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Kapitel 2

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Der Nachname ist alles, was von Terry Armstrong geblieben ist. Linda entfernte Terry aus ihrem Leben, so wie sie auch die Erinnerung an Eddie Gunderson beseitigt hatte. Aus den Scheidungsakten geht hervor, dass sie 14 Jahre lang verheiratet waren, bis Lance knapp 17 Jahre alt war. Linda stellt sich jedoch nach wie vor als Mutter dar, die ihren Sohn allein aufgezogen hat.

In ihren Vorträgen als Motivations-Expertin – die ihr pro Auftritt bis zu 20 000 Dollar einbringen1 – fällt kaum ein Wort über Terrys Anteil an Lance’ Leben. (Einige Zeitungen zitierten sie mit der Aussage, sie sei verheiratet gewesen, bis Lance 13 Jahre alt war.2 Ein Interview für dieses Buch lehnte sie ab.) In ihrer Autobiografie erwähnt sie Terrys Namen kein einziges Mal. Sie bezeichnet ihn als »den Handelsvertreter« oder »Vertreter«. Der günstigsten Äußerung über ihn in diesem Buch ist zu entnehmen: »Ja, der Vertreter betreute Lance’ Little-League-Mannschaft. Für diesen Einsatz verdient er etwas Anerkennung, aber ich weiß nicht, ob es ihm selbst etwas bedeutete. Lance war nicht der heranwachsende Baseballstar, den der Vertreter gerne gehabt hätte.«3 In Wirklichkeit hätte sich Terry Armstrong nicht stärker von Eddie Gunderson unterscheiden können. Der eine war der coole böse Bube mit dem Pontiac GTO gewesen, der sich spätabends lieber in R&B-Klubs herumtrieb, statt bei seiner Frau und dem Neugeborenen zu sein. Der andere war der 22 Jahre alte Sohn eines Geistlichen, ein Kirchgänger mit einer festen Arbeit und dem dringenden Wunsch, Vater zu sein.

Er war Lebensmittel-Großhändler und verkaufte Grillfleisch und Corn Dogs an Schulen und Unternehmen. Linda Mooneyham Gunderson lernte er in einem Autohaus kennen und war von der cleveren, schwungvollen Brünetten sofort hingerissen. Er sah aus wie ein Typ, der ein Auto bar bezahlen kann – auch eine Art, gut auszusehen. Sie wurden ein festes Paar, und schon bald kam es zu einem Heiratsantrag. Terry heiratete mit Linda in die Rolle ein, die er sich schon immer gewünscht hatte: Vater eines Sohnes zu sein. Linda hatte in Terry einen soliden und zuverlässigen Ernährer gefunden.

Nach den Scheidungsakten und nach Terrys eigener Auskunft hatte die Ehe während des größten Teils der für die Entwicklung des Jungen prägenden Jahre Bestand – von seinem zweiten bis zum sechzehnten Lebensjahr. Lance lernte während dieser Zeit, sich auf seine inzwischen bekannte Art mit anderen zu messen: im Stil eines reizbaren, großspurigen Schlägers. Beide, Vater und Sohn, entwickelten einen starken Ehrgeiz, der sich oft in Rücksichtslosigkeit verwandelte. Lance spürte es an der Art, wie Terry seine Football-Mannschaften coachte und ihn bei seinen ersten Schritten im Radrennsport beriet. Terry konnte fordernd auftreten, vor allem dann, wenn der Sohn seine Erwartungen nicht erfüllte. Bei seinem ersten BMX-Rennen stürzte Lance und fing an zu weinen. Terry kam zu ihm und sagte: »Das war’s, wir gehen nach Hause.« Dann schnappte er sich Lance’ Rad. »Wir sind hier fertig. Kein Kind, das meinen Namen trägt, gibt einen Wettkampf auf.« Der auf diese Art ermahnte – oder eingeschüchterte – Lance stieg wieder aufs Rad und trat zu einem anderen Rennen an. Terry hielt das für einen Beweis für die Zähigkeit seines Sohnes.

Als Sieben- und Achtjähriger spielte Lance für die Oilers, ein Team in der YMCA-Tackle-Football-Liga in Garland in Texas. Terry Armstrong war einer der Trainer. Bei der ersten Übungseinheit versammelte Terry die Spieler und deren Väter um sich. »Ich möchte Ihnen sagen, welche Art von Football-Team wir hier haben wollen«, sagte er. »Wenn Ihr Junge nicht gut ist, spielt er auch nicht. Es genügt nicht, einfach nur da zu sein und auf dem Platz herumzurennen. Wir wollen gewinnen.« Er verstieß gegen die Wettkampfbestimmungen in dieser Liga, indem er Videoaufnahmen von Trainingseinheiten anderer Mannschaften machte, um sich einen Vorteil zu verschaffen, und nach der Schule in seinem Garten Sondertrainings abhielt. Seine Vorstellung von einer Gutenachtgeschichte für Lance war ein abgegriffenes altes Exemplar einer Brandrede von Vince Lombardi über Sieger und Verlierer. Einmal sprach er eine ganze Woche lang nicht mit Lance, weil dieser sich seiner Ansicht nach im vierten Spielabschnitt eines Football-Spiels hatte gehen lassen. Wenn Lance sich zum Essen an den Tisch setzte, sagte er: »Du bist ein Verlierertyp, du hast dich nicht angestrengt.« Unterdessen blieb seine aus Achtjährigen bestehende Mannschaft elf Spiele lang ungeschlagen.

Terry und Linda waren niemals ein perfektes Paar. Beide behaupten nicht, jemals bis über beide Ohren verliebt gewesen zu sein, sie sagen auch nicht, dass Liebe die Grundlage ihrer Verbindung gewesen sei. Und sie erinnern sich nicht an Einzelheiten ihrer Hochzeit, Linda nicht in ihrem Buch und Terry nicht in Interviews.

Mehrere Freunde von Lance aus Kinder- und Jugendtagen berichten, seine Mutter sei ihm eher Freundin als Elternteil gewesen. Sie erinnern sich, wie Lance seine Mutter bat, sich herauszuputzen, denn sie sollte in der Limousine mitfahren, die er für den Highschool-Abschlussball gemietet hatte. Auf diese Weise kam ein eigenartiges Trio zustande – Lance, seine Prom-Partnerin und seine Mutter. Lance’ Freunde und einige seiner ehemaligen Trainer sagen, Linda habe einen nachgiebigen Erziehungsstil gepflegt und ihrem Sohn jeden Wunsch erfüllt. (Ein Beispiel: Er selbst fuhr mit dem Auto alleine zu seiner Führerscheinprüfung.)4 Terry Armstrong wurde deshalb nach eigener Auskunft automatisch zum Zuchtmeister. Wenn Lance nicht gehorchte oder Widerworte gab – beides kam häufig vor –, gab es bei Terry eine feste Prozedur. Er wartete, bis Linda nach Hause kam. Dann griff er zu seinem Fraternity-Paddle, befahl Lance: »Fass dir an die Knöchel« und versohlte dem jungen Mann den Hintern.5 Wenn Lance sein Zimmer nicht sauber hielt – und dafür genügte nach den Vorschriften der Kemper Military School in Boonville, Missouri, an der Terry einst von anderen Kadetten in eine Decke gewickelt und übel durchgeprügelt worden war, schon eine herumliegende Socke –, verabreichte ihm Terry zwei Hiebe. Widerworte? Zwei Hiebe. Lance bezeichnete diese Züchtigungen viele Jahre später als traumatisch und sagte, der Schmerz sei eher seelischer als körperlicher Natur gewesen. Terry und Linda stritten sich oft wegen Lance’ Schularbeiten. Terry erinnert sich: »Ich sagte immer: ›Du kannst nicht aus dem Haus gehen, bevor du deine Schularbeiten gemacht hast‹, und sie antwortete dann: ›Er ist mein Sohn, und ich bestimme die Regeln.‹ Wenn ich nach dem Zeugnis fragte, sagte sie: ›Ich erledige das, er ist mein Sohn.‹«

