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Prolog

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Das Zehn-Millionen-Dollar-Anwesen, mit dem sich Lance Armstrong einen Traum erfüllt hat, verbirgt sich hinter einer hohen, cremefarbenen Mauer aus texanischem Sandstein und einem soliden Stahltor.1 Besucher fahren auf einem kreisförmigen Zufahrtsweg vor und halten unter einer imposanten Eiche, deren ausladende Äste auf eine Villa im spanischen Kolonialstil mit einer Wohnfläche von 725 Quadratmetern weisen. Der Baum ist ein Symbol für Armstrongs berühmten Willen. Er stand früher auf der anderen Seite der Anlage, knapp 50 Meter westlich vom Haupthaus. Armstrong wollte ihn vor der Eingangstreppe haben. Die Verpflanzung kostete 200 000 Dollar. Seine engsten Freunde witzeln, der Agnostiker Armstrong habe damit nur zeigen wollen, dass es Gott nicht braucht, um Himmel und Erde in Bewegung zu setzen.

Lance Armstrong und ich haben seit fast einem Jahrzehnt eine zwiespältige Beziehung zueinander. Sieben Jahre sind vergangen, seit sein Agent Bill Stapleton zum ersten Mal drohte, mich zu verklagen. Damals war ich nur eine von vielen Reporterinnen und Reportern, die Armstrong zu manipulieren, zu umgarnen oder zu drangsalieren versuchte. Klagen gegen Autoren, die es wagten, seine märchenhafte Geschichte zu hinterfragen, waren seine schnelle und bequeme Art, Menschen davon zu überzeugen, dass es sich nicht lohnte, kritisch über ihn zu berichten. Im Lauf der Jahre kam er zu dem Ergebnis, dass er mich als Feindin betrachten musste, als eine von vielen, die er und seine Berater im Auge behalten mussten.

Erst jetzt, nach seinem Sturz, haben wir uns auf etwas geeinigt, was einem Waffenstillstand nahekommt. Er würde es zwar bestreiten, aber ich weiß, dass er diesem Treffen mit mir zugestimmt hat, weil er denkt, dass es ihm vielleicht gelingt, Kontrolle über den Tenor meines Buches zu bekommen. Keine Chance, habe ich ihm gesagt. Nach zahlreichen straf- und zivilrechtlichen Ermittlungen zu der Frage, ob Armstrong ein ausgefeiltes Dopingprogramm organisierte und damit siebenmal die Tour de France gewann; nach all den Aussagen von Fahrern, die ihn besser kannten als jeder andere Mensch und unter Eid allen öffentlichen Rechtfertigungen widersprachen, die Armstrong je abgegeben hatte; nachdem er gelogen, gelogen und abermals gelogen hatte, erkennt der berüchtigtste Sportler unserer Zeit, dass ich plötzlich die Dinge in der Hand habe. Und ich erkenne, dass er sich selbst jetzt noch in eine Position hineindenkt, in der er absolute Macht ausübt. »Sie können schreiben, was Sie wollen«, sagt er mir bei einer unserer vielen Unterhaltungen. »Aber Ihr Buch soll Cycle of Lies (Originaltitel; etwa: Rad der Lügen) heißen? Das muss geändert werden.«

Ich habe in fünf verschiedenen Ländern Einzelinterviews mit ihm geführt; in nach durchgeschwitztem Lycra riechenden Mannschaftsbussen bei der Tour de France, in schicken Hotelzimmern in New York City, auf den Rücksitzen von Limousinen, in öden Besprechungsräumen und stundenlang am Telefon. Jetzt, im Frühjahr 2013, nachdem seine ganze Welt zusammengebrochen ist und die Umzugslaster mit den Möbelpackern, die sein geliebtes Anwesen ausräumen werden, bereits unterwegs sind, bin ich nach Austin in Texas gekommen, um ihn zum ersten Mal bei sich zu Hause zu treffen. Ja, prima, kommen Sie nur her, sagte er. Von endlosen Nachrufen auf seine ruhmreiche (und jetzt als betrügerisch entlarvte) Karriere geplagt, wollte er sicherstellen, dass ich »die wahre Geschichte« schreiben würde.

Jetzt parke ich also hier unter der großen Eiche, die Armstrong verpflanzen ließ, weil – warum nicht? Ich betrachte das Haus und denke an seine gelben Trikots. Einen Monat, nachdem die United States Anti-Doping Agency 1000 Seiten Beweismaterial gegen Armstrong veröffentlicht und ihm seine Tour-Siege aberkannt hatte, hatte er über Twitter ein Foto von sich selbst verbreitet, auf dem er, die Arroganz in Person, auf einer L-förmigen Couch in diesem Haus fläzte, die feierlich ausgeleuchteten und gerahmten sieben gelben Trikots an der Wand hinter sich: »Bin wieder in Austin und hänge ab.« Werde ich ihn sieben Monate später immer noch im Zustand der Uneinsichtigkeit antreffen? Noch bevor ich den Zündschlüssel abgezogen habe, taucht ein engelsgleiches Gesicht unter wuscheligem braunem Lockenhaar am Wagenfenster auf, und zwei kleine Vorschulkind-Hände patschen an die Scheibe. Das ist Lance’ jüngster Sohn Max. Armstrong steht in Flipflops hinter ihm, er trägt ein schwarzes T-Shirt über schwarzen Basketball-Shorts, die bis zu seinen narbigen Knien reichen. Seine Augen verbirgt er hinter einer dunklen Sonnenbrille. »Sag hallo zu Juliet, Max«, fordert er den Sohn auf. »Hallo, Juu-liii-ett!«, sagt Max. Dann dreht er sich zu seinem Vater um und bittet um ein Eis, eine Bitte, die seinen Vater vor sich hin lächeln lässt, wie ich es bis dahin noch nie bei ihm gesehen habe. »Ja, du bekommst ein Eis«, sagt Armstrong. »Du warst brav, Kumpel, wirklich brav.« Wir gehen die Eingangstreppe hinauf, an der Tür hält Armstrong inne. Er lässt den Blick zum Baum wandern, zum Haus, zu dem Leben, das er genossen hat. »Ein großartiger Ort, nicht wahr?« »Ja«, sage ich. »Werden Sie ihn vermissen?«

Armstrong will nicht umziehen, er muss. Nachdem Sponsoren die Zusammenarbeit mit ihm beendet haben, fallen nach Schätzungen etwa 75 Millionen Dollar künftige Einnahmen weg.2 Wenn er alle Prozesse verliert, bei denen er der Beklagte ist, bedeutet das Zahlungsverpflichtungen in Höhe von über 135 Millionen Dollar.3 Die Mietverträge für ein Penthouse am Central Park in Manhattan und ein Haus in Marfa in Texas hat er gekündigt, um »die Geldverbrennungsrate zu verringern«, wie er es ausdrückt. Der nächste Schritt ist die Aufgabe dieses Anwesens in Austin, das er gegen einen sehr viel bescheideneren Wohnsitz unweit des Stadtzentrums eintauscht.

Seine ehemaligen Sponsoren – unter anderem Oakley, der Fahrradhersteller Trek, RadioShack und Nike – haben dafür gesorgt, dass er zusehen muss, wie Geld ins Haus kommt. Er hält sie für Verräter. Er sagt, der Umsatz bei Treks habe bei 100 Millionen gelegen, als er bei diesem Unternehmen einen Vertrag unterschrieb, und 2013 die Eine-Milliarde-Grenze erreicht.4 »Wer ist dafür verantwortlich?«, fragt er. »Der hier, verdammt noch mal.« Er drückt den rechten Zeigefinger gegen die Brust. »Tut mir leid, aber das stimmt. Ohne mich geschieht gar nichts.« Als ihn seine Sponsoren fallen ließen, gab er ihre Sachen weg. Es besteht durchaus die Möglichkeit, einen seiner Freunde in Dallas mit einem Paar handgefertigter gelber Nike-Sportschuhe zu sehen, auf deren schwarze Zungen in kleiner gelber Blockschrift »LANCE« aufgestickt wurde. Ein Goodwill-Laden in Austin verfügt über ein reichhaltiges Sortiment an Nike-Kleidungsstücken und Oakley-Sonnenbrillen. Die Möbelpacker, die eine Woche vor meinem Besuch bereits das Gästehaus leer geräumt haben, werden es nur noch mit den Resten der Markenware zu tun bekommen, die in der Garage gelagert sind: mit schwarzen Livestrong-Mützen von Nike, schwarzen Nike-Matchsäcken mit hellgelben Swooshes, mit Oakley-Brillengläsern und -gestellen und einer Schachtel voll Mützen, auf denen »Yes on Prop 15« (Ja zum Vorschlag Nr. 15) zu lesen ist. Alles Werbeartikel für eine im Jahr 2007 den Wählern in Texas zur Abstimmung vorgelegten und von Armstrong unterstützte Eingabe zur Finanzierung der Krebsforschung und -prävention sowie der Aufklärung über Krebs aus Steuermitteln.

Armstrong zog 1989 von Plano, einem Vorort von Dallas, in die moderne Großstadt Austin. Er kam als ungeschliffener, streitlustiger, pickeliger Teenager mit welligen braunen, an den Spitzen gefärbten Haaren. Im linken Ohr einen Goldring, um den Hals eine Silberkette mit einem Anhänger mit den Umrissen von Texas, in der Tasche einen Führerschein mit einem Geburtsdatum, das ihn älter machte, als er war. Armstrong verdiente damals etwa 12 000 Dollar im Jahr. Mit der Unterstützung eines örtlichen Wohltäters namens J. T. Neal, der ihn aufgenommen hatte, wohnte er für eine Monatsmiete von 200 Dollar in einem Studio-Apartment.5 Er möblierte es mit einem überdimensionierten schwarzen Ledersofa, einem dazu passenden Stuhl und einem rot-weiß-blau bemalten Schädel eines Longhorn-Rindes aus Texas über dem Kaminsims. Von der beengten Einzimmerwohnung in die Traumvilla: ein Bild für Armstrongs Aufstieg zu einem modernen amerikanischen Heiligen – ein Sieger über den Krebs, der in einem mörderischen Etappenrennen die besten Radrennfahrer der Welt in die Schranken wies, mit jeder Frau ausging, die er wollte, und im Lauf dieser Entwicklung Millionen verdiente.

Armstrong liebt dieses Haus. Er liebt die offenen Räume, die raumhohen Fenster. Er liebt die weite, von Landschaftsgärtnern gestaltete Auffahrt, auf der seine Kinder Fußball spielen, und den kristallklaren Pool (ein »Negative-Edge Pool, kein Infinity Pool, nicht zu verwechseln«).6 Hinter dem Haus stehen Reihen hoch aufragender italienischer Zypressen. Er kam 2006 hierher, nachdem er mit dem siebten Sieg bei der Tour einen neuen Rekord aufgestellt hatte, und nannte diesen Ort sein sicheres Zuhause – in diesem Haus »kommt mir keiner dumm«.7 Er, der allen nahezu ohne Pause unternommenen Versuchen, ihn als Doper zu entlarven, entgangen war, konnte sich hier nach links wenden, den Hauptkorridor hinunter, dann nach rechts abbiegen, in seinem begehbaren Weinkabinett verschwinden, sich eine Flasche Tignanello nehmen und auf sein Glück trinken.

Auf einem Tisch neben einem Sofa steht ein 90 Zentimeter langes Modell des Gulfstream-Jets, Armstrongs bevorzugtem Langstreckenflieger. Es ist weiß lackiert, mit schwarzen und gelben Rennstreifen. Beim Start pflegten er und seine Kumpels aufzustehen und zu »surfen«, während das Flugzeug in den Himmel stieg. Armstrong verkaufte die Maschine im Dezember 2012 für acht Millionen Dollar, mit Blick auf die Kosten und Zahlungsforderungen, die im Zusammenhang mit den diversen Prozessen, die seit der Enthüllung seiner Betrügereien durch die USADA gegen ihn laufen, auf ihn zukommen werden.8

Genau in dem Augenblick, in dem wir uns im Medienzimmer im zweiten Stock des großen Hauses niederlassen, platzen seine beiden Zwillingstöchter Grace und Isabelle herein. Die beiden elf Jahre alten Mädchen sind das genaue Ebenbild ihrer Mutter Kristin: wunderschön und blond. Ihr offenes Lächeln entblößt glänzende silberne Zahnspangen. »Hallo Dad! Hast du die Röcke für uns im Internet gekauft?«, fragt Isabelle, während sie und ihre Schwester das Sofa zugleich als Trampolin benutzen. »Ja, Dad, hast du die Röcke gekauft?«, sekundiert Grace. »Nein, noch nicht«, antwortet Armstrong. »Es ist Zeit für ein Bier. Es wäre nett, wenn eine von euch Ladys mir ein Bier holen würde. Ein Shiner Bock.« Grace ruft: »Shiner Bock! Weißt du’s nicht, das ist ein Bier – das schreibt man B-O-C-K. Das hat keinen Schraubverschluss.« Armstrong sieht mich an, sobald er das Bier in der Hand hat, und sagt: »So sieht also mein schreckliches Leben aus. Einfach nur schrecklich.«

Er sagt, wie sehr er es mag, dass Kinder im Haus sind – Kinder sind durchschaubar und reinen Sinnes, zu jung, um ihn zu täuschen. Ich frage, ob er sich von den Leuten ausgenutzt, ob er sich benutzt fühlt. »Äh, ja.« »Von wem?« »Von allen. Reihen Sie sich ein.«

Der junge Mann, der sein Wohnzimmer einst mit einem Ochsenschädel schmückte, hat sich zu einem Sammler anspruchsvoller, teurer Kunstwerke entwickelt. Sein Nerv für Kunst ist offenkundig, wenngleich gewöhnungsbedürftig. Beim Betreten des Hauses sieht man eine 3,30 Meter hohe und 1,50 Meter breite bunte Glasscheibe, die sich bei näherer Betrachtung als Meer aus Hunderten von fixierten Schmetterlingen erweist – ein Werk von Damien Hirst mit dem Titel The Tree of Life. Hirst ist für seine provozierenden Installationen bekannt (zu denen auch ein in einem Glaskasten präsentierter abgeschnittener Kuhkopf zählt, an dem sich Maden gütlich tun). Als Hirst im Jahr 2009 ein Armstrong-Rennrad mit Schmetterlingen dekorierte, bezeichnete die Tierschutzorganisation People for the Ethical Treatment of Animals dieses Werk als »entsetzliche Barbarei«.9

Je mehr ich in diesem Haus von Armstrongs Kunstsammlung zu sehen bekomme, desto seltsamer kommt mir sein Kuratoren-Auge vor. Seine Auswahl als makaber zu bezeichnen, ist zu harmlos, das Wort »kontrovers« klingt zu naiv. Alles, was Armstrong über irgendeines dieser Werke sagt, beschränkt sich auf »verdammt cool«. Man sehe selbst: Über der offenen Feuerstelle im geräumigen, konventionell eingerichteten Esszimmer ist, flankiert von Marmorschüsseln, die einmal Weihwasserbecken waren, ein Foto von Urin und Blut zu sehen. Piss and Blood No. VII ist eine Arbeit von Andres Serrano, der seit seinem 1987 aufgenommenen Foto von einem Plastik-Kruzifix im Urin des Künstlers berüchtigt ist. Es hat etwas Harmonisches, in einem Raum mit diesem Foto und einem Sportler zu sein, der für sich in Anspruch nimmt, Hunderte von Dopingtests, die an seinen Urin- und Blutproben vorgenommen wurden, bestanden zu haben.

Am anderen Ende des Raumes liegt Armstrongs schwach beleuchtetes Arbeitszimmer, das in dunklen Holzfarbtönen gehalten ist: ein Ort zum Grübeln. Von seinem Schreibtisch in einer Ecke des Zimmers aus hat Armstrong einen direkten Blick auf seine Tour-de-France-Trophäen, sieben in dunklem Purpur leuchtende Porzellanpokale mit feinen goldenen Mustern. Sie sind hoch oben an der Wand ausgestellt, über Bücherregalen, jedes Stück wird von einem eigenen Scheinwerfer angestrahlt. Links von seinem Schreibtisch ist Kunst zu sehen, die auf seine zerbrochenen Beziehungen zu Familienangehörigen, Freunden, Geliebten und Teamkollegen verweisen mag: Eine sepiafarbene Fotografie von Luis González Palma zeigt einen Mann und eine Frau, die eng umschlungen tanzen. Aber stimmt das denn? Auf den zweiten Blick sehe ich die spitzen Stacheln, die aus den Rücken der beiden Gestalten ragen. Armstrong räumt lediglich ein, dass dies ein düsteres Werk sei.

Und dann ist da noch die Jesus-Kunst. Rechts vom Schreibtisch nimmt das Gemälde eines spanischen Malers aus dem 17. Jahrhundert fast die gesamte Wand ein. Es ist eine Kreuzigungsszene. Vier Frauen beten zu Füßen Christi, dessen gesenkter Kopf von einem leuchtenden goldenen Heiligenschