Читать книгу Schwarz wie dein Herz - Julie Craner - Страница 6

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Abwesend blätterte Aurora in der Tageszeitung. Die Berichte über diese Morde mit fast blutleeren Leichen waren einfach zu sehr an den Haaren herbei gezogen, um ihre Aufmerksamkeit zu fesseln. Sie blickte aus dem Fenster, an das Regentropfen immer wieder neue Muster malten. In dem kleinen Studentencafé, nur ein paar Nebenstraßen von ihrer Arbeit entfernt, war es so kurz vor Mittag ruhig. Sie liebte die bunt zusammengewürfelten Polstermöbel, den Geruch von frisch gebrühtem Kaffee und süßem Gebäck. Dieses charmante Chaos ließ Aurora immer wieder gerne vor oder nach der Arbeit hier lesen oder träumend an einem Milchkaffee nippen. Doch das Koffein half ihr heute nicht, sich auf ihre Lektüre zu konzentrieren.

Das musste am grauen Wetter liegen, das mehr nach London als nach Berlin passte. Vielleicht war das ein Zeichen, sich das Londoner Wetter endlich live anzusehen, so wie sie es sich schon ewig vorgenommen hatte. Seit sie klein war, wollte sie die Welt entdecken. Aber damals hatte ihre Familie nicht viel Geld gehabt und sie hatten sich höchstens einen Campingurlaub an der Ostsee leisten können.

Doch vor ein paar Tagen hatte ihre Freundin angerufen und sie nach Paris eingeladen. Diese lebte seit einem Jahr dort, hatte eine kleine Wohnung in der Stadt und drängte Aurora, sie zu besuchen. Nachdenklich drehte sie eine ihrer langen Strähnen über den Zeigefinger. Sie könnte ihren Bruder Markus fragen, ob er sie in seinen Semesterferien begleiten wollte. Statt immer nur vom Reisen zu träumen, sollte sie es endlich tun. In ihrem Job verdiente sie genug, um nicht nur über Reiseführern imaginäre Tripps zu planen, sondern endlich wirklich loszulegen.

Lächelnd sprach sie sich Mut zu, als sie wieder an diesen seltsamen Traum denken musste.

Seit sie heute früh schweißgebadet hochgeschreckt war, fühlte sie sich rastlos. Erst nach einer langen, heißen Dusche hatte sie die Nacht größtenteils hinter sich lassen können. An viel konnte sie sich nicht mehr erinnern, nur Fragmente ihres Traumes waren geblieben: Silberklingen, unheimlich blitzende Augen und überall Blut. Rostrot war es um ihre Füße geflossen.

Sie schüttelte den Kopf, um die lästigen Bilder zu vertreiben, und versuchte sich auf ihre Zeitung zu konzentrieren.

„Fräulein Zantoni?“ Blinzelnd schaute sie auf und riss erstaunt die Augen auf. Vor ihr stand ein weißhaariger, älterer Mann in einer schwarzen Mönchskutte. Die Kapuze hing auf seinem Rücken und entblößte kurzgeschnittene Haare, die fast so hell waren wie der weiße Gürtel um seinen Bauch.

„Ja? Das bin ich!“ Fragend sah sie in das von Falten zerfurchte Gesicht. Sie war sich sicher, dass sie diesen Mann noch nie vorher gesehen hatte. Woher kannte er sie dann?

„Sie sehen genauso aus wie Ihre Großmutter!“ Der alte Mann schien ihre Gedanken lesen zu können.

„Was? Sie kannten sie?“ Er konnte nur ihre unbekannte Großmutter väterlicherseits meinen, da Aurora nur wenig Ähnlichkeit mit der Familie ihrer Mutter hatte.

„Nur flüchtig. Ich hatte die große Ehre, sie in meiner Jugend kennen zu lernen, und nun sitzen Sie vor mir, wie ihr Ebenbild!“

Neugierig musterte sie ihn. Von der Familie ihres Vaters wusste sie so gut wie gar nichts. Ihre Großeltern waren schon früh gestorben und ihr Vater hatte nie von ihnen erzählt. Doch woher kannte dieser Fremde ihre Großmutter?

„Darf ich mich kurz zu Ihnen setzen?“

Aurora deutete auf den Stuhl neben sich. „Bitte!“

„Ich bin Bruder Michael!“

Sie nickte ihm zu. „Ich bin Aurora Zantoni. Also, woher kannten Sie meine Großmutter?“

Der mollige Mönch neben ihr seufzte kurz auf und schaute ihr forschend in die Augen. „Sie werden es mir wahrscheinlich nicht glauben, aber ihre Großmutter war eine Vampirjägerin.“ Wachsam beobachtete er sie. „So wie Ihre Vorfahren, Ihr Erbe lässt sich bis ins 14. Jahrhundert zurück verfolgen.“

Fast hätte sie sich an ihrem Kaffee verschluckt. Irritiert sah sie sich um, doch die wenigen Besucher saßen weit genug weg, um nichts von seinen Märchen gehört zu haben. „Wie bitte?“

Unbehaglich rutschte der Mönch neben ihr auf dem Stuhl hin und her. „Auch Ihr Vater war einer, aber er war seiner Aufgabe nicht gewachsen.“

Verächtlich schnaubte sie. „Mein Vater war sehr vielen Sachen nicht gewachsen!“ Ein harter Ausdruck trat auf ihr Gesicht. Ihr Vater hatte seine Seele lieber an den Alkohol verkauft, statt sich um seine Familie zu kümmern. Das hatte ihn auch umgebracht.

Mitfühlend nickte der Mönch ihr zu. „Ich würde Ihre Familie gerne in Ruhe lassen, aber die Vampire sind in letzter Zeit wieder stärker geworden. Es hat sehr viele Übergriffe gegeben.“ Er räusperte sich. „Ihre Familie hat sich diesem Kampf seit Jahrhunderten verpflichtet und jetzt muss ich Sie als Nachfahrin bitten, wieder in diesen Dienst zu treten.“

Ungläubig schaute Aurora ihn an. „Ich glaube Sie sind verwirrt. Vielleicht sollten Sie schnellstmöglich einen Arzt aufsuchen!“

„Ich bin nicht verrückt, Fräulein Zantoni! Alles, was ich sage, ist die Wahrheit. Sie und ihr Bruder sind die Einzigen in Berlin, die uns beistehen können. Ich habe Hilfe von anderen Jägergruppen angefordert, aber es scheint weltweit gerade große Probleme zu geben.“ Er wirkte so überzeugt von seiner Geschichte, als wäre es keine Wahnvorstellung.

„Bitte gehen Sie doch zu Ihrem Kloster zurück. Da kann man sich besser um Sie kümmern.“ Zwar hatte sie durch ihre Arbeit vereinzelt mit verwirrten Leuten zu tun gehabt, doch mit seinem Gerede wurde ihr der Fremde unheimlich.

„Verstehen Sie denn nicht? Es wird immer schlimmer. Die Vampire bereiten sich auf einen Krieg vor. Viele Unschuldige könnten sterben!“

„Dann kümmern Sie sich doch selber darum!“ Sorgenvoll schaute sie auf den rundlichen Mann vor sich. Er schien jedes Wort zu glauben, was er sagte, und wirkte dabei völlig normal, nicht eine Spur verwirrt. Solch einem Verrückten war sie noch nie begegnet.

„Das ist nicht die Aufgabe, die Gott mir zugewiesen hat. Aber vielleicht hätte ich zuerst mit Ihrem Bruder reden sollen!“

Entsetzt sprang sie auf. „Lassen Sie ihn mit diesem Unsinn in Ruhe. Markus hat genug andere Sachen im Kopf!“ Sie griff nach ihrer Tasche. „Sie sollten jetzt lieber gehen, bevor ich die Polizei rufe!“ Lange genug hatte sie versucht ruhig zu bleiben, aber das klang fast, als wolle dieser Mann ihren Bruder bedrohen.