Ein möglicherweise zwangsläufiges Ergebnis der elterlichen Streitigkeiten war, dass Lance zu einem zornigen, aggressiven Kind wurde. Klassenkameraden aus der Mittelschule6 berichteten, er sei ein klassischer Schlägertyp gewesen, »er suchte sich Leute aus, die verletzlich waren, und die schikanierte er Tag für Tag«. Immer schien er gegen irgendetwas oder irgendjemanden zu kämpfen. Auch nach dem Übergang auf die Highschool blieb Armstrong ein Außenseiter, ein eher kleinwüchsiger, gewiefter Junge mit dichtem Haar und einer Tolle, die von keinem Kamm und keiner Bürste zu bändigen war. Beim Sport war er arrogant, aber in sozialen Situationen war er weniger selbstsicher, und das lag zumindest teilweise daran, dass er das Footballspielen aufgegeben hatte. Man lebte schließlich in Texas, wo Football im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses stand. Terry Armstrong sagt, sein Sohn habe Football in der Mittelschule aufgegeben, weil er Wutanfälle bekam, wenn Mannschaftskameraden versagten. Ihn reizten Individualsportarten wie Laufen und Schwimmen, die er alleine betreiben und bei denen er das Ergebnis selbst bestimmen konnte. Auf diesem Gebiet war er ein Naturtalent, und sein Vater trieb ihn an, weil er dachte, mit seinen schulischen Leistungen würde Lance es nicht aufs College schaffen. »Eine Sache werde ich immer über meinen Sohn sagen, und ich liebe ihn nach wie vor über alles, aber er ist keiner von den Schlausten«, meint Terry. »Für die Schule fehlte es ihm an Disziplin. Das ist einer der Gründe dafür, warum ich ihn im Sport so hart antrieb. Ich wusste, der Sport würde sein Weg werden. Er war faul. Er wollte nicht lernen. Er wollte laufen. Er wollte Fahrrad fahren. Er wollte spielen.«

Terry achtete darauf, dass es Lance beim Sport und bei anderen außerschulischen Aktivitäten an nichts fehlte. Beim Baseball hatte er den besten Fanghandschuh. Er besaß ein nagelneues Schlagzeug. Ein erstklassiges Fahrrad. Ein rotes Fiat Cabrio. »Lance bekam alles, was er wollte«, sagt Armstrongs Nachbar und enger Freund Adam Wilk.

Lance trainierte mit einer kleinen Clique von Freunden, von denen mehrere später ebenfalls Spitzenathleten wurden, wie zum Beispiel Chann McRae, der später gemeinsam mit Armstrong für das Postal-Service-Team fuhr. Diese jungen Athleten hatten den größten Spaß daran, sich gegenseitig zu besseren Leistungen anzutreiben, aber Lance bezog seine Freude am Sport nicht aus knappen Siegen bei Wettkämpfen. Er musste seine Gegner demütigen. Wilk erinnert sich, wie Lance einmal sagte: »Bist du ein Mädchen? Du bist ein elender Schlappschwanz. Du nervst. Warum bist du überhaupt angetreten?« Linda war stolz auf Lance’ sportliche Erfolge, daran änderten die schlechten schulischen Leistungen nichts.7 Wilk sagt: »Wenn der Sport nicht gewesen wäre, würde man rückblickend sagen, dass Linda bei Lance’ Erziehung gründlich versagt hat.« Wilk kann sich nicht vorstellen, was Armstrong ohne seine sportliche Begabung wohl aus seinem Leben gemacht hätte. »Ein straffälliger Jugendlicher, vielleicht wäre er im Gefängnis gelandet«, meint er. »Ich kann mich bei ihm nicht an irgendwelche andere Interessen erinnern. Er war aufs Gewinnen fixiert, und meiner Ansicht nach ist er das heute noch.«

Lance Armstrong war 14 Jahre alt, als er von Terrys heimlichem Liebesleben erfuhr.8 Die beiden waren auf dem Weg zu einem Schwimmwettkampf in San Antonio. Der Junge beobachtete, wie Terry etwas aufschrieb und das Papier anschließend zerknüllte und wegwarf. In einem unbeobachteten Moment holte er das weggeworfene Blatt aus dem Mülleimer und las den Anfang eines Liebesbriefes seines Vaters an eine Geliebte. Seiner Mutter erzählte er nichts davon, um ihr den Schmerz zu ersparen. Aber Terry wurde für ihn zu einem Feind, den es zu vernichten galt – zu einem weiteren verlorenen Vater.

Armstrong fand schnell Ersatz: Rick Crawford, einen professionellen Triathleten. Crawford wusste nichts von dieser Vorgeschichte, als er dem 14 Jahre alten Armstrong in einem Schwimmbad in Dallas zum ersten Mal begegnete. Sie trainierten auf benachbarten Bahnen. Armstrong legte es darauf an, den Älteren zu besiegen. Crawford war beeindruckt. Er ist sich heute nicht mehr sicher, wie das genau vor sich ging, aber er – der zwölf Jahre Ältere, der bis dahin noch nie als Trainer gearbeitet hatte – half Armstrong, seine Triathlon-Karriere zu starten. Der junge Mann entwickelte sich schnell zu einem Star in dieser Randsportart, er wurde zu einem Sportler, den die Veranstalter bei ihren Wettbewerben dabeihaben wollten. Sie vermarkteten ihn als Wunderknaben, als einen Jungen, der es mit den besten Athleten in dieser Sportart aufnehmen konnte. Crawford staunte darüber, wie schnell Armstrong herausragende Leistungen zeigte. Auf der nationalen Rangliste kletterte er zügig nach oben, berichtet Crawford, er rutschte durch, »wie die Scheiße durch eine Gans«. Anderthalb Jahre lang trainierten sie gemeinsam.

Crawford erzählt, Armstrongs Kampfbereitschaft habe ihn beeindruckt. Bei Rennen bekam er mit, wie der Junge zu Konkurrenten sagte: »Ich bring dich um. Du bist ein Jammerlappen.« Er sagte solche Sachen am Start und im Ziel. Crawford erinnert sich, wie er ihn damals ermahnte: »Lance, tu das nicht. Das ist nicht in Ordnung. Lass lieber die Beine sprechen, Kumpel.« Bei Trainingsfahrten musste Crawford auf Armstrong aufpassen, weil dieser jedes Auto als Gegner empfand. Er war außerordentlich aggressiv, jagte Autofahrern nach, die ihm zu nahe gekommen waren, um sie zu beschimpfen und zu bedrohen. Und er zügelte seine Emotionen für niemanden. Crawford fiel auf, dass das ganz besonders dann zutraf, wenn es um den Umgang mit Armstrongs Vater ging.

Zunächst fand Crawford an den Lebensumständen der Familie Armstrong in Los Rios, einem gediegenen Mittelschichtviertel von Plano, nichts Ungewöhnliches. Die Familie lebte in einem schlichten Ziegelsteinbau im Ranch-Stil: drei Schlafräume, 140 Quadratmeter Wohnfläche, ein Rasenstück, ein paar grüne Sträucher. Dann bekam Crawford die ersten Geschichten Armstrongs über seine familiären Probleme zu hören. Er hörte von einem Boxkampf, den Lance und sein Vater miteinander ausgetragen hatten und bei dem ein gläserner Kaffeetisch zu Bruch gegangen war. »Er wurde angestachelt, den bösen Buben heraushängen zu lassen«, sagt Crawford. Freunde der Familie erlebten jetzt einen Teenager, der außer Kontrolle geraten war.

Während Linda und Terry Armstrong zu Hause stritten, verbrachte Crawford viel Zeit mit ihrem Sohn, trainierte und reiste mit ihm zu Wettkämpfen, die für sie beide aufgrund ihrer guten Leistungen mit Freiflügen und komfortablen Hotelzimmern verbunden waren. Auch das war eine Lernerfahrung. Am Abend vor einem Triathlon in Bermuda »borgte« sich Armstrong einen von Crawford angemieteten Motorroller und gab das Fahrzeug erst mehrere Stunden nach Ablauf der Leihfrist zurück. Ein anderes Mal zerbrach er in einem Bungalow, in dem sie zusammen mit anderen Triathleten untergebracht waren, Gläser und Flaschen, als er zu einem Kricketschläger griff und damit einen Ball in die Hausbar pfefferte. Crawford hatte genug. Er war es leid, die Erziehung dieses Jungen zu übernehmen, dessen Eltern seiner Ansicht nach versagten. Er drückte Armstrong gegen eine Wand und knurrte: »Das reicht jetzt, Junge.« »Verpiss dich«, gab Armstrong zurück, »du bist nicht mein Vater! Sprich mich nie wieder an!«9 Er verbannte Crawford aus seinem Leben, so wie zuvor seinen leiblichen Vater und auch Terry Armstrong. »Man konnte ihm, glaube ich, keinen Vorwurf machen«, sagt Crawford heute. »Er stieg bereits in Fünf-Sterne-Hotels ab, und es gab Leute, die ihn verehrten.« Im Rückblick bezeichnet er Armstrongs Verhalten als ödipal. Die meisten Vaterfiguren in seinem Leben seien für Lance letztlich zu Schurken geworden, und alle Mädchen, mit denen er jemals ausgegangen sei, hätten genau wie seine Mutter ausgesehen.

Armstrong wiederum nennt Crawford einen verbitterten, »verrückten und zornigen« Kerl. Er behauptet außerdem, dass Crawford anderen Sportlern beim Dopen behilflich gewesen sei. Im Jahr 2012, viele Jahre nach der Trennung von Armstrong, gab Crawford tatsächlich zu, den Profifahrern des U.S.-Postal-Service-Teams Levi Leipheimer und Kirk O’Bee leistungssteigernde Substanzen besorgt zu haben. Er erklärte, er habe das getan, weil Armstrong den Teamstandard beim Dopen vorgegeben habe. Die Fahrer seien Neuzugänge gewesen, die gehört hatten, dass Armstrong und die anderen Spitzenfahrer im Team ein ausgeklügeltes Dopingprogramm durchführten. Sie hätten mithalten wollen. Später wurde Crawford aus seinem Traineramt an der Colorado Mesa University entlassen, weil er dort angeblich einen Sportler gedopt hatte, doch er bestreitet diese Anschuldigung.10 Und Armstrongs eigenes Doping – war Crawford möglicherweise auch einem jungen Triathleten bei Regelverstößen dieser Art behilflich gewesen? »Nein«, sagt er dazu. »Ich würde niemals einen Heranwachsenden dopen.«11

Linda Armstrong hielt immer nach Leuten Ausschau, die Lance helfen konnten – da kreuzte Scott Eder ihren Weg, ein örtlicher Sportveranstalter, der für die Schuhfirma Avia arbeitete. Er begegnete Armstrong 1986 bei einem Biathlon-Wettkampf in Dallas. Armstrong gewann den Wettbewerb, Eder lieferte ihm anschließend ein Gratispaar Avias-Schuhe nach Hause und – man kann es sich denken – erreichte genau das, was er beabsichtigt hatte. Linda fragte Eder: »Können Sie auf meinen Sohn achtgeben, so etwas wie sein Agent sein?«12 Eder wurde, wie Lance das später ausdrückte, »Trainer, Agent und großer Bruder, alles in einer Person«.13

Armstrong hatte sich zu diesem Zeitpunkt bereits als ein erstaunlicher Athlet erwiesen. Bereits mit 13 Jahren gewann er seinen ersten Triathlon, einen IronKids-Wettkampf, und wurde im gleichen Jahr auch noch Zweiter bei der nationalen IronKids-Meisterschaft.14 Bereits mit 14 mischte er sich bei Erwachsenen-Wettkämpfen unters Feld, wobei Terry Armstrong ein falsches Geburtsdatum angab, damit er zugelassen wurde.15 Im darauffolgenden Jahr trat er zum zweiten Mal beim President’s Triathlon in Dallas an, einem Wettkampf, bei dem auch viele Stars dieser Sportart an den Start gingen, wie zum Beispiel Mark Allen, der es noch auf insgesamt sechs Ironman-Weltmeistertitel bringen sollte. Der 15 Jahre alte Armstrong lag nicht weit hinter den Spitzenleuten in dieser Sportart zurück. Er besiegte Allen beim Schwimmen. Auf der Fahrradstrecke des Rennens von 1987 fuhr er neben Allen, was dessen Aufmerksamkeit weckte. »Sind Sie Mark Allen?«, wollte Armstrong wissen.16 Als der so Angesprochene die Frage bejahte, blieb Armstrong fast auf der gesamten noch verbleibenden Strecke an seiner Seite. Armstrong kam als Sechster ins Ziel, machte sich mit diesem Ergebnis aber bereits einen Namen als mögliches nächstes großes Ass in dieser Sportart.17 Allen sagte später zu Jim Woodman, dem Renndirektor des President’s Triathlon, die Leistungsfähigkeit des jungen Armstrong sei ihm unheimlich. »Er konnte ihn nicht abschütteln, und das brachte ihn aus der Fassung«, berichtete Woodman. Im darauffolgenden Jahr gewann Armstrong den Wettbewerb.18 Er holte sich auch noch den texanischen Meistertitel und besiegte dabei unter anderem seinen ehemaligen Mentor Crawford. Die Zeitschrift Triathlon verkündete anschließend, Armstrong werde sich zu einem der größten Athleten in der Geschichte dieser Sportart entwickeln.19

Im Alter von 16 Jahren verdiente er bereits 20 000 Dollar pro Jahr und war Profi geworden.20 Eder fungierte als sein Reisesekretär, Wettkampf-Unterhändler, Marketingdirektor und Roadmanager. Er stellte Triathlon-Zeitpläne zusammen, zog Sponsoren an Land und übernahm die finanzielle Planung der Rennen. Eder organisierte für Armstrong auch zwei Sommer-Trainingslager in Kalifornien, bei denen er mit Spitzen-Triathleten zusammenkam. Scott Eder berichtete mir, er sei mit Armstrong insgesamt zu mehr als 25 Rennen außerhalb von Dallas gereist. Er zeigte mir die Reisepläne, die er auf der Schreibmaschine getippt hatte. Die Reisespesen – zu denen auch Aufenthalte in teuren Hotels wie dem Bermuda’s Princess gehörten – wurden oft von den Sponsoren der Veranstaltungen übernommen. Armstrong war noch Jugendlicher, wurde aber bereits wie ein Superstar behandelt. Die Armstrongs mussten für diese Auftritte keinen Penny ausgeben. Linda behauptet, sie habe ihren Sohn zu den meisten dieser Wettkämpfe begleitet, doch Eder hat das anders in Erinnerung: »Sie ging zu etwa drei dieser Veranstaltungen«, hält er dagegen.

Er nahm den Jungen als Raufbold mit einer leichten Neigung zum Verfolgungswahn wahr. Wenn man ihn auf eine Art ansah, die ihm nicht passte, sagte er schon einmal: »Verdammt, warum guckst du so blöd?« Der minderjährige Junge schlich sich in eine Kneipe, geriet dort in eine Rangelei und ging dann mit blutiger Nase und aufgeschlagenen Fingerknöcheln nach Hause.

Bei einem Triathlon-Wettkampf in Miami warf er im ersten Zorn nach einem Platten ein Kestrel-Rennrad – ein Modell aus einer der ersten Generationen mit einem Rahmen, der ganz aus kohlefaserverstärktem Kunststoff (Carbon) bestand – über mehrere Fahrspuren hinweg von sich. Der Sponsor Kestrel kündigte nach diesem Vorfall die Zusammenarbeit auf.21 Der Wutanfall beschädigte Armstrongs Vermarktbarkeit erheblich, zumal das Geschehen auch noch von Fernsehkameras festgehalten worden war.

Eder sagt, Armstrongs Beziehungen zu Vaterfiguren seien aus dem einen oder anderen Grund letztlich immer gescheitert. Er selbst musste einmal Jim Hoyt, den Eigentümer von Richardson Bike Mart, überzeugen, die finanzielle Unterstützung fortzusetzen, trotz der Launen, die der Teenager zeigte, sobald er aus dem Sattel stieg. Hoyt war einer der Wohltäter aus der Frühzeit, einer, der nahezu von Anfang an dabei gewesen war. Armstrong hatte im Alter von zwölf Jahren Hausverbot in seinem Laden bekommen, weil er Material an sich genommen hatte, das er nicht wieder zurückgab, berichtete mir Hoyt. Das zweite Mal setzte er den mittlerweile 17-Jährigen an die Luft, als er für einen Kredit zum Ankauf von Armstrongs neuem weißem Chevy Camaro IROC Z28 mit gebürgt hatte und Armstrong seine Großzügigkeit missbrauchte: Nachdem er sich eines Abends mit der Polizei eine Verfolgungsjagd geliefert hatte, ließ Armstrong den Wagen an einer Kreuzung stehen und flüchtete zu Fuß. Die Polizei stellte das Fahrzeug sicher und kam zu Hoyt nach Hause, weil es auf ihn zugelassen war. »Eine Woche danach kam dieses kleine Arschloch mit seinen Freunden zu mir und wollte das Auto abholen«, erinnert sich Hoyt, ein Vietnam-Veteran, der für seine Tapferkeit im Kampf mit einem Silver Star ausgezeichnet worden war. »Ich krempelte die Ärmel hoch und sagte: ›Komm nur her und versuch, dir die Karre zurückzuholen‹.« An Eder meldete Hoyt damals: »Dein Junge hat mich wieder reingelegt.« Hoyt sprach erst zehn Jahre später wieder mit Armstrong.

Als Lance in die Abschlussklasse der Highschool aufrückte, war Terry Armstrong fort. Linda Armstrong hatte eine seiner Geliebten ausfindig gemacht.22 (Terry sagte mir, es seien so viele gewesen, dass er sich an den Namen dieser einen nicht mehr erinnern könne.) Eines Tages kam Terry von der Arbeit nach Hause, und auf dem heimischen Sofa saßen seine Gattin und die andere Frau beisammen. »Wer sind Sie?«, fragte er die Geliebte.

Terry Armstrong verlor seine Frau und seinen Sohn. Mit dem Scheidungsurteil erhielt Linda Armstrong den Cadillac ihres Mannes ebenso zugesprochen wie den gesamten Bargeldbestand und die Pensionskonten, die auf Terrys Namen liefen. Das Haus sollte verkauft und der Erlös hälftig geteilt werden. Aber Terry bestand darauf, dass seine Frau und sein Sohn bis zu dessen Schulabschluss dort wohnen bleiben sollten. Nach den Scheidungsakten übernahm er auch die gesamten Schulden der Familie, einschließlich der monatlichen Ratenzahlungen für den 1986er Buick Skylark seiner Frau und der 8265,78 Dollar, die auf den Kreditkartenkonten aufgelaufen waren.

Scott Eder sagt, Terry habe oft angerufen und sich nach Lance erkundigt. Bei vielen Gelegenheiten beobachtete Eder, wie Terry sich im Gebüsch versteckte, um seinem Sohn beim Schwimmtraining in einem Freibad zuzusehen. Lance entdeckte ihn einmal und sagte zu Eder, er solle Terry Armstrong warnen: Wenn er ihm weiter nachstelle, werde er die Scheiße aus ihm herausprügeln.

Aus Lance’ Sicht ging es in seinem Leben immer ungerechter zu. Im Abschlussjahr hatten es seinem Eindruck nach die gesamte Plano East Highschool auf ihn abgesehen.23 Die Schule wollte ihm keinen Abschluss geben, weil er zu oft gefehlt hatte: Tage, die er mit Triathlon-Wettkämpfen und Trainingseinheiten in seiner Spezialdisziplin Radfahren im United States Olympic Training Center verbracht hatte. Dort hatte er sich auf die Junioren-Radweltmeisterschaft in Moskau vorbereitet, wo er die gesamte Fachwelt mit seiner energischen Führungsarbeit während des Rennens derart verblüffte, dass einige der größten Namen in dieser Sportart heute noch zu Protokoll geben, diese erstaunliche Leistung habe bei ihnen für eine Gänsehaut gesorgt.24 (Er verausgabte sich bei diesem Wettkampf allerdings viel zu früh und kam schließlich mit dem Hauptfeld ins Ziel.)

Lance und seine Mutter waren nicht der Ansicht, dass er eine gesetzliche Bestimmung beachten müsse, die eine Mindestzahl von Schultagen vorsah, an denen ein Schüler am Unterricht teilzunehmen hatte.25 Lance war »der Typ mit der Mutter, die immer Theater machte, damit er von der Schule wegkam«, berichtete jemand aus seiner damaligen Klasse. Seine Mutter vertrat die Ansicht, er sollte seinen Abschluss bekommen, aber die Schulverwaltung gab nicht nach.26 Das brachte die beiden nach Bending Oaks in Dallas, zu einer unkonventionellen Schule mit nur etwa einem Dutzend Schülerinnen und Schülern pro Klasse. Diese Privatschule musste sich nicht an die für staatliche Schulen geltenden Bestimmungen halten und würde keine Anstalten wegen Armstrongs Fehlzeiten machen. Er würde dort den Abschluss mit seinem Jahrgang bekommen, solange das Schulgeld bezahlt wurde. Und Terry Armstrong, der Mann, den Armstrongs Mutter wiederholt als abwesenden Vater bezeichnete, war derjenige, der den Scheck ausfüllte.

