Читать книгу Sehnsucht nach Zypern - Julia Lehnen - Страница 13
10.
Kapitel
ОглавлениеVon wegen »Schneckenhaus«! Der nächste Tag war ein Samstag und sie würde sich nicht im Haus verkriechen, sondern etwas von Zypern sehen, indem sie direkt mit einer Aphrodite-Stätte anfing. Auch wenn sie sich überhaupt nicht mit Kunstgeschichte auskannte, war es im Grunde ganz einfach. Sie würde an Aphrodite herangehen so wie an jedes andere Thema aus dem Studium: systematisch.
Sie war froh, dass sie Stavros entlasten konnte, lieh sich seine Kawasaki und fuhr nach Amathous, einem Ort auf der Aphrodite-Kulturroute in der Nähe von Limassol. Gut, dass sie nach einem kurzen Stück Landstraße die Bundesstraße benutzen konnte und am Ende sogar die Autobahn.
Zuerst fuhr sie langsam, da sie sich noch an den Linksverkehr gewöhnen musste, aber spätestens auf der Autobahn genoss sie es, die Kraft der Maschine zu spüren, die vielen PS, die allein ihr gehorchten.
Auf dem Parkplatz am Fuße eines Hügels ließ sie das Motorrad stehen und stieg dann einen steilen Fußweg bergauf. Oben angekommen, stolperte sie über Mauerreste, dann hielt sie inne.
Hier hatte der Tempel der Aphrodite gestanden.
Sie ging dicht an den ehemaligen Außenmauern entlang. An einer Ecke trat sie ein paar Schritte zurück, um die gesamte Ausdehnung wahrzunehmen. Der Tempel musste riesig gewesen sein! Doch jetzt ragten nur noch die Reste der Grundmauern aus dem Boden
Als sie an der Felskante ankam, blieb sie stehen und schaute in die Tiefe. Etwa hundert Meter unter ihr lag eine Stadt mit Säulen, Marktplatz und Häuserfundamenten. Das musste die antike Stadt Amathous sein. Ihre Blicke folgten dem Weg aus der Stadt heraus bis zum Meer. Im Wasser zeichneten sich die Fundamente des antiken Hafens dunkel ab.
Vorsichtig bewegte sie sich von der Felskante zurück zum Aphrodite-Tempel und stieg über die Reste der Außenmauer.
Eine riesige weiße Vase im Heiligtumsareal faszinierte Marie, einen solchen fast zwei Meter hohen Behälter hatte sie noch nie gesehen. Wie hatten die Menschen in der Antike diese unglaublich schwere Vase den Hügel hochtransportiert? Und wozu diente dieses gewaltige Gefäß?
Sie begann, die Vase zu fotografieren, und zoomte einige Details näher heran, dabei kamen Stierköpfe zum Vorschein.
In der prallen Sonne arbeiteten Archäologen, die in den Tempelresten etwas zu suchen schienen. Über den unebenen Boden lief Marie näher an den abgesperrten Bereich heran, doch beim nächsten Schritt gerieten die Steine unter ihren Füßen ins Rollen, und sie stolperte.
Sie landete direkt vor den Füßen eines jungen Mannes, der sie überrascht ansah. Er war groß und schlank, hatte feine, schöne Gesichtszüge, leicht gebräunte, ebenmäßige Haut und dunkles, glattes Haar. Ihr Blick fiel auf die Lachfältchen neben seinen hellgrünen Augen.
»Ähm, äh...«, was sollte sie sagen? »Ich würde gerne ein Praktikum bei Ihnen machen, an wen kann ich mich wenden?«, fiel ihr als erstes ein.
»Helfer können wir immer gebrauchen, nur sollten sie etwas mehr Feingefühl mitbringen. Der Boden ist instabil. Da drüben befindet sich eine sieben Meter tiefe byzantinische Zisterne, sei froh, dass du nicht hineingefallen bist.« Er dachte kurz nach und schmunzelte dann: »Wobei... eigentlich war das sehr gut, wie du heruntergerutscht bist. Augmented reality, könntest du das nochmal machen?« Er holte eine Kamera und murmelte: »Eine Frau rutscht in eine Grube«. Dann erklärte er: »Wir entwickeln dreidimensionale Präsentationen für alle archäologischen Stätten auf Zypern, damit man sich das Leben in Pafos und den Aphrodite-Kult in Amathous besser vorstellen kann. Ich bin so weit.«
Einen Moment lang verschlugen seine Worte und seine angenehme Stimme Marie die Sprache, doch dann erwiderte sie:
»Einmal reicht mir! Mich würde eher interessieren, was ihr hier sucht.«
Er ließ die Kamera sinken.
