanden, der mir Unterricht geben kann?«
Alexandros schaute auf.
»Schön, dass du dich dafür interessierst, aber mach dir klar, dass wir hier den zypriotischen Dialekt sprechen. Die Aussprache und manche Wörter sind anders als im Griechischen. Ich persönlich habe keine Zeit, vielleicht suchst du dir jemanden aus dem Ort. Solange wirst du gut mit Englisch zurechtkommen.«
Plötzlich drehte Alexandros seinen Stuhl zu ihr und lächelte sie an.
»Um Griechisch zu lernen, solltest du nach Limassol ziehen, da kannst du Unterricht nehmen. Machst du gerne Sport?«
»Zumba, warum fragst du?«
»Es gibt da ein tolles Fitnessstudio mit Blick aufs Meer, direkt am Yachthafen. Die bieten jede Menge Kurse an. Dort kannst du Leute kennenlernen und griechisch sprechen.«
Er schien ganz begeistert von seinem Vorschlag und hatte wahrscheinlich sogar Recht.
»Ich würde gerne hier bleiben – wegen des Hauses.«
»Das Haus ist baufällig, es muss komplett renoviert werden, die Fensterrahmen, die Balken, der Boden, das Dach.«
»Ja, das stimmt allerdings.«
Sie dachte an das Haus ihres Opas, bei dem sie einen Sommer lang die weißen Fensterrahmen ausgetauscht hatten, im nächsten die Dachziegel, so gab es fast jedes Jahr Renovierungsarbeiten. Das hatte ihr nichts ausgemacht, weil das Haus ihr Halt gab.
Sie wollte sich auf keine Diskussion einlassen und fragte stattdessen:
»Was machst du gerade?«
»Ich arbeite an unserem neuen Wanderführer für den gesamten Nationalpark. Wir haben hier die Nature Trails, die Naturwanderwege, die sind nach griechischen Göttinnen benannt. Wir geben Hintergrundinformationen über die Wanderwege und erzählen die Sagen der Göttinnen ausführlicher als in den bisherigen Prospekten.«
Während er sich wieder seinem Computer zuwandte, stellte er fest:
»Zurzeit bin ich bei Persephone.«
Marie versuchte etwas auf dem Bildschirm zu erkennen. »Persephone«, stand dort, »war eine Göttin, die ein Drittel des Jahres in der Unterwelt verbrachte, dann wurde es Winter auf der Erde.«
»Ich bin noch nicht fertig«, betonte Alexandros.
Marie schaute auf die Wanduhr.
»Zwanzig Uhr, ich würde gern Nachrichten schauen, wenn das in Ordnung ist.«
Als Alexandros zustimmte, ging sie ins Wohnzimmer, stellte den Fernseher an und war direkt auf dem richtigen Sender. Sie versuchte etwas zu verstehen, was ihr schwerfiel. Auf die Nachrichten folgte eine Serie. Marie konnte der Handlung erstaunlich gut folgen und war begeistert.
»Mach die Tür zu oder schaff dir Kopfhörer an, ich kann so nicht arbeiten.«
Alexandros war ins Wohnzimmer gekommen und starrte auf den Bildschirm.
»Siehst du gerne Serien?«
»Nein, in Deutschland nicht, da sind sie mir oft zu simpel. Aber hier ist es etwas anderes und obwohl ich kein Griechisch spreche, verstehe ich die Handlung.«
»Ich kann mir das nicht ansehen. Auf dem anderen Sender läuft eine richtig gute Satiresendung.« Er schaltete um.
Zwei Männer saßen in einem Studio und unterhielten sich auf Griechisch. Als Bilder von Politikern eingeblendet wurden, redeten die Männer darüber und lachten.
Alexandros schaute eine Weile zu und lachte mit.
Marie verstand kein Wort. Warum musste er sich überall einmischen? Kommentarlos verließ sie das Wohnzimmer, setzte sich wieder an den Schreibtisch und begann in den Büchern zu blättern.
Nach einer Weile kam auch Alexandros zurück und setzte sich an seine Arbeit. Sie hielt inne, schaute ihn abwartend an und sagte schließlich:
»Das hat doch überhaupt nichts mit Forstwirtschaft zu tun.«
»Nein, hat es nicht, nicht direkt, aber wir machen es trotzdem, weil es jetzt ansteht. Wir leben auf einer Insel, und es gibt nicht unendliche viele Kollegen. Wir haben auch keine eigene Abteilung, die uns das abnimmt.«
Während er in ihre Richtung blickte, schien ihm eine Idee zu kommen:
»Warte mal ... du bist zwar nicht fest angestellt, aber du könntest trotzdem eine Göttin übernehmen. Du bekommst ...«, er blätterte in seinen Unterlagen. »Den Aphrodite Nature Trail, den hat noch keiner bearbeitet. Hier ist der alte Wanderführer, den kannst du ergänzen und ins Deutsche übersetzen.«
»Tut mir leid, aber damit kenne ich mich nicht aus. Ich interessiere mich nicht so für Kunstgeschichte. Das ist überhaupt nicht mein Fachgebiet.«
»Macht ihr das bei euch nie: Wanderwege beschreiben, Informationen über die Geschichte und die Hintergründe geben?«
»Doch schon aber ...«
Alexandros nahm das Telefon, wählte eine Nummer und hielt ihr den Hörer hin.
»Also, klär das mit Stavros!«
»Was gibt’s?«, fragte Stavros.
»Stavros, soll ich wirklich den Aphrodite-Wanderführer überarbeiten oder ist das nur so eine Laune von Alexandros? Mein Studium geht in Richtung Forstingenieurwesen. Ich kenne mich mit griechischen Göttern überhaupt nicht aus.«
»Also, wenn dir das zu viel wird – Loukas, du gehst jetzt ins Bett! – Sorry, Marie, er will einfach nicht schlafen gehen. Ich bin jetzt dabei den Atalante-Führer zu überarbeiten, danach beginne ich den Artemis-Führer. – Katharina, du machst nicht den Fernseher an! – und dann kann ich ... Wo waren wir stehen geblieben?
»Beim Aphrodite-Wanderführer.«
Getöse verbreitete sich im Hintergrund.
»Den versuche ich dann auch noch zu schreiben. Ich mache das immer abends, wenn die Kinder im Bett sind. Ich kann jetzt leider auch nicht mehr lange ...«
Ein dumpfes Poltern verriet, dass ein schwerer Gegenstand heruntergefallen war.
»Ist gut, Stavros, ich übernehme Aphrodite. Wenn du das abends nach der Arbeit schaffst, dann werde ich das auch versuchen.« Marie legte auf.
Alexandros grinste.
»Super! Sie ist ziemlich komplex, hat Vorläuferinnen im Nahen Osten, die phönizische Fruchtbarkeitsgöttin Astarte und Isis aus Ägypten. Außerdem gibt es jede Menge Ausgrabungsstätten: Kition, Kouklia, Amathous, ...«
Er schob ihr mehrere Bücher über griechische Götter im Allgemeinen und Aphrodite im Besonderen zu, schien sie schon durchgeblättert zu haben und erleichtert zu sein, dass er diese Aufgabe Marie übergeben konnte.
***
In ihrem Zimmer machte Marie alle Lampen an und schaute mit einer Taschenlampe unter das Bett. Keine Schlange zu sehen! Und wenn schon, dann waren sie sicher ähnlich schreckhaft wie in Deutschland!
Sie leuchtete in den Kamin, doch an den rußigen Wänden hing keine Fledermaus. Sie fand es ungewöhnlich, dass diese Tiere ins Haus kamen.
Hatte Alexandros die Wahrheit gesagt? Sie würde ihren Chef danach fragen. Meinte Alexandros ernsthaft, er könnte sie durch solche Bemerkungen aus dem Haus vertreiben? Von wegen!
Als sie im Bett lag, war an Schlaf nicht zu denken. Die hölzernen Schlagläden klapperten, und etwas schlug in unregelmäßigen Abständen gegen das Dach.
Marie zuckte zusammen, weil sie die Umgebung zu wenig kannte und die Geräusche nicht einordnen konnte. War es so windig? Rieben sich Tiere an den Fensterläden oder waren das Einbrecher? Sollte sie Alexandros wecken?
Sie zögerte, denn sie wollte ihm an diesem Abend nicht noch einmal begegnen. Deshalb zog sie die Decke bis zum Kinn und konzentrierte sich nur auf den Geruch nach Holz. Das alte Haus, das ihr sonst so viel Sicherheit gab, kam ihr auf einmal unheimlich vor.
Da! Wieder schlug jemand heftig gegen die Fensterläden. Pause. Es folgten mehrere heftige Schläge gegen das Dach.
Jemand machte sich an einer Dachziegel zu schaffen, er ruckelte intensiv daran, immer wieder, direkt über Alexandros Zimmer. Das könnten Einbrecher sein, vielleicht besaß Alexandros Wertsachen? Wenn man flüchtig in sein Zimmer hineinschaute, sah es zwar nicht danach aus, aber man konnte nie wissen. Oder ...?
Marie setzte sich auf. Natürlich! Die Gewehre im Waffenschrank! Darauf hatten es die Einbrecher abgesehen. Szenen aus Abenteuerfilmen tauchten vor ihrem inneren Auge auf. Ruhig Blut bewahren! Ob sie Alexandros verständigen sollte? Nein, sie wollte selbst Herrin der Lage bleiben. In ihrer Heimat würde sie einfach draußen nachsehen, was los war. Und genau so konnte sie es hier auch tun. Sie hatte einen Jagdschein, und bevor Kriminelle ins Haus eindrangen, würde sie sich ein Gewehr holen.
Sie machte das Licht im Flur an und ging ins Büro. Hinter der Tür war der stählerne Waffenschrank. Wieder ertönte ein Ruckeln am Dach, das das ganze Haus erzittern ließ. Passte einer der vierzig Schlüssel vom Schlüsselbrett? Sie griff nach einem der wenigen silbernen Schlüssel, der von der Größe passen könnte.
Ja tatsächlich! Zügig schloss sie den Schrank auf und packte das mittlere der drei Gewehre. In Deutschland hatte sie eins, das speziell für Frauen angefertigt war, diese Flinte fühlte sich dagegen zu groß und zu schwer an. Trotzdem nahm sie die Waffe und schlich Schritt für Schritt in Richtung Verandatür.
Als sie den Fuß auf die Terrasse setzte, hatte sie das Gefühl, als würden tausend Augen sie ansehen. Da huschte etwas durchs Unterholz, von dem Milchnapf weg, das Alexandros für die Katzen aufgestellt hatte. Vielleicht ein Fuchs?
Hinter dem Haus war nichts zu erkennen, was die Geräusche hätte auslösen können. Sie schlich an der Hauswand entlang und schaute um die Ecke auf den Lichtschein, der aus ihrem Fenster strahlte. An der Außenwand zwischen ihrem Zimmer und dem von Alexandros befand sich eine Leiter. Sie ging näher heran.
Ob sie sofort einen Warnschuss abgeben sollte?
Plötzlich leuchtete ihr eine Taschenlampe so hell ins Gesicht, dass sie nichts mehr sah. Gleich würde ihr Gegenüber den Schusswechsel eröffnen.
Marie warf sich bäuchlings auf den Boden.
»Alles okay, Marie?« Es war Alexandros‘ Stimme. »Sorry, ich habe dich geblendet. Kannst du mal kurz die Taschenlampe halten?«
Marie stand auf, sie war ganz benommen, schwarze Sternchen wirbelten vor ihren Augen. Mühsam griff sie nach der Stabtaschenlampe und leuchtete Alexandros an. In der rechten Hand hielt er ein helles Fellbündel.
»Irgendwie hat sich die Katze mit ihrer Pfote in dieser kaputten Dachziegel verfangen.«
Tatsächlich, Alexandros hielt eine von den Katzen in der Hand, die tagsüber um das Haus herumstrichen.
»Ist sie verletzt?«
»Nein, ich glaube, es ist alles okay!«
Alexandros stieg vorsichtig die Leiter herunter.
Marie konnte ihre Augen nicht von dem Tier lassen.
»Sie ist so dünn, bring sie doch zur Milchschale!«
Alexandros setzte sie genau dort ab, doch das Fellbündel huschte in die Dunkelheit. Am liebsten hätte Marie Alexandros geknuddelt, Katzen von Dächern oder Bäumen retten, genau so etwas hatte sie früher auch getan.
Doch dann blieb Maries Blick an seinem Pyjamaoberteil hängen. Er trug ein weißes T-Shirt, auf dem »Chainsaw« stand. Es war das Logo der Kettensäge, mit der sie tagsüber arbeiteten. Ein Katzenretter, der Kettensägen-Shirts trug – sie wurde einfach nicht schlau aus diesem Mann. Kopfschüttelnd ging Marie ins Haus und brachte das Gewehr in den stählernen Schrank zurück.