Beschwichtigend hob er die Hände. „Es lag nicht in meiner Absicht, Sie zu beunruhigen, aber Sie müssen mir glauben! Ihre Familie hat damals zur Zeit der Türkenkriege in Rumänien gelebt und viele Überfälle mitgemacht. Vor Jahrhunderten hat Ihr Urahn geschworen, dass seine Nachkommen diese Verbrechen nicht länger mit ansehen und die Vampire auslöschen werden!“ Bewegt stand der Mönch auf. „Er hat es im Namen unseres Herrn geschworen und dieser Pflicht können Sie sich nicht entziehen; weder Sie noch Ihr Bruder!“

Von der Diskussion müde schüttelte sie den Kopf. „Sie brauchen dringend professionelle Hilfe!“ Sie wandte sich ab, als er nach ihrem Arm griff.

„Bitte Fräulein Zantoni, Sie sind in Gefahr.“ Er drückte ihr einen kleinen Zettel in die Hand. „Hier können Sie mich finden, wenn Sie Hilfe brauchen. Und ich fürchte, dass wird bald der Fall sein.“

Sie schaute auf das Papier in ihrer Hand. Ohne weiter zu überlegen, steckte sie es in ihre Tasche und verließ das Café. Nur schnell weg von dem verrückten Alten. Dabei hatte er anfangs einen so netten Eindruck gemacht. Ihre Menschenkenntnis ließ wirklich zu wünschen übrig. Da ließ sie sich einfach von Mönchen ansprechen, die sich dann als Entlaufene einer Psychiatrie herausstellten. Wenn sie das ihrem Bruder erzählte! Er würde sich wahrscheinlich köstlich darüber amüsieren.

Sie fuhr sich durch die Haare. Wie kam der Mönch nur auf diese Vampiridee?

Wieder sah sie die rot leuchtenden Augen aus ihrem Traum vor sich und dann lange, blitzende Eckzähne. Für einen Augenblick wurde die Welt um sie herum dunkel. Der Boden unter ihr war matschig vom Blut unschuldiger Familien, während dunkle Rauchschwaden immer wieder ihre Sicht behinderten. Schneeweiße Gesichter starrten sie aus dem Nebel an, dann konnte sie ein paar lange, blitzende Eckzähne ausmachen, die in Sekundenschnelle auf sie zukamen.

Das Klingeln einer Straßenbahn riss sie aus den Bildern. Im letzten Moment sprang sie auf den Bürgersteig zurück und lehnte sich an einen Straßenpfeiler. Der Alptraum von letzter Nacht. Es war alles wieder da.

Dieses Gerede von Vampiren hatte den Schleier von ihrem Gedächtnis gerissen. Doch nur weil sie von ihnen träumte und ein alter Mönch von ihnen sprach, hieß das nicht, dass sie existierten. Oder?

Sie streifte ihre abstrusen Gedanken ab und machte sich auf den Weg zur Arbeit. Dort konnte sie so etwas nicht gebrauchen.

Müde stieg sie aus der S-Bahn. Nach der Arbeit war sie mit einer Kollegin noch einer Fortbildung gewesen. Leider war der Vortrag über die neue Gefahrstoffverordnung genauso langweilig gewesen, wie es klang, aber dafür hatte es leckeres Essen gegeben. Jetzt gegen elf Uhr Abends war es schon ruhig hier in dem Außenbezirk von Berlin, nicht zu vergleichen mit den Partyvierteln in der Innenstadt. Es nieselte, zusätzlich kam dieser Nebel dazu. Das Licht der Straßenlaternen bildete kleine Inseln in der Dunkelheit. Wie gut, dass sie seit ihrer Kindheit hier lebte, sonst hätte sie sich auf ihrem Nachhauseweg sicher gegruselt. Doch so kannte sie jeden Stein, auch wenn der Nebel vieles im Verborgenen ließ und nur dunkle Umrisse zu erkennen waren.

Seit sie dem Mönch begegnet war, fühlte Aurora sich unsicher. Noch immer konnte sie nicht glauben, was er ihr hatte erzählen wollen.

