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9.
Kapitel

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Am nächsten Tag berichtete Marie Stavros von dem Hotelbau im Nationalpark und fragte nach Neuigkeiten. Der tauchte gerade den Wurzelballen einer mickrigen Zeder in einen Wasserkübel und hielt inne.

»Ein Mitarbeiter der Forstbehörde teilte mir mit, dass ökologischer Tourismus angesichts der Wirtschaftskrise nicht mehr im Vordergrund steht.«

»Das rechtfertigt doch nicht, dass Leute mitten im Nationalpark Zedern fällen. Mach etwas dagegen, Stavros!« Marie schaute auf die wenigen Setzlinge, die noch vor dem Schuppen standen.

»Ich würde abwarten, Marie. Du weißt nicht, wie es hier ist. Bisher lief alles gut, wir hatten keine Konflikte. Beim Hotelbau vor dem Besucherzentrum gab es bestimmt ein Missverständnis mit der Baugenehmigung. Ich rufe Gregorios heute an.«

»Wir pflanzen einfach weiter!« Alexandros nahm gleich einen Setzling und begann, das nächste Loch zu graben.

Vielleicht sollte sie seine Einstellung übernehmen: Zupacken, ohne lange nachzudenken! Das gefiel ihr deutlich besser, als abzuwarten.

***

Nach Feierabend legte sie sich auf eine Decke unter eine amerikanische Eiche im Garten. Sie brauchte das, den Kontakt zum Boden, sich von der Erde getragen fühlen, in die grünen Blätter vor dem blauen Himmel schauen und die frische Luft einatmen.

Kurze Zeit später rief sie ihre Freundin Corinna an.

»Mit dem Praktikum läuft es nicht so, wie ich mir das vorgestellt habe«, und sie erzählte alles, was sie in den letzten Tagen erfahren hatte.

Corinna hörte eine ganze Weile zu, bis sie sich einschaltete:

»Weißt du, du hast dir in der Ausbildung und im Studium so viel abverlangt, du wolltest es allen beweisen, hast du ja auch getan. Vielleicht ist es genau so, wie dein Vorgesetzter sagt, alles wird sich irgendwie klären, so wie immer. Und wenn nicht, soll sich doch dein Chef darum kümmern, der wird dafür bezahlt!«

Mit ihrer linken Hand strich Marie über Grashalme, während sie Corinna zuhörte.

»Hey, genieß einfach mal, die Insel soll so schön sein. Schau sie dir doch an. Ich würde deinen Aufenthalt als eine Art Urlaub sehen.«

Marie spürte, wie sie innerlich lockerer wurde, entspannte und Corinnas letzten Satz tief in sich aufnahm.

»Tu dir etwas Gutes, Marie!«

Nach dem Gespräch stand sie auf und legte ihre Hand auf den Eichenstamm. Sie spürte die Kraft darin, die ihr Halt gab.

Corinna hatte Recht. Manchmal sah sie Gespenster. Sie dachte, die ganze Welt hätte sich gegen sie verschworen, dabei war alles in Ordnung. Genau wie hier: dieser Baum stand noch, und seine Energie floss durch sie hindurch. Sie konnte sich beruhigen.

In den nächsten Tagen ging ihr die Arbeit leichter von der Hand: Loch hacken, Zeder einpflanzen, Erde darüber, wässern. Sie hatte zwar mit einer abwechslungsreicheren Tätigkeit gerechnet, aber immerhin war der Himmel jeden Morgen blau, die Sonne schien, und es war angenehm warm. Das herrliche Wetter war ein Grund, warum sie sich für Zypern entschieden hatte.

***

Da sie die Zedern schon vormittags eingepflanzt hatten, nahm Stavros sie und Alexandros mit zur Scheunendachkirche von Kakopetria.

Während der langen Fahrt über kurvige Gebirgsstraßen fragte Marie ungläubig, wie sie es schaffen sollten, einen Wanderweg von Omodos bis zu diesem abgelegenen Dorf anzulegen.

Stavros beruhigte sie.

»Wir brauchen nicht den gesamten Wanderweg neu zu planen und bis hier hin Zedern zu pflanzen. Es gibt bereits unzählige Wege. Wir legen zurzeit nur das Verbindungsstück von Omodos nach Platres an.«

Sie erreichten die Scheunendachkirche des heiligen Nikolaus, parkten und gingen zur Wiese vor der Kirche. Als sie auf das Dach schaute, stellte Marie fest, dass das Kuppeldach von einem zweiten höheren Dach bedeckt wurde.

Stavros zeigte darauf.

»Die Scheunendächer dienen zum Schutz vor dem Wetter. Sie sind später auf die Kuppeln gebaut worden. Und die abgelegene Lage hat die Kirchen vor Feinden geschützt. Jetzt will ich dir zeigen, wie schön sie von innen sind.«

Als sie hineingingen, staunte Marie. Von der Decke bis zum Boden waren die Wände mit biblischen Szenen von außerordentlicher Farbintensität bemalt: Rot, gold, und als sie nach oben ins blaue Gewölbe schaute, hatte sie den Eindruck, in den Himmel zu blicken.

Sie blieb vor dem Bild des heiligen Nikolaus, der ein langes, weißes Gewand trug, stehen. Sie kannte den Heiligen von den Kirchgängen in ihrem Heimatort. Und wenn sie an den Nikolaustag dachte, wurde ihr warm ums Herz. Wie sehr hatte sie sich als Kind über die mit Süßigkeiten gefüllten Stiefel gefreut. Die Farben leuchteten so stark, sie konnte kaum glauben, dass die meisten Gemälde über achthundert Jahre alt waren.

Schließlich ging sie den Gang entlang und zündete am Ende eine Kerze an. Dann wandte sie sich an ihre Kollegen.

»Ich verstehe nur nicht, warum die Zyprer die Kirche hier oben im Gebirge gebaut haben und nicht in Pafos oder Limassol, da könnten sie doch viel mehr Menschen besuchen.«

Alexandros ging direkt auf sie zu. Seine Augen blickten sie streng an, sie wirkten noch dunkler als sonst. Er erklärte, dass das französische Adelsgeschlecht, das im Mittelalter die Insel beherrschte, die orthodoxen Zyprer zu Katholiken machen wollte. Viele Zyprer weigerten sich, zogen sich ins Gebirge zurück und bauten die Scheunendachkirchen.

»Auf diese Weise bewahrten sie ihre Identität, die die Mitteleuropäer bedrohten.« Er schaute sie so durchdringend an, als würde Marie persönlich seine Identität bedrohen.

Sie wich seinem Blick aus und näherte sich den Fresken. Beklommene Stille breitete sich in der kleinen Kirche aus.

Stavros räusperte sich.

»Nun lass doch die Vergangenheit ruhen, Alexandros.«

Beide schwiegen einen Moment, dann zeigte Marie auf die Fresken.

»Kennt ihr jemanden, der mit Wandmalereien vertraut ist?«

Stavros zuckte mit den Achseln, dachte nach und äußerte dann:

»Sotiris, der Pfarrer von Omodos, den müsstest du fragen. Jetzt will ich dir aber erstmal zeigen, wie der Wanderweg hier hinführt.«

Sie verließen die Kirche und Stavros begleitete sie an den Anfang des Wanderwegs. Marie ließ ihren Blick über die bewaldeten rotbraunen Hügel schweifen, schaute in den blauen Himmel und sog die frische Luft ein. Von Weitem hörte sie Wasser rauschen.

»Es ist wirklich schön hier!«, sagte Marie zu Stavros.

Sie kamen an einer Birke vorbei. Marie betrachtete die Zweige, pflückte einige junge hellgrüne Blätter und legte sie in ihre Tasche.

Alexandros wandte sich ihr zu.

»Birkenblätter kannst du pflücken, aber es gibt hier im Nationalpark seltene Wildblumen, die wir schützen wollen.«

»Das ist bei uns in Deutschland genauso, in meiner Heimat wachsen Orchideen, Enziane ...« Bevor sie den Satz zu Ende bringen konnte, unterbrach Stavros sie.

»Wofür brauchst du die Blätter?«

»Für Kräuterdip. Frische Birkenblätter haben viel Vitamin C und Calcium. Wenn man sie kleinschneidet, geben sie dem Dip die Würze.«

»Darüber solltest du mal mit Milla sprechen, sie probiert gern neue Rezepte aus.«

Während sie sich weiter mit Stavros unterhielt, steuerten sie auf ein Waldstück zu. Dort verschwand ein holpriger Pfad, rechts davor stand ein großer, gelber Bagger.

Stavros versuchte sein Unbehagen zu verbergen, indem er Alexandros betont gelassen fragte:

»Stand der neulich auch hier?«

»Den sehe ich zum ersten Mal. Bist du darüber informiert worden?«

»Nein, für unseren Wanderweg brauchen wir den nicht.«

Rechts und links des Weges waren die Büsche auf einer Breite von einem Meter abgesägt worden. Marie schaute Stavros fragend an. Der räusperte sich und sagte:

»Wegen der Krise schlagen einige Zyprioten Holz im Wald.«

»Oder ist das der erste Schritt zum Straßenbau?« Marie stützte ihre Hand an einer schräg stehenden Kiefer ab und betrachtete den Bagger, der den Zugang zum Wanderweg blockierte.

Während sie überlegte, was man gegen das Abholzen tun könne, bewegte sich die Kiefer über ihr. Der unterste Zweig berührte ihren Kopf. Merkwürdig, es war ganz windstill.

»Komm da weg, Marie, sofort!« Stavros riss sie an ihrem freien Arm von dem Baum weg in Richtung Kirche.

Sekunden später krachte die gesamte Baumkrone herunter. Alexandros trat vorsichtig zum Stamm. Er war fast komplett durchgesägt, zehn Zentimeter unterhalb der Stelle, an der Marie ihre Hand gehabt hatte, der leichte Druck ihres Körpers hatte ihn herunterstürzen lassen.

»Wer macht so etwas?« Marie starrte auf die Kiefer, die vor ihr auf der Wiese lag.

»Ich weiß es nicht. Du ... du könntest jetzt darunter liegen. Ich rufe sofort die Forstabteilung an.« Er nahm sein Handy und wählte die Nummer, doch niemand reagierte. »Morgen früh versuche ich es wieder.«

Misstrauisch untersuchte er die anderen Kiefern am Wegesrand. Auch andere Stämme waren angesägt, einige neigten sich leicht, manche waren schon umgeknickt. Das war versuchter Totschlag an den Wanderern.

Auf dem Rückweg saß Marie hinten im Jeep und überlegte fieberhaft, wer die Anweisung gegeben haben könnte, die Bäume so anzusägen. Vorne unterhielten sich Stavros und Alexandros aufgebracht. Offensichtlich war Stavros klargeworden, dass Abwarten keine Lösung war.

***

Marie setzte sich auf die Terrasse und dachte über die angesägten Bäume nach. Gab es irgendetwas, das sie tun konnte?

Währenddessen schleppte Alexandros eine mit Wasser gefüllte Zinkgießkanne vom Fluss zum Gemüsegarten und goss die Tomatenstauden. Im Nu war die Gießkanne leer, er lief erneut zum Fluss und humpelte mit der vollen Gießkanne den Abhang hinauf, überquerte den Rasen und ging zum Gemüsebeet.

Marie sprang auf, um ihm zu helfen.

»Warum nimmst du nicht den Gartenschlauch?«, sie zeigte auf den Wasserhahn an der Außenwand neben der Küchentür.

»Ich trainiere.«

»Du pflanzt doch den ganzen Tag. Wenn du so weiter machst, fällst du um.«

Sie ging zum Gemüsebeet und begann, die braunen Blätter der Tomaten und Bohnenpflanzen abzuzupfen, holte dann eine Schüssel aus der Küche und pflückte die reifen Früchte.

Alexandros goss mittlerweile die Stangenbohnen. Er stand direkt neben einer Metallstange, um die sich die zarte hellgrüne Spitze der Pflanze rankte.

Die Farbe kontrastierte mit Alexandros’ dunkelrotem Poloshirt, das wie viele seiner Oberteile auf der Brust geflickt war.

»Warum sind alle deine Poloshirts an der gleichen Stelle genäht?«

»Weil ich das Emblem herausgeschnitten habe: Krokodil, Polospieler oder Möwe.«

»Du hast die Markensymbole herausgetrennt? Viele Leute kaufen sie deswegen.«

»Das habe ich früher auch getan. Dann wollte ich damit nichts mehr zu tun haben. Ich habe die Embleme herausgeschnitten, die Löcher wieder zugenäht und werde sie so lange tragen, bis sie kaputt sind. Wenn ich neue kaufe, dann No-Name-Shirts«, erklärte er, während er sich entfernte, um frisches Wasser zu holen.

Als er wiederkam, goss er die Bohnen und begann dann, die Blätter nach Schnecken abzusuchen, hielt inne und fragte plötzlich:

»Warum bist du hier?«

Marie stellte die Schüssel mit den Bohnen auf den Boden und antwortete dann:

»Ich wollte raus, etwas Neues kennen lernen, deshalb habe ich mich für ein Naturschutzprojekt im Ausland beworben.«

»Es gibt viele Umweltprojekte, bei denen du dich hättest bewerben können. Warum Zypern?«

Marie zögerte und murmelte schließlich:

»Ich wollte gerne in den Süden und dann habe ich mich eben für die Insel der Aphrodite entschieden.«

