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Kapitel 5

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Im Herbst 1995 suchte Lance Armstrong den Kontakt zu Dr. Ferrari.1 Er wollte mit dem Mann zusammenarbeiten, der dafür gesorgt hatte, dass beim Flèche Wallonne die Räder des Gewiss-Ballan-Teams davongeflogen waren. Aber Michele Ferrari war zu einem Königsmacher im Radsport geworden und zunehmend wählerisch bei der Auswahl seiner Klientel. Selbst starke Fahrer wie Armstrong mussten sich einer ärztlichen Untersuchung unterziehen, bevor irgendeine Abmachung getroffen wurde. Weil er ungern allein irgendwohin ging, überredete Armstrong seine Freundin Monica Buck, eine ehemalige Miss Hawaiian Tropic aus Texas, und J. T. Neal, ihn zu dem Treffen mit Ferrari nach Bologna zu begleiten. Sie stiegen in Armstrongs Auto und legten die Strecke, die von Como aus auf der Autostrada A1 in südöstlicher Richtung nach Bologna führt, in zweieinhalb Stunden zurück. Es war nicht die angenehmste Fahrt. Neal wollte nicht, dass Armstrong sie unternahm, und war verärgert, weil sein Schützling dennoch aktiv geworden war und den Termin vereinbart hatte. Sein einziger Kommentar, den er in seinem gedehnten Südstaatler-Akzent vorbrachte, war: »Lance, werd’ jetzt bloß nicht gierig.«2

Der erst 24 Jahre alte Armstrong hatte bereits ein Bankguthaben von knapp 750 000 Dollar.3 Aber Neal wusste, dass Armstrong Leute wie Jim Ochowicz verehrte, den Motorola-Teammanager, der in den besten Restaurants speiste, in Fünf-Sterne-Hotels logierte und nur die teuersten Weine bestellte. Armstrong sah nur einen Weg, der ihn dorthin führte – und der Wegweiser hieß Ferrari. Armstrong behauptet, er habe Eddy Merckx, den fünfmaligen Tour-Sieger aus Belgien, gebeten, ihn mit Ferrari bekannt zu machen, und Merckx habe diesem Wunsch entsprochen.4

Monica Buck, eine zierliche Person, war eine ehrgeizige Schauspielerin. Sie war extra aus Texas angereist, um Armstrong zu besuchen.5 Neal sah es mit Sorge. Lance kam bei Frauen gut an. Bucks Vorgängerin Danielle Overgaag, einer niederländischen Radfahrerin der Spitzenklasse, hatte er den Laufpass gegeben, weil sie »zu eigensinnig« gewesen war.6 Neal hatte das Gefühl, dass Armstrong sich niemals mit Ferrari getroffen hätte, wenn er noch mit Overgaag zusammen gewesen wäre. Doch im Spätsommer 1995 wies Armstrong seinen Freund und Assistenten Neal an, Overgaags Sachen aus der Wohnung in Como wegzuschaffen, um Platz für Miss Hawaiian Tropic zu schaffen, die allerdings auch schon nicht mehr uneingeschränkt willkommen zu sein schien.

Ferraris im Untergeschoss seines Privathauses in Bologna untergebrachte Arztpraxis war ein Durcheinander von Kabeln, Reagenzgläsern, Fahrrädern und Gerätschaften. Armstrong hatte Informationen über einige von Ferraris Kunden eingezogen,7 unter anderem über Eddy Merckx’ Sohn Axel. Axel Merckx war auf dem Rad plötzlich schneller unterwegs als je zuvor, und Armstrong hatte ihn gefragt, ob er ein Geheimnis habe. Offensichtlich bejahte der junge Merckx die Frage.8

Ferrari, ein großer, hagerer Mann mit schütterem Haar und vogelartigen Gesichtszügen, hatte an der Universität Ferrara bei Francesco Conconi studiert, einem Biochemiker, der als Großmeister der italienischen Sportmedizin galt. Conconi, ein ehemaliges Mitglied der Antidopingkommission des Internationalen Olympischen Komitees, war beim Thema EPO bestens informiert. Das IOC hatte ihm für die Forschungsarbeit zur Entwicklung einer Nachweismethode eine stattliche Summe bezahlt.9 Aber er trieb ein doppeltes Spiel. Noch während er im Auftrag des IOC an einer Nachweismethode arbeitete, versorgte er italienische Skilangläufer und Radsportler mit EPO. Ferrari lernte von Conconi, und Armstrong wollte jetzt Ferraris Schüler mit dem optimalen Hämatokritwert sein. Nach der Untersuchung lobte Ferrari Armstrong als »erstaunlich, wirklich erstaunlich«.10 Eine Verbesserung sei jedoch möglich, wenn er seinen Ratschlägen und Trainingsplänen genau folge und nicht davon abweiche. »Ich werde Sie trainieren«, sagte er, »und gemeinsam können wir Großartiges erreichen«.

Ferrari berechnete Armstrong 10 000 Dollar für die Beratung und verlangte zehn Prozent seines Gehalts.11 Und Armstrong, der sein Geld zusammenhielt, als ob er so mittellos wäre, wie seine Mutter ihre ehemaligen Lebensumstände schilderte, war der Ansicht, die Abmachung lohne sich angesichts seiner späteren Verdienstmöglichkeiten, und schlug ein. Der Arzt und der Radrennfahrer mussten ihre Beziehung geheim halten, weil die italienische Justiz damals wegen Sportbetrugs und Dopingvorwürfen gegen Ferrari ermittelte.12 Dieser nahm nur Bargeld und hielt kaum etwas schriftlich fest, sodass er lediglich eine sehr kleine Aktenspur hinterließ. Im Lauf der Zeit sollte Ferrari sich jedoch Nachlässigkeiten beim Einhalten der eigenen Regeln erlauben.

Auf der Rückfahrt nach Como war Armstrong bester Laune und plauderte unablässig darüber, wie seine Karriere mit Ferraris Trainings- und Dopinghilfe abheben würde.13 (Ferrari bestreitet bis heute, irgendeinen seiner Fahrer gedopt zu haben.) Buck wollte nur über ihre zweistündige Einkaufstour reden, die sie mit Neal unternommen hatte, um sich die Zeit zu verkürzen, bis Ferrari und Armstrong mit ihrer Besprechung fertig waren. In einer Art einsamer Melancholie erkannte Neal, dass Armstrong keinerlei Schuldgefühle empfand. Neal hatte den Eindruck, dass Armstrong den Besuch, den sie vor Kurzem der Familie von Fabio Casartelli abgestattet hatten, Armstrongs Motorola-Teamkollege, der bei der Tour 1995 durch einen Unfall ums Leben gekommen war, bereits vollkommen vergessen hatte. Armstrong hatte Casartellis kleinen Sohn auf den Armen gehalten und die Witwe umarmt.

Casartelli war am 18. Juli 1995 auf der 15. Tour-Etappe bei einem Sturz von sechs Fahrern mit dem Kopf gegen eine Straßenbefestigung aus Beton geprallt und dabei so schwer verletzt worden, dass er wenige Stunden später im Krankenhaus von Tarbes in den Pyrenäen starb. Max Testa, der angeblich die Dopingpraxis im Motorola-Team überwachte,14 soll den französischen Gerichtsmediziner dazu gebracht haben, auf eine Autopsie zu verzichten, da die Todesursache offensichtlich sei.15

Armstrong schrieb später, dass er an dem Tag an dem Casartelli starb, gelernt habe, was es bedeute, die Tour zu fahren. »Die Tour ist nicht nur ein großes Rennen, keineswegs«, heißt es in seinem Buch Tour des Lebens. »Sie ist eine Prüfung. Sie ist eine Feuerprobe für Körper und Geist und auch für die Moral. Das hatte ich jetzt verstanden. Es gab keinen einfacheren Weg, begriff ich.«16

Keinen einfacheren Weg – sofern man eine geheime Abmachung mit dem so berühmtesten wie berüchtigtsten Dopingarzt in Europa nicht als einfacheren Weg betrachtet.

Armstrong führte von Austin aus stundenlange Telefongespräche mit Ferrari. Er nahm Trainingstipps entgegen und löcherte ihn mit Fragen. Einmal pro Woche sprang in Neals Büro mitten in der Nacht das Faxgerät an und spuckte Ferraris Training- und Dopingkalender aus: Der Arzt teilte mit, zu welchem Zeitpunkt EPO, Wachstumshormon oder Testosteron eingenommen werden mussten, um positive Testergebnisse zu vermeiden.17 Ein großer Teil der Öffentlichkeit ging davon aus, Chris Carmichael sei allein für Armstrongs Rennvorbereitung verantwortlich, aber diese Beziehung war nur ein Deckmantel.18 Carmichael gibt das keineswegs zu. Im Jahr 2006 sagte er mir, er sei Armstrongs Haupttrainer, und in jüngerer Zeit reagierte er nicht mehr auf verschiedene Anrufe und E-Mails von mir, in denen er um eine Stellungnahme gebeten wurde.

Armstrong hatte verschiedene Methoden, um an die Dopingmittel zu kommen. Er brachte Teamkollegen dazu, sie in Apotheken in der Schweiz für ihn zu kaufen, oder er fuhr selbst dorthin. Der Soigneur Hendershot beschaffte Dopingmittel über seine Schwarzmarktquellen. Was immer sie tun und wie viel sie dafür riskieren mussten: Die Siege machten alles zu einem lohnenden Unterfangen.

Armstrongs inoffizieller Geschäftsführer Neal konnte im Jahr 1995 die Vertragsgeschäfte seines Schützlings nicht mehr alleine abwickeln. Unternehmen wollten Armstrong-Sammelkarten herstellen. Andere wollten Werbeverträge abschließen. Armstrong ständig im Auge zu behalten, war unter diesen Umständen nahezu unmöglich. Neal brauchte Hilfe. Damit schlug die Stunde von Bill Stapleton. Stapleton, ein ehemaliger Olympiateilnehmer im Schwimmen, der an der University of Texas Wettkampfsport betrieben hatte, war bei der Anwaltskanzlei Brown McCarroll in Austin für die noch junge Abteilung Sport verantwortlich und brauchte Klienten. Er brauchte Armstrong.

Als dieser im Frühjahr 1995 Kontakt zu ihm aufnahm, versprach Stapleton, er werde ihn mit persönlicher Aufmerksamkeit überschütten, und bot einen niedrigen Provisionssatz an: 15 Prozent von Armstrongs Werbeeinnahmen.19 Andere Agenten, unter anderem der bekannte Superagent Leigh Steinberg, hatten 20 Prozent verlangt. Stapleton lud Armstrong auf ein Bier ein, um ihn zu umwerben. »Sie werden ein großer Fisch in einem kleinen Teich sein«, sagte Stapleton. »Es wird keinen unbeantworteten Anruf von Ihrer Seite geben. Meine Welt wird sich um Sie drehen.« »Sie werden für alle Fragen ansprechbar sein, wann immer ich Sie brauche?«, wollte Armstrong wissen. »Ja, für alles, jederzeit.« »Für alles?« »Ja, für alles, unbedingt.« Genau das wollte Armstrong hören. Es gefiel ihm, wenn er unter allen Anwesenden die wichtigste Person war.

In der Heimat ging gerade Linda Armstrongs dritte Ehe in die Brüche, weil ihr Ehemann John Walling zu viel trank und seinen Pflichten am Arbeitsplatz nicht nachkam.20 Neal war der Ansicht, Armstrong sollte seiner Mutter finanziell aushelfen, aber der lehnte diesen Vorschlag ab.21 Armstrong hatte aus irgendeinem, Neal nicht bekannten Grund einen wachsenden Zorn auf seine Mutter entwickelt,22 die lange seine engste Verbündete und die Schöpferin und Erhalterin der fantastischen Legende gewesen war, die die Radsportwelt so begierig aufgegriffen hatte. Jetzt wollte er nichts mehr mit ihr zu tun haben. Armstrong hatte sich 1994 in Austin für rund 240 000 Dollar ein Anwesen gekauft und hätte das eigentlich über seine Mutter, eine Immobilienmaklerin, abwickeln können, um ihr einen Teil der Provision zukommen zu lassen. Doch das tat er nicht.23

Die Beziehung zwischen Mutter und Sohn war so nachhaltig gestört, dass Neal und Linda ihn dazu bewegen wollten, einen Sportpsychologen mit dem Ziel aufzusuchen, diese Wut aufs Radfahren umzulenken. Aber auch diesem Vorschlag kam er nicht nach. Das war ein Armstrong, den Neal weder kannte noch mochte. Er sah mit Sorge, dass Armstrong zwischenmenschliche Beziehungen nur noch mit dem Gedanken aufnahm: »Was kannst du für mich tun?« Im Vorjahr waren Linda Armstrong und Neal nach Minneapolis geflogen, um bei Greg und Kathy LeMond Ratschläge für die Verhandlungen um Lance’ Verträge einzuholen.24 Am Küchentisch der LeMonds, die in einem Haus am See wohnten, kam auch die Frage auf, wie das Ego des jungen Mannes im Zaum zu halten sei. »Wie bringe ich Lance dazu, dass er weniger auf sich selbst bezogen ist und sich auch um andere Menschen Gedanken macht?«, fragte Linda.25 Die LeMonds wussten nicht, was sie dazu sagen sollten. Einige Sekunden lang herrschte betretenes Schweigen. Hatten sie richtig gehört? Sagte Linda Armstrong zu ihnen, dass ihr Sohn keinerlei Einfühlungsvermögen besaß? Dass er außer Kontrolle geraten war? Sie gewannen den Eindruck, dass Linda große Angst um Lance hatte, blieben aber bei geschäftlichen Ratschlägen: Behalten Sie ihn im Auge, lassen Sie ihn nicht vom Kurs abkommen, wählen Sie seine Partner sorgfältig aus.

Zwei Jahre, nachdem das Gewiss-Team beim Flèche Wallonne groß aufgetrumpft und der Fachwelt den Gedanken nahegelegt hatte, dass seine Fahrer – unter der Aufsicht und Anleitung des Mannschaftsarztes Ferrari – dopten, stand Armstrong ganz oben auf dem Siegertreppchen. Er war der erste Amerikaner, der den berühmten Frühjahrsklassiker gewann. Außerdem wiederholte er 1996 seinen Sieg bei der Tour DuPont. Bei der Radfernfahrt Paris – Nizza, einem einwöchigen Etappenrennen, wurde er Zweiter, und er verbesserte seine Fähigkeiten als Sprinter und Zeitfahrer. Alles, was noch zu tun blieb, um auch in den Kreis der Anwärter auf den Gesamtsieg bei der Tour de France aufgenommen zu werden, war, seine Leistungen als Bergfahrer zu steigern.

Aber je weiter der Sommer voranschritt, desto langsamer wurde Armstrong. Aus der Tour stieg er schon nach fünf Tagen aus und begründete dies mit einer Halsentzündung und Bronchitis. »Ich bekam keine Luft«, sagte er zu Reportern.26 Auch Neal hatte das Gefühl, nicht auf dem Damm zu sein. Der Grund dafür war bald klar: Neal hatte Krebs. Die Ärzte diagnostizierten ein multiples Myelom, eine seltene Krebserkrankung der im Knochenmark gebildeten, zum Immunsystem des Körpers gehörenden Plasmazellen, durch die auch die Bildung gesunder roter Blutkörperchen gehemmt wird. Die Nachricht zog Armstrong förmlich den Boden unter den Füßen weg. Die Ärzte gaben Neal eine Lebenserwartung von nur noch zwei Jahren.27

Der von der Krankheit geschwächte Neal fuhr dennoch mit Armstrong zu den Olympischen Spielen nach Atlanta. Eine elektrische Pumpe beförderte die Chemotherapie-Medikamente in seinen Brustkorb. Er schlief auf dem Fußboden des Hauses, das Armstrong für die Dauer der Spiele gemietet hatte. »Er brauchte es, um Privatsphäre zu haben«, sagte Neal über das Haus. »Er brauchte es für all die verdammten Spritzen, die er bekam. Privatsphäre war notwendig, weil die anderen Fahrer nicht mit im Dopingprogramm waren. Sie bekamen keine Spritzen. Im Schlafzimmer sah es aus wie in einer Apotheke.«28 Neal beobachtete, wie Hendershot mit einer Tasche ins Haus kam, die mit Ampullen, Spritzen und Infusionsbeuteln gefüllt war. Der Betreuer bemühte sich so intensiv um Armstrong, als wäre er der Krebspatient.29 Neal sah, dass Armstrong vor und nach den Rennen Infusionen von Hendershot erhielt. Armstrong nahm damals bereits Testosteron, Wachstumshormon und EPO,30 aber Neal war nicht sicher, welche Substanzen Armstrong bei diesen Sommerspielen erhielt. Armstrong selbst äußert sich nicht dazu, ob er bei diesen Olympischen Spielen oder zur Vorbereitung auf sie verbotene Substanzen eingenommen hat. Hendershot gab auf eine entsprechende Nachfrage an, er könne sich nicht mehr an die genauen Substanzen erinnern, die Armstrong bei diesen Spielen zu sich genommen habe, sagte aber: »Ich wäre ziemlich überrascht, wenn er keine« verbotenen Mittel eingenommen hätte.

Hendershot erzählte mir, es sei damals üblich gewesen, den Fahrern unterschiedliche Cocktails aus Steroiden und EPO zu verabreichen und ihnen zur Blutverdünnung außerdem Aspirin oder andere im Arzneimittelhandel erhältliche Blutverdünner zu geben, um sicherzugehen, dass ihr Blut nicht verschlammte. Was auch immer Hendershot bei diesen Olympischen Spielen an Armstrong weitergab: Es sorgte nicht für sportliche Wunder. Im Straßenrennen kam Armstrong auf Platz zwölf, beim Zeitfahren wurde er Sechster. In beiden Disziplinen hatte er zu kämpfen und fühlte sich dabei auf eine unerklärliche Art benommen. Bei den Profis beendete Armstrong diese Saison auf dem siebten Platz der Weltrangliste, was genügte, um sich einen lukrativen Zweijahresvertrag beim angesehenen französischen Team Cofidis zu sichern. Sein Gehalt lag bei 2,5 Millionen Dollar. Er hatte sogar ausgehandelt, dass er Hendershot als persönlichen Betreuer mit ins Team bringen durfte.31 Ein Privileg, dass die Teamleitungen nur absoluten Spitzenfahrern zugestanden.

Zu diesem Zeitpunkt hatte Armstrong bereits eine ganze Reihe von Sponsoren, zu denen unter anderem Nike, Giro, Oakley und Milton Bradley zählten. Sein Bankkonto schwoll mächtig an. Stapleton sagte, Armstrong sei ein sehr wohlhabender junger Mann gewesen, der in jenem Jahr nach seiner Schätzung zwischen zwei und drei Millionen Dollar verdiente.

Für Armstrong war es an der Zeit, erwachsen zu werden. Er zog aus der Wohnung aus, die er sieben Jahre lang von Neal gemietet hatte, und bezog ein Junggesellen-Domizil, das seinen Einkünften entsprach. Er baute sich ein 460-Quadratmeter-Haus am Lake Austin mit Swimming- und Whirlpool, zwei Bootsanlegern und 29 Palmen. Sein geliebter 70 000 Dollar Acura NSX wurde durch ein sehr viel cooleres Spielzeugsortiment ersetzt: durch einen 100 000 Dollar teuren Porsche 911, ein Harley-Davidson-Motorrad, einen Jetski und ein Rennboot. Zu seinem 25. Geburtstag schmiss er eine glanzvolle Party in seinem neuen Zuhause. Aber irgendetwas stimmte nicht.

Bei seiner Rückkehr aus Europa fühlte er sich schwach, als hätte er eine Grippe mitgebracht. Sein Kopfweh widerstand auch einer Handvoll Ibuprofen-Tabletten und manchmal sogar drei Migräne-Pillen. An seinem Geburtstag schob er das auf zu viele Margaritas, aber ein paar Tage danach hustete er Blut. Sein Hausarzt vermutete, die Blutung komme aus den Nebenhöhlen und werde von Allergien ausgelöst. Armstrong und Neal aßen am 2. Oktober 1996 in ihrer Stammkneipe »The Tavern« zu Mittag.32 Danach fuhren sie zu einer Mall, um für Neal ein Paar Schuhe zu kaufen. Diesmal klagte Armstrong über Magenschmerzen. »Ich kann kaum gehen«, sagte Armstrong und krümmte sich dabei vor Schmerzen. Neal meinte, die Einschätzung des Arztes, der eine Allergie-Attacke vermutet hatte, könne nicht stimmen. Er warnte Armstrong, die Sache nicht auf die leichte Schulter zu nehmen. Besser sei es, einen zweiten Arzt aufzusuchen. Neal rief für ihn bei diesem Arzt an. Noch vor drei Uhr nachmittags war Armstrong in der Praxis, Neal saß zu Hause und wartete.

Der Arzt untersuchte Armstrong mit einem Ultraschallgerät, röntgte seinen Brustkorb und teilte ihm anschließend die schlechte Nachricht mit. »Also, die Lage ist ernst«, sagte Dr. Jim Reeves. »Sieht aus wie Hodenkrebs mit ausgedehnten Metastasen in der Lunge.«33 Zwischen 17.30 Uhr und 17.45 Uhr klingelte Neals Handy. Armstrong war am Apparat.34 »Ich habe Hodenkrebs«, sagte er. »Ich weiß nicht, was ich tun soll.« Armstrong war verzweifelt, Neal war geschockt. Jetzt hatten sie beide Krebs. Innerhalb weniger Tage stellten die Ärzte fest, dass Armstrong bereits Metastasen im Bauchraum und im Gehirn hatte. Zum Monatsende wurde er zur Entfernung der Tumore ins Krebszentrum der Indiana University in Indianapolis eingeliefert. Seine Überlebenschancen waren nach Einschätzung der Ärzte geringer als 50 Prozent.

Die Nachricht machte alle nervös. Ferrari war besorgt, dass die Mittel, zu deren Einnahme er Armstrong ermuntert hatte, den Krebs ausgelöst oder seine Ausbreitung beschleunigt hatten.35 Doch Armstrong glaubte nicht an diese Theorie. Wenn man vom Doping Krebs bekam, hätten auch viele andere Fahrer tot umfallen müssen. Lediglich die Einnahme des Wachstumshormons bereute er. »Das war schlecht. Möglicherweise hat sich der Krebs deshalb schneller ausgebreitet«, sagte er zu Freunden.36 Er behauptet, dieses Hormon nie wieder eingenommen zu haben.

Dennoch fragten sich Insider wie Ferrari, ob sich Armstrong nicht selbst schweren Schaden zugefügt hatte. Das galt vor allem für Hendershot, dessen erster Gedanke nach eigenen Angaben war: »Was habe ich getan?« All die Spritzen, Mischungen, Gebräue und Verschleierungsmittel, die er Armstrong im Lauf von mehr als drei Jahren gespritzt hatte, mussten irgendetwas mit dem Krebs zu tun haben.37 »Man muss schon zu einer gewaltigen Selbsttäuschung bereit sein «, sagte mir der Soigneur, »um denken zu können, dass das keinen Einfluss hatte. Es bedeutete auf jeden Fall, dass er sich selbst einem größeren Risiko aussetzte.« Armstrong starb vielleicht, und die Vorstellung, mit der Last leben zu müssen, machte Hendershot große Angst. »Ich fühlte mich nicht schuldig«, sagt Hendershot heute. »Ich fühlte mich wie ein Komplize.« Aber alle wussten, dass Armstrong dopte, fügte Hendershot hinzu. Die Fahrer. Die Mannschaftsleitung. Die Betreuer. Die Burschen, die die Räder wuschen.38 Sie alle wussten Bescheid. Und niemand stoppte diesen Wahnsinn, Hendershot ganz bestimmt nicht. Er und seine Frau taten das Einzige, was ihnen eine gewisse Erleichterung verschaffte: Sie warfen seinen Vorrat an Dopingmitteln weg. Sie packten ihre persönliche Habe. Sie stiegen aus dem Radsport aus. Hendershot rief Armstrong niemals an, um sich nach dessen Krebserkrankung zu erkundigen.39 Er rief ihn überhaupt nie wieder an. Hendershot verschwand einfach.

Lance Armstrong

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