Читать книгу Sehnsucht nach Zypern - Julia Lehnen - Страница 4
1.
Kapitel
ОглавлениеIst das dort unten schon Zypern?«
Marie schmunzelte über sich selbst, weil sie der Stewardess diese Frage schon zum zweiten Mal stellte. Diese verneinte freundlich, woraufhin Marie ihren Kopf so nah ans Fenster heran bewegte, bis ihre Nase die Kunststoffscheibe berührte. Sie war froh, dass sie einen Fensterplatz auf der linken Seite gebucht hatte, und versuchte, die Insel Zypern im offenen Meer auszumachen. Vergeblich, noch war nichts zu sehen.
Marie war zwar müde, weil sie so früh aufgestanden war, aber viel zu aufgeregt, um zu schlafen oder zu lesen. So schaute sie zu ihrer Sitznachbarin, einer jungen Frau, die gerade türkisfarbenen Lidschatten auftrug, der genau zu der Farbe ihres Strandkleides passte.
Während diese sich ausgiebig im Spiegel betrachtete, erhaschte auch Marie einen flüchtigen Blick auf ihr eigenes Spiegelbild: grüne Augen, blonde Haare, rosige Wangen; nur rosig, nicht rot vor Aufregung. Das beruhigte sie, bis ihre Nachbarin plötzlich rief:
»Da ist ja Aphrodite!«
Sie stieß die brünette junge Dame an, die rechts von ihr saß, offensichtlich ihre Freundin. Beide standen auf und drehten sich nach hinten.
Jetzt wandte auch Marie den Kopf. Tatsächlich: Auf der hinteren Kabinenwand der Economy-Class war der Kopf einer Frauenstatue zu sehen, die ein Schriftzug als »Aphrodite« auswies. Die Göttin hatte das Haar hochgesteckt und blickte in die Ferne.
»Schick mir den richtigen Mann, Aphrodite!«, bat laut eine der jungen Damen die Göttin.
»Und mir auch«, fiel die andere ein.
Marie lächelte, sie glaubte nicht an so etwas und war heilfroh, dass sie sich gerade nicht um Männer kümmern musste. Sie war Single und glücklich damit.
»Ein Urlaubsflirt würde auch reichen«, fuhr ihre Nachbarin fort, »also für mich müsste er dunkelhaarig und leidenschaftlich sein ...«
»Und für mich charmant und humorvoll«, ergänzte die Brünette, bevor sie Maries Schmunzeln zum Anlass nahm, sie anzusprechen. »Und du?«
»Ich bin frei und das genieße ich.«
Marie war kurz davor, über ihr Studium zu sprechen, doch dann erblickte sie durch das Fenster die Insel, die wie ein goldgrünes Blatt im offenen Meer lag. Eine Bergkette zeichnete sich wie der Rücken eines Dinosauriers im Westen der Insel ab. Das musste das Troodos-Gebirge sein, wo sie ihr Praxissemester absolvieren würde. Ihr Herz schlug schneller, und beide Mundwinkel hoben sich zu einem strahlenden Lächeln.
Sie konnte die Landung kaum erwarten.
***
Als sie das gläserne Flughafengebäude verließ, überraschte sie der plötzliche Schwall heißer Luft, die nach Meer und Lavendel duftete.
Marie ging beschwingt zu einer Bank und stellte ihren Koffer daneben ab.
Der Lavendelgeruch war so intensiv, dass die Pflanzen irgendwo in der Nähe sein mussten. Sie sah sich um, doch das flirrende Licht ließ sie mit den Augen zwinkern. In einiger Entfernung zur Bank entdeckte sie die duftenden violetten Stauden, die am Fuß von Olivenbäumen gepflanzt waren. Tatsächlich, hier auf dem Flughafen wuchsen knorrige mittelgroße Olivenbäume, die schwarze Früchte zwischen den dunkelgrünen Blättern trugen. Sie säumten die Straßen und lenkten ihren Blick in den Himmel, der sich unendlich hoch über sie wölbte.
Marie fand es gut, dass hier Olivenbäume und keine Palmen wuchsen, sie passten genau zu dieser Insel.
Sie genoss das Bad aus Licht, in dem sie stand. Auf den Schultern prickelten die Sonnenstrahlen wie kleine Nadelstiche, die belebend wirkten, doch im Nacken war ihr so heiß, dass sie die schulterlangen blonden Haare hochsteckte. Auch die Turnschuhe störten sie. Deshalb holte sie die neuen braunen Sandalen aus dem Koffer und zog sie an. Während sie die Lederriemen über die Fersen streifte, formten sich kleine Schweißperlen auf ihrer Stirn.
Als sie sich aufrichtete, entdeckte sie ein von Hand beschriftetes Pappschild, auf dem »Marie Sommer« stand. Der Mann, der es hielt, lehnte am Geländer der Brücke, die zum Parkplatz führte. Schnell nahm sie ihr Gepäck und ging in seine Richtung.
Er hatte schwarzes leicht gewelltes Haar und trug einen dunklen Vollbart. Sie war nicht in der Lage, sein genaues Alter einzuschätzen, weil der größte Teil seines Gesichts von einer Fliegerbrille bedeckt war. Da er neben einer Gruppe von Touristen in Shorts und Sandalen stand, wirkten seine khakifarbene Hose und seine schweren Arbeitsstiefel fehl am Platz.
Der Mann reichte ihr die Hand. Sein Händedruck war warm und fest.
»Hallo. Bist du Marie Sommer?«
»Ja, hallo.«
»Ich bin Alexandros Ioannou. Willkommen auf Zypern! Wie war dein Flug?«
»Der Flug war gut. Danke, dass du mich abholst.«
Er nahm ihren Koffer, sagte nur auf Griechisch »Ela« und ging voran. Das Wort kannte sie aus ihrem Reiseführer, es hieß »Komm«.
Als er schneller lief, humpelte er, irgendetwas stimmte mit seinem rechten Bein nicht.
Sie packte ihren Rucksack und folgte ihm zu einem dunkelgrünen Jeep, der von außen genauso schmutzig aussah wie die Dienstfahrzeuge bei ihr zu Hause. Getrockneter Schlamm bedeckte zur Hälfte das Emblem der zypriotischen Forstabteilung.
Er öffnete die Heckklappe und hievte ihren Koffer auf die sandige Ladefläche.
Marie setzte sich auf den durchgesessenen Beifahrersitz und drehte das Fenster nach unten, weil es so intensiv nach Rauch roch, als wäre der Wagen gerade durch einen Waldbrand gefahren.
Alexandros bewegte den Schlüssel mehrfach im Schloss, um den Wagen zu zünden, doch erst beim dritten Versuch startete der Wagen.
»Fenster zu! Sofort hochdrehen!« Er zeigte auf die Kurbel neben ihr, doch zu spät.
Eine graue Wolke von Dieselabgasen wehte direkt in den Wagen hinein. Daraufhin ließ Alexandros genervt sein Fenster herunter, sodass die Abgaswolke während der Fahrt abziehen konnte.
Marie hielt kurz die Luft an und versuchte sich anzuschnallen, doch der lange graue Gurt hing durch, er spannte nicht.
»Steck das Metallteil einfach ins Gurtschloss und zieh den oberen Teil des Gurtes straff«. Sie folgte seinen Anweisungen, doch der untere Teil des Gurtes hing immer noch durch.
»Wenn wir in eine Polizeikontrolle kommen, legst du deine Handtasche auf den Schoß, dann fällt das gar nicht auf.«
»Ich schnalle mich doch nicht zur Dekoration an, sondern um mich bei Unfällen ...«
»Wir werden keinen Unfall haben.«
Marie seufzte und streckte die Beine aus, doch sie zuckte sofort zurück, weil sich ihre Sandale in einem der Kabel verfangen hatte, die lose im Fußraum hingen. Da sie einen Stromschlag befürchtete, zog Marie ihre Füße an den Sitz heran.
Schon bei der ersten Kreuzung kam ein Wagen mit solcher Geschwindigkeit von links auf sie zu, dass sie einen Zusammenstoß voraussah, aber Alexandros fuhr unbeirrt weiter, sodass sich das Auto direkt hinter ihnen einordnete. Stimmt, auf Zypern war ja Linksverkehr, erinnerte sich Marie.
Sie ließen den Flughafen hinter sich und bogen nach kurzer Autobahnfahrt steil in die Berge ab, auf eine kurvige Straße ohne Leitplanken, auf der man bei Gegenverkehr kaum ausweichen konnte.
Alexandros schnallte seinen Gurt ab.
»In den Bergen gibt es keine Polizeikontrollen mehr.«
Marie wurde es noch mulmiger zumute, aber sie verzichtete darauf, ihm zu erklären, wozu man den Sicherheitsgurt ihrer Ansicht nach tragen sollte.
Sie umrundeten einen dunkelgrünen Stausee, der von Kiefern umgeben war, dann folgten sie dem Verlauf eines türkisfarbenen Gebirgsbaches, der sich tief in das Tal eingegraben hatte. Ein Stück Asphalt war aus der Straße herausgebrochen und fünf Meter tiefer auf einem Felsvorsprung hängen geblieben.
Sie beschloss, nicht nach draußen zu schauen, sondern musterte unauffällig ihren Begleiter. Goldbraune Arme hatte er und dunkle, glänzende Locken. Als nächstes blieb ihr Blick an dem runden Aufnäher auf seinem Ärmel hängen, dem Logo der Forstabteilung: drei Nadelbäume erhoben sich über einem Tal, durch das sich ein Fluss wandt. Es war ihr unangenehm, dass er stumm neben ihr saß und geradeaus starrte. Ihr ging so viel durch den Kopf, dass sie einfach anfing:
»Mir gefällt eure Idee mit den mehrtägigen Wanderwegen. Wie lange ist man denn genau unterwegs?«
»Drei bis vier Tage.« Marie hielt kurz inne, dann setzte sie erneut an.
»Ich habe mir auf der Karte den Nationalpark angeschaut, und wir könnten ja jedem Abschnitt des Wanderwegs ein anderes Motto geben, zum Beispiel Vögel, Bäume oder Artenvielfalt ...«
»Die Konzeption ist abgeschlossen. Was wir brauchen sind Leute, die anpacken.«
Während sie weiterfuhren, erklärte Alexandros einige der anstehenden Arbeiten wie Bäume fällen, Zedern pflanzen und Steinmauern errichten, um die Wanderwege vor Geröll zu schützen.
Marie schluckte; sie hing immer noch an den Worten »Konzeption abgeschlossen«. Sie war doch gekommen, um die Wanderwege mit zu planen; offensichtlich ging es jetzt hauptsächlich um die Ausführung. Laut ihres Praktikumsvertrages war ein gewisser Stavros Georgiou für das Projekt und die Betreuung der Studenten zuständig. Warum hatte er sie nicht informiert, dass sich etwas geändert hatte?
»Ich spreche am besten so bald wie möglich mit unserem Chef.«
»Stavros ist leider die nächsten Tage nicht da.«
Marie wurde es heiß und kalt im Nacken, sie kurbelte das Fenster herunter und suchte einen Baum, an dem sich ihre Augen festhalten konnten, das brauchte sie jetzt.
Sie mochte nicht, wenn Dinge sich plötzlich änderten, wenn Absprachen nicht eingehalten wurden. Genau deshalb liebte sie Bäume, weil die starke Stämme hatten, fest verwurzelt waren und hunderte von Jahren zuverlässig an einem Ort wuchsen. Doch statt Bäumen taten sich Schluchten neben der Straße auf, wie Abgründe, in die sich Lawinen von grauen Steinen ergossen hatten.
***
Vorbei an verlassenen Dörfern schraubte sich der Jeep weiter ins Gebirge hoch.
Maries Blick blieb an einer Siedlung aus zwanzig viereckigen, ockerfarbenen Gebäuden hängen, von denen nur noch die Grundmauern standen, sodass sie in die leeren Häuser hineinschauen konnte. Die Fußböden waren mit Gras bedeckt, aus einem Haus wuchs eine riesige Pappel. Der Stamm stand fest, und die Blätter leuchteten ihr silbrig-grün entgegen. Ihre Zuversicht kam zurück.
»Ich freue mich schon auf das Forsthaus. Aus meiner Heimat kenne ich natürlich Forsthäuser, aber hier auf Zypern ... Ich bin gespannt, wie es aussieht.«
»Das Haus muss erst noch renoviert werden. Du kannst es dir gern ansehen, das haben auch die anderen Praktikanten getan – wir haben hier dauernd Praktikanten – aber wohnen kann man dort nicht. Es gibt Wohnungen in Platres oder in Limassol. In den Forsthäusern lebt niemand mehr außer mir.«
»Moment! Im Praktikumsvertrag stand Unterbringung: Forsthaus Omodos.«
»Das ist nur für die ersten Tage.«
In ihrem Hals bildete sich ein Kloß. Das konnte doch nicht wahr sein. Ihre Vorstellungen begannen sich langsam in Luft aufzulösen, und sie hoffte, dass sie wenigstens noch andere Mitarbeiter kennenlernen würde, die sie freundlicher empfingen.
Allmählich wurde die Straße zur Teerpiste, Steinbrocken lagen auf der Fahrbahn.
Alexandros schaltete das Radio ein, ein Ansager sprach aufgekratzt auf Griechisch, seine Worte wurden durch Musik und Werbung unterbrochen.
Obwohl Marie sich vorher einen Sprachführer mit CD gekauft hatte, verstand sie kein Wort. Dagegen war der Englisch-Refresher-Intensivkurs, den sie besucht hatte, sinnvoll gewesen, genauso wie das Seminar auf Englisch, das sie im letzten Semester belegt hatte. Sie hatte geglaubt, dass die Zyprioten mit starkem griechischen Akzent sprechen würden, aber ihr Kollege sprach akzentfrei und flüssig. Sie verstand alles, was er sagte, und konnte antworten.
Plötzlich kamen laute, quäkende Töne aus einem Walkie-Talkie, das auf der Fahrerseite hing.
»Was ist los?«
»Es geht um Brandschutz. Im Sommer gibt es hier oft Waldbrände, deshalb beobachten unsere Leute den Wald von dreizehn Beobachtungsstationen aus und suchen die Gegend nach Feuern ab. Bis in den Dezember hinein können Brände auftreten.«
»Und wie sieht es im Moment aus?«
»Alles gut.«
Ständig kamen neue bellende Aussagen durch das Walkie-Talkie, die wohl Entwarnung gaben, denn Alexandros fuhr unbeirrt weiter.
Marie wurde es immer heißer im Jeep, der über keinerlei Klimaanlage verfügte. Sie nahm einen letzten Schluck aus ihrer Wasserflasche.
»Könntest du bitte an der nächsten Gaststätte halt machen?«, bat sie Alexandros.
»Tut mir leid, es gibt hier keine Gaststätten, da musst du dich noch eine halbe Stunde gedulden.«
Als in der Ferne die weißen Häuschen des Dorfes Omodos erschienen, war Marie erleichtert: hier würde sie die nächsten vier Monate verbringen.
Doch Alexandros fuhr weiter mit dem Kommentar:
»Das Forsthaus liegt oberhalb des Dorfes.