»Ich fasse es nicht.« Alexandros schüttelte den Kopf. »Auf der Insel der Aphrodite Momente der Leidenschaft erleben. Die Tourismus-Propaganda ist okay, wenn es darum geht, Gäste an die Strände zu locken, aber solche Leute können wir zum Arbeiten nicht gebrauchen. Wahrscheinlich träumst du beim Zedernpflanzen von Adonis.«

»Jedenfalls nicht von dir«, hätte sie fast gesagt, äußerte aber dann: »Keine Sorge, von Adonis habe ich erstmal genug. Ich möchte einfach etwas Neues kennen lernen ...«

»Das glaube ich dir nicht.« Alexandros hielt ein hellbraunes Schneckenhaus hoch, das er von einem Tomatenblatt abgenommen hatte. »Zuerst lebst du in deinem Schneckenhaus in Deutschland, und kaum bist du auf Zypern, ziehst du dich in dieses Forsthaus zurück, dein neues Schneckenhaus.«

Marie nahm ihm die Schnecke ab.

»Das ist totaler Quatsch. Ich habe in Deutschland nicht in einem Schneckenhaus gelebt, sondern im Studentenwohnheim und ja: ich lebe lieber im Wald als mitten in der Stadt.«

Sie setzte das kleine Kriechtier behutsam ins Gebüsch. Dabei blickte sie auf das Haus. Sie würde ihm nicht sagen, dass es sie an ihren Großvater erinnerte.

Doch je länger sie auf die grünen Fensterladen schaute, desto mehr fragte sie sich: Hatte er vielleicht doch Recht? Zog sie sich hier wie in ein Schneckenhaus zurück? Erkundete sie nichts Neues?

Es stimmte schon, sie mochte Gebiete, in denen sie sich auskannte: Buchenwälder, Savannen, Regenwälder, Zedernwälder. Sie wusste, wie diese Ökosysteme funktionierten, es gab zwar immer wieder lebendige Überraschungen, aber keine, die sie aus der Bahn warfen.

Als sie sich umdrehte, schleppte er die nächste Gießkanne den Abhang hoch und überquerte die Wiese. Da war er wieder, der unregelmäßige Gang. Irgendetwas stimmte im Bewegungsablauf nicht, als wäre das rechte Knie steif. Als er näher kam, verzog sich sein Gesicht.

Er setzte die Gießkanne ab.

»Deshalb brauche ich einen Mann als Kollegen. Weil ich körperlich nicht mehr intakt bin, ich bin behindert. Es tut mir weh, den ganzen Tag zu stehen und zu hacken, aber ich tue es trotzdem.« Langsam ging er auf sie zu. »Ich brauche niemanden, der Konzepte ausarbeitet oder Routen plant, das kann ich selbst. Ich glaube ja, dass du tolle Projekte geplant hast, aber ich suche jemanden, der das ersetzt, was mir fehlt, der viel mehr Kraft hat, der pflanzt wie ein Besessener, sonst wird diese Insel zur Wüste.«

Er war nah an sie herangekommen, berührte ihren linken Unterarm und schaute sie mit seinen dunklen Augen eindringlich an. Es hatte ihn Überwindung gekostet, ihr das zu sagen.

»Würdest du freiwillig gehen, Marie? Du strengst dich an, aber die Arbeit ist nicht das, was du machen wolltest. Und ein Mann schafft viel mehr. Wenn du deinen Platz räumst, können wir schnell jemand anderen bekommen.«

Bei ihren bisherigen Praktika hatte sie immer »Ja« gesagt, wenn ihre Kollegen sie um etwas gebeten hatten. Sie überlegte. Wahrscheinlich hatte Alexandros sogar Recht. Ein kräftiger Mann würde mehr schaffen, und sie könnte anderswo Projekte planen und umsetzen. Sie wollte gerne seinen Wunsch erfüllen, vor allem, weil er sie zum ersten Mal hinter seine Fassade hatte schauen lassen.

Doch dann kamen die Worte einfach aus ihr heraus.

»Ich kann nicht, Alexandros, ich bleibe.«

»Aber warum?«, er löste die Hand von ihrem Arm.

»Weil es so ist. Ich will hierbleiben. Ich kann es nicht erklären.«

»Du bist hier falsch, ich brauche jemand anderen.« Er sprach wieder genauso distanziert wie sonst.

»Ich habe einen Vertrag.« Sie rückte ihm einen der weißen Terrassenstühle heran. Er setzte sich, sie nahm den Gartenschlauch und wässerte die Pflanzen, die er noch nicht gegossen hatte.

Sehnsucht nach Zypern

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