Terry Armstrong stellt in seinem geräumigen Ranch-Haus, dessen Einrichtung direkt aus dem Pottery-Barn-Katalog stammen könnte, einen Karton auf den Küchentisch. Daraus holt er Karte um Karte und Bild um Bild. Eine Karteninschrift zum Vatertag: »Ich hab’ mir meinen Vater nicht ausgesucht, aber ich bin froh, dass meine Mom dich ausgesucht hat.« Klappt man die Karte auf, steht da in Kinderhandschrift: »Love, Lance.« Ein Foto zeigt Lance am Steuer des Golfwagens von Terrys Vater. Und es gibt ein Foto von Lance an der Orgel einer Kirche, in der sein Großvater predigte. Terry Armstrong zeigt einen lächelnden Lance auf dem Sofa seiner Großeltern vor – und noch ein weiteres Bild, mit einer lächelnden Linda auf dem gleichen Sofa. Die Fotos sind auf der Rückseite beschriftet: Weihnachten 1983. Lance war zwölf Jahre alt, ein paar Jahre später sollte er Triathlon-Star werden. Terry verlor zwar den Kontakt zu Lance, kurz nachdem die Radsportkarriere seines Sohnes ins Rollen gekommen war, doch er verfolgte die Berichterstattung in den Zeitungen und im Fernsehen. An einer Wand seines Arbeitszimmers hängte er Fotos auf, die Lance’ Entwicklung vom Jungen- bis ins Erwachsenenalter dokumentierten. Das aktuellste Bild, das sich Terry im Internet beschaffte, ausdruckte und rahmte, zeigt Lance mit seinen Kindern. Terry sagt, Lance’ Erfolge hätten ihn begeistert, und die Probleme seines Sohnes würden ihm Kummer bereiten, der allerdings lange nicht so schlimm sei wie 1996, als Lance die Krebsdiagnose erhielt und Terry nicht gestattet wurde, den Patienten in seinem Krankenhauszimmer in Indianapolis zu besuchen.

Nach Lance’ erstem Sieg bei der Tour de France war Terry Armstrong verblüfft, als er von Lindas Behauptungen über ihre Zeit als Familie erfuhr. »Linda war eine alleinerziehende Mutter? Ihre beiden ersten Ehen hielten nicht lange? Lance und seine Mutter standen immer mit dem Rücken zur Wand?« Er reagierte empfindlich auf die falsche Bezeichnung als Stiefvater – er war Adoptivvater – durch die Medien, einschließlich des Fernsehsenders CNN.27 Terry versuchte dagegenzuhalten, indem er an die entsprechenden Medien schrieb und ihnen mitteilte, dass ihre Informationen nicht stimmten. Er verschickte Kopien der Heiratsurkunde und des Scheidungsurteils, aus denen hervorging, dass er 14 Jahre lang mit Armstrongs Mutter verheiratet gewesen war. Terry wollte diese Sache richtigstellen, aber ein Rechtsanwalt riet ihm davon ab, weil er »keine Druckerschwärze« habe, was so viel bedeutete wie: Lance hatte die Presse auf seiner Seite. Die Reporter, vor allem die in den Vereinigten Staaten, liebten die Lance-Armstrong-Story. Und dann erschien Tour des Lebens (im Original: It’s Not About the Bike), Lance’ Autobiografie, in der Terry als fürchterlicher Vater dargestellt wurde, und Lindas Buch stieß ins gleiche Horn. Terry bezeichnet die Geschichten als »eine Aneinanderreihung von Unwahrheiten«.

Er plante, seine Ex-Frau bei einer ihrer öffentlichen Lesungen 2005 zu stellen. Bis zur letzten Minute habe er gewartet, bevor er den Mittelgang hinunterging und sich auf einen Platz in der ersten Reihe setzte. Tami, Terrys jetzige Ehefrau, die Linda nie persönlich kennengelernt hatte, saß getrennt von ihrem Mann, deshalb konnte sie fragen: »Haben Sie Lance jetzt alleine aufgezogen oder nicht?« Linda erwiderte schlicht: »Lesen Sie das Buch.«28 Terry Armstrong berichtet, er habe an jenem Tag die Hand gehoben und wie ein Schulkind, das die Aufmerksamkeit des Lehrers erhalten will, herumgefuchtelt, aber die Autorin ignorierte ihn. Erst nach der Lesung, als Linda an einem Tisch sitzend ihr Buch signierte, kam es zu einer Auge-in-Auge-Begegnung der beiden ehemaligen Ehepartner. »Das Buch hat mir gefallen«, sagte Terry zu Linda.29 »Wirklich?«, hakte Linda nach. »Ja«, erwiderte er. »Ich liebe Fantasy-Geschichten.«

Lance Armstrong

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