»Kann ich verstehen, das ist wirklich spannend.« Er lächelte, und seine hellgrünen Augen leuchteten auf.
Der junge Mann strich sich das dunkle Haar mit seinen schönen Händen aus der Stirn und sah sie aufmerksam an.
Marie nahm wahr, wie seine Kolleginnen und Kollegen unruhig in seine Richtung schauten. Trotzdem nahm er sich die Zeit, ihr zu erklären:
»Aphrodite war nicht nur die Göttin der Fruchtbarkeit und der Liebe, sondern auch die Herrin des Krieges. Einer ihrer vielen Beinamen ist Encheios, das heißt die Göttin mit dem Speer. Wir suchen nach Hinweisen auf diese Eigenschaft, nach Figuren, die die kämpferische Seite der Aphrodite zeigen. Dadurch können wir mehr über die Aphrodite-Verehrung erfahren und sie in Videos präsentieren.«
Marie ließ die Augen über den Boden schweifen.
»Das Problem ist, dass Forscher lange vor uns dieses Gelände untersucht haben. Die wichtigsten Fundstücke befinden sich in amerikanischen oder europäischen Museen.« Er wandte sich um und zeigte auf die weiße Vase. »Diese Riesenvase ist nur eine Kopie. Das Original diente wohl als Wasserbehälter. Weißt du, wo es zu bewundern ist? Im Louvre. Woher kommst Du?«, fragte er interessiert.
»Aus Deutschland«, antwortete Marie.
»Dann genießt du sicher das gute Wetter hier«, erwiderte ihr Gegenüber. »Und wo studierst du Archäologie?«
»Nikos, wo bleibst du? Wir wollen weitermachen«, riefen seine Kollegen.
»Gar nicht«, antwortete Marie, »ich studiere Forstwirtschaft und überarbeite einen Aphrodite-Wanderführer.«
Nikos überlegte.
»Wenn Du Dich für Aphrodite interessierst, gib mir deine E-Mail-Adresse, dann schicke ich dir Literatur-Tipps und Links.«
Marie freute sich. Sie schrieb ihre E-Mail-Adresse auf die Eintrittskarte und überreichte sie Nikos. Der Mann reagierte viel aufgeschlossener als Alexandros.
Zum Abschied schaute sie noch einmal zu der überdimensionalen Vase, in der sie sich hätte verstecken können.
***
Abends nahm sie das weiße Schreibheft mit dem grünen rechteckigen Logo »Wald und Holz«, das sie aus Deutschland mitgenommen hatte. Sie setzte sich an den Metallschreibtisch und machte erste Stichpunkte: »Nikosia: Aphrodite von Soloi«.
Dann zeichnete sie den Winkel, mit dem die Göttin das Kinn hob.
An der Wand des Büros hing ein Walkie-Talkie, aus dem die gleichen Geräusche kamen, die sie aus dem Auto kannte. Wenn man kein Griechisch verstand, musste man wegen der aufgebrachten Männerstimmen von einem schlimmen Brand ausgehen, aber sie wusste mittlerweile, dass die Beobachtungsposten meist Entwarnung gaben.
Sie ließ sich weder davon ablenken noch von dem hölzernen Schlüsselkasten, der an der Wand hing. Mindestens dreißig Schlüssel hingen dort, und sie versuchte, sich nicht zu fragen, welche Türen sie jeweils aufschlossen, sondern schrieb als zweiten Ort »Amathous« auf die nächste Seite des Heftes. Darunter skizzierte sie einen Speer und dahinter ein Fragezeichen und ein Ausrufezeichen.
Aphrodite war auch eine kämpferische Göttin, das hatte sie nicht gewusst. Sie blätterte in einem der Bildbände, die auf dem anderen Schreibtisch lagen.
Tatsächlich, sie fand die Abbildung einer Statue, die einmal einen Speer in der Hand gehalten hatte.