Vampire! Und ihre Familie Vampirjäger! Der Mann schien dement zu sein, obwohl er anfangs nicht den Eindruck gemacht hatte. Ungläubig schüttelte sie den Kopf. Ihr Vater sollte ein Vampirjäger gewesen sein? Und weil er das Grauen nicht ertragen konnte, war er Alkoholiker geworden? Hart lachte sie auf und sah sich erschrocken um, doch sie erkannte nur weit hinten auf dem Weg drei Gestalten, die sicher nichts mitbekommen hatten.

Aurora hatte seit der Scheidung ihrer Eltern kein gutes Verhältnis zu ihrem Vater gehabt und bis zu seinem Tod waren sie nicht ins Reine gekommen.

Das Geräusch von Schritten weckte sie aus ihren Gedanken. Die drei Schatten waren plötzlich sehr nah vor ihr im Nebel. Beunruhigt blieb sie stehen. Wie war das möglich? Gerade noch waren sie weit entfernt gewesen. In ihrem Kopf gingen die Alarmglocken los. Um diese Zeit war sonst niemand außer ihr unterwegs. Doch bevor sie ausweichen konnte, waren die drei schon vor ihr in den Lichtkegel einer Straßenlaterne getreten und schienen Aurora genau zu mustern.

Die erste Gestalt war eine junge Frau in einem langen blutroten Ledermantel. Lange, rotblonde Haare umrahmten ein wunderschönes, schneeweißes Gesicht mit dunklen Augen, die sie gefährlich anfunkelten. Flankiert wurde sie von zwei kräftigen Männern in schwarzen Ledermänteln. Deren kantige Gesichter waren ebenfalls unnatürlich weiß. Die drei Gestalten blieben stehen und musterten sie. Die Frau nickte in ihre Richtung.

„Sie ist es wirklich. Haltet sie!“ Aurora wunderte sich noch über die weiche Engelsstimme, bevor ihr Verstand die Gefahr erfasste, in der sie sich befand. Doch da wurde sie schon von den beiden Männern gepackt. Stahlharte Finger hielten ihre Arme fest und präsentierten sie der Frau wie eine Opfergabe. Diese lächelte zufrieden und stand im nächsten Moment direkt vor ihr. Erschrocken versuchte Aurora zurückzuweichen und sich aus dem festen Griff der Männer zu winden. Ihr Mund öffnete sich, doch die Angst schnürte ihre Kehle zu.

„Sie riecht wie die große Jägerin der Vergangenheit!“ Während die zarte Frauengestalt vor ihr redete, konnte Aurora deren süßen, lockenden Atem riechen. Er hinterließ ein betäubendes Gefühl auf ihrem Gesicht. Verzückt schaute sie auf den Todesengel vor sich hinab und vergaß dabei die Gefahr.

Doch im nächsten Moment verlor sich dieses Gefühl. Ein Brennen ging durch ihr rechtes Handgelenk. Schockiert sah sie zur Seite. Einer der Männer hatte seinen Kopf über ihren Arm gesenkt und biss hinein. Stöhnend versuchte Aurora ihre rechte Hand aus seiner Gewalt zu befreien, doch er hielt sie fest umklammert.

„Alexej, nicht zu viel! Jetzt sind wir dran.“ Das Gesicht der Frau neigte sich ihrem Hals zu, der geöffnete Mund auf Auroras Schulterhöhe.

„Halt! Was tut ihr da?“ Eine kräftige Stimme aus dem Nebel ließ die drei innehalten. „Verschwindet sofort!“ Es war Aurora, als hörte sie das leise Knurren eines Tiers aus der Richtung. Ein dunkelblonder Mann in schwarzen Hosen und grauem Rollkragenpullover trat vor ihr in den Schein der Straßenlaterne.

Im nächsten Moment war sie aus dem festen Griff befreit und ihre drei Angreifer waren verschwunden. Unbeholfen taumelte sie vorwärts und wäre auf dem harten Asphalt aufgeschlagen, hätte der Fremde sie nicht aufgefangen. Mit Tränen in den Augen schaute sie zu ihrem Retter auf. Dunkelblonde, kinnlange Locken fielen halb in wachsame Augen. Das scharf geschnittene Gesicht mit der ausgeprägten Kinnlinie erkannte sie erst jetzt. Seufzend ließ sie sich in die Arme ihres Nachbarn fallen. Willkommen sank sie in die Bewusstlosigkeit, während er sie hochhob und vom Ort der Attacke trug.

Langsam tauchte sie aus der Dunkelheit auf. Wo war sie? Vorsichtig sah sie sich um. Sie lag in ihrem schwarzen, langärmligen Hemd und der dunkelblauen Jeans auf einem schwarzen Ledersofa. Ihr olivgrüner Parka hing über der Lehne zu ihren Füßen. Der Raum um sie war fast leer, als wäre jemand gerade erst dabei, einzuziehen. Bis auf das Sofa mit einem passenden Sessel, stand nur ein Glastisch vor ihr. An der gegenüberliegenden Wand befand sich ein schwarzer Metallschrank mit einem Plasmabildschirm darauf. Der Parkettboden und die weißen Wände ließen den Raum noch größer erscheinen. Es gab weder Bilder noch Fotos an den Wänden, nicht einmal eine Zeitung lag auf dem Tisch.

Als sie vorsichtig den Kopf hob, strömten die Erinnerungen auf sie ein und sie stöhnte. Ihr rechtes Handgelenk brannte fürchterlich. Sie blickte zur Seite. Ihr rechter Arm lag auf dem niedrigen Glastisch, eingewickelt in ein schwarzes Frotteehandtuch.

„Ah, du bist zu dir gekommen“, erklang eine dunkle, angenehme Stimme hinter ihr.

Sie versuchte sich aufzusetzen und zuckte keuchend zurück. Dabei hätte sie sich lieber nicht auf ihre verletzte Hand stützen sollen.

„Nicht, bleib erst mal liegen.“ Gerne folgte sie den Anweisungen ihres gutaussehenden Nachbarn und Retters, der sich jetzt in ihr Gesichtsfeld schob. Der schwarze Rollkragenpullover brachte die schlanke, trainierte Gestalt des ungefähr Dreißigjährigen gut zur Geltung. „Ich hab dich mit zu mir genommen. Hier bist du in Sicherheit.“ Vorsichtig setzte er sich neben ihren Knien auf das Sofa und stellte ein Tablett mit Verbandsmaterialien und einem Wasserglas auf den Tisch.

„Hier, nimm erst mal eine von denen, dann geht es dir in zehn Minuten schon viel besser!“ Er hielt ihr lächelnd eine Tablette entgegen.

„Was ist das?“ Mit großen Augen sah sie ihn an.

Räuspernd strich er sich eine dunkelblonde Haarsträhne aus dem Gesicht. „Nur ein niedrig dosiertes Morphin!“

Erschrocken setzte sie sich auf und stöhnte. Sie hätte ihr verletztes Handgelenk nicht bewegen sollen. „Du gibst mir einfach so ein Betäubungsmittel? Wo hast du das überhaupt her?“ Morphin bekam man nur mit einem speziellen Rezept und auch nur in Ausnahmefällen. Bei wem war sie hier gelandet? War er ein Drogendealer? Kein Wunder, dass sie ihren Nachbarn so selten sah, obwohl er schon seit einem halben Jahr neben ihr wohnte.

„Hey, keine Angst. Ich bin Arzt. Das habe ich aus meinem Notfallvorrat!“

„Ach so.“ Das wäre auch eine Erklärung dafür, dass man ihn selten sah.

Schmunzelnd reichte er ihr ein Wasserglas und beobachtete, wie sie die Schmerztablette nahm. „Ich heiße übrigens Eric!“

„Ich bin Aurora.“

Er zog erstaunt die linke Augenbraue nach oben. „Aurora!? Wie die warme Morgenröte, die die kalte Nacht vertreibt!“ Seine dunkle Stimme sandte ihr Schauer über den Rücken, während ihr vor Verlegenheit die Hitze in die Wangen schoss.

„Hmm!“ Sie nahm die Hand, die er ihr anbot und zuckte gleich zurück. Seine Haut war eiskalt, fast unnatürlich.

Er zog seine Hand zurück. „Oh, entschuldige. Die kalten Hände liegen bei mir in der Familie!“ Schnell ließ er sie in seinen Schoß gleiten. „Haben deine Schmerzen schon etwas nachgelassen?“

Vorsichtig bewegte sie ihr Handgelenk. Es kribbelte, aber der Schmerz war gedämpft worden. Langsam nickte sie ihm zu. Das Morphin war in ihrem Blut angekommen und vernebelte leicht ihren Verstand.

„Gut, dann kann ich mich um deine Wunde kümmern.“ Er zog ein paar Gummihandschuhe über und schaute sie zweifelnd an. „Vielleicht solltest du dich lieber wieder zurücklegen und an die Decke starren.“

Sie schüttelte mit zusammengekniffenen Lippen den Kopf. Sie wollte unbedingt wissen, was diese Bestien ihr angetan hatten.

Er lehnte sich über ihr Handgelenk, doch sie konnte gut über seine Schulter linsen. Vorsichtig schlug er das Handtuch zurück. Zischend atmete sie ein. Ihr gesamter Unterarm war blutbeschmiert.

„Ganz ruhig ein- und ausatmen. Das sieht schlimmer aus, als es ist.“ Er schaute ihr lange in die Augen.

Aurora kniff die Lider erstaunt zusammen. Es sah fast so aus als wären Erics schwarze Pupillen von blutroten Ringen umgeben. Das musste am Licht liegen und am Schmerzmittel. Während ihre Gedanken langsam um seine ungewöhnlichen Augen kreisten, hatte er ihren Arm schon gesäubert. Nun blieb nur noch die halbmondförmige Bisswunde über dem Handgelenk, aus der langsam Blut sickerte.

„Das sieht gut aus, keine abgerissene Dermis oder verletzte Hauptgefäße. Ich hatte schon Angst, ich müsste es nähen. Aber da reichen ein paar Klammerpflaster.“

Aurora lächelte erleichtert. Wäre er jetzt mit Nadel und Faden angekommen, wäre sie direkt auf seiner Couch umgekippt oder hätte ihr Abendbrot wieder von sich gegeben. Das wäre wohl kein Start für eine gute Nachbarschaft.

„Willst du eigentlich zur Polizei?“ Aurora konnte sehen wie sich Erics Rücken versteifte, obwohl er die Frage ganz beiläufig beim Verbinden gestellt hatte.

Seufzend schüttelte sie den Kopf. „Nein, das bringt nicht viel. Ich kann mich nicht einmal an deren Gesichter erinnern.“ Und was sollte sie auch auf dem Revier erzählen? Dass sie von Verrückten gebissen wurde? Vielleicht war doch etwas an der Geschichte des Mönches dran. Sollte sie der Polizei erzählen, dass es vielleicht sogar Vampire waren, die sie überfallen hatten? Damit würde sie nur in einer schönen Gummizelle landen.

„Ach so!“ Er wickelte ihr einen weißen Verband um das Handgelenk, aber sie konnte sehen, dass er sich bei ihrer Antwort wieder entspannte. Vielleicht bildete sie sich das auch nur ein, das Schmerzmittel ließ ihre Gedanken langsam verschwimmen.

Mühsam unterdrückte sie ein Gähnen. Der ganze Tag war einfach zu viel. Sie wollte jetzt nur noch ins Bett.

„Fertig!“ Er strich vorsichtig über ihren Arm. Selbst durch den Verband fühlten sich seine Finger kalt an, aber jetzt war das sehr angenehm. Sie schloss kurz die Augen. Im nächsten Moment lagen seine Hände an ihren Schultern. „Hey, alles in Ordnung?“

Nur mit aller Kraft konnte sie ihre Lider öffnen. „Ja, ich muss unbedingt ins Bett.“

„Ähm, also wenn du möchtest, kannst du hier schlafen.“

Es dauerte einen Moment bis sie begriff, was er von ihr wollte. Sie blickte in sein sorgenvolles Gesicht. Das war ein reizvolles Angebot. Offenbar wollte er sie nicht allein lassen, für den Fall, dass sie Angst bekam. Wäre er ein guter Freund gewesen und nicht nur ein Gesicht, dass sie erst ein paar Mal im Hausflur gegrüßt hatte, hätte sie wohl zugestimmt.

„Nein, das ist nett gemeint, aber ich schlafe lieber bei mir.“ Schwankend stand sie auf. Eric hielt ihr seine ausgestreckten Hände entgegen und sie war kurz versucht, danach zu greifen.

Nein, du kommst ganz gut alleine klar!

„Falls irgendetwas ist, ich bin zu Hause. Du kannst jederzeit klingeln.“ Er begleitete sie bis in das hellgraue Treppenhaus. Aus den Wohnungen unter ihnen und über ihnen war kein Laut mehr zu hören um diese Uhrzeit.

Dankbar lächelte sie ihm zu und ging zu ihrer ihm genau gegenüberliegenden Wohnungstür. „Gut zu wissen. Aber ich denke, ich komme zurecht.“

Eric lächelte breit zurück und ließ damit ihre Knie zu Butter schmelzen. Er sah fast wie ein Engel aus. Schwach hielt sie sich am Türknauf fest und nickte ihm zu.

„Also dann, gute Nacht, Eric.“

„Ich wünsche dir auch eine gute Nacht, Aurora.“

Nachdem sie ihre Wohnung betreten hatte, lehnte sie seufzend ihren Rücken an die geschlossene Tür und glitt zu Boden. Das war einfach zu viel. Erst kam ein verwirrter Mönch zu ihr und erzählte ihr von Vampiren und am gleichen Tag wurde sie abends von drei Verrückten überfallen. War das nur Zufall gewesen oder konnten es wirklich Vampire gewesen sein?

Wie gut, dass Eric gerade da war! Kurz stutzte sie. Was hatte er um diese Zeit dort zu tun gehabt? Sie überlegte, ob sie ihn fragen sollte, als es neben ihr raschelte. Unbemerkt war ihr die Tasche von der Schulter gerutscht.

Mit klopfendem Herzen presste sie ihren Rücken an die Tür und tastete nach dem Lichtschalter. Niemand war hier! Für alle Fälle machte sie in sämtlichen Zimmern Licht und schaute nach. Weder im Arbeitszimmer mit dem großen Bücherregal, noch im Schlafzimmer mit dem buchefarbenen Kleiderschrank und dem Bett mit der hellblauen Bettwäsche, noch in den anderen in bunten Farben eingerichtete Zimmern war etwas ungewöhnliches zu erkennen. Über sich selbst den Kopf schüttelnd schaute sie auf die vielen Fotos an ihrer Wohnzimmerwand. Natürlich nicht, wie sollte hier auch jemand hereinkommen?

Auch wenn sie nicht wusste, ob Vampire über irgendwelche magischen Fähigkeiten verfügten! Panik stieg eiskalt in ihr hoch. Nach den ganzen Ereignissen hielt sie es gar nicht mehr für so abwegig, dass das wirklich Vampire waren.

Als sie kurz davor war mit ihrem Schlafanzug zu Eric zu rennen, wühlte sie in ihrem Wohnzimmerschrank. Irgendwo hier hatte ihr Bruder Markus doch immer eine Schachtel Zigaretten deponiert. Für den Fall, dass er nach einem ihrer Filmnächte keine Lust mehr hatte, nach Hause zu fahren. Da war sie ja!

Nachdenklich schaute sie auf die rote Box in ihrer Hand. Gleich nach dem Studium hatte sie aufgehört mit dem Rauchen, aber heute brauchte sie etwas zur Nervenberuhigung. Seufzend legte sie die Schachtel wieder zur Seite und kochte sich in der Küche ihre Spezialmischung Beruhigungstee auf. Aber Markus Zigaretten wollten ihr nicht mehr aus dem Kopf. Frustriert griff sie danach und öffnete die Balkontür. Nur einmal noch, das konnte ihr nach diesem Tag keiner übel nehmen, versuchte sie ihr Verhalten zu verteidigen.

Mit der voll beleuchteten Wohnung hinter ihr zündete sie sich auf dem Balkon eine Zigarette an. Drei Etagen unter ihr lag der kleine Park im Dunkeln. Ob dort einer der Vampire stand und sie beobachtete? Sie schnappte panisch nach Luft und hielt sich am Geländer fest.

„Hey, alles in Ordnung?“

Quiekend sprang sie zur Seite und schaute auf den Nachbarbalkon, von wo die Stimme kam.

„Gott, hast du mich erschreckt!“ Zittrig hielt sie sich die Hand auf ihr flatterndes Herz. Langsam atmend drängte sie die Angst zurück, die sie überfallen hatte und versuchte ihre verkrampften Muskeln zu entspannen. Hätte sie nicht gerade an ihre Angreifer gedacht, wäre sie vielleicht nicht so sensibel gewesen.

Eric lehnte sich angeleuchtet von seinem Wohnungslicht an die Brüstung, die ihre zwei Balkoneinheiten voneinander trennte. Lässig hielt er einen Zigarillo in der Hand, an dem er kurz zog. „Mein Angebot steht noch, wenn du nicht allein sein möchtest.“ Er lächelte ihr einladend zu.

Kopfschüttelnd drückte sie die Zigarette in dem kleinen Aschenbecher aus, den sie extra auf dem kleinen Fenstervorsprung für ihren Bruder deponiert hatte. „Nein, mir geht es gut.“

„Den Eindruck hast du aber gerade nicht gemacht.“ Skeptisch hatte er die Augenbrauen zusammen gezogen, was ein warmes Gefühl in Auroras Bauchraum hinterließ. Er schien sich Sorgen zu machen.

„Ich habe nur seit Ewigkeiten keine Zigarette geraucht“, wehrte sie ab. „Mir war ein wenig schwummrig.“

„Na, wenn du das sagst.“

„Ja.“ Sie rieb sich den rechten Oberarm. Die Nachtluft war zur Herbstzeit schon unangenehm kühl. „So, jetzt werde ich aber wirklich schlafen gehen. War ein langer Tag.“ Sie stieß die Balkontür auf und sah ein letztes Mal in sein perfektes Gesicht. „Gute Nacht nochmal!“

„Ich hoffe, du kannst dich gut erholen. Schlaf schön, Aurora.“ Schnell huschte sie in ihr Wohnzimmer und schloss die Tür. Ihre Wangen fühlten sich ganz heiß an. Das war vielleicht peinlich gewesen. Vor Erics Augen so zusammen zu fahren, echt toll.

Sie sprang unter die heiße Dusche und konnte sich ein bisschen entspannen. Dabei hielt sie ihren rechten Arm weit vom Strahl entfernt, um den Verband nicht nass zu machen. Es war zwar etwas umständlich, sich mit links einzuseifen, aber es ging schon irgendwie.

Im nächsten Moment spürte sie, wie ihr Magen rebellierte, und eilte zu ihrer Toilette. Die Schmerzmittel oder einfach der Schock. Mit kaltem Schweiß auf der Stirn hob sie träge den Kopf. Wie gut, dass ein Großteil des Morphiums ihr Blut schon erreicht hatte. Nachdem sie den bitteren Geschmack aus ihrem Mund gespült hatte, trank sie ihren Beruhigungstee. Die Melisse und der Lavendel würden nicht nur ihre Nerven, sondern auch ihren flauen Magen gleich mit beruhigen.

Sie zog sich ihren hellblauen Flanellschlafanzug an und kuschelte sich ins Bett. Mit Erics lächelndem Gesicht vor Augen schlief sie erstaunlich schnell ein.

Schwarz wie dein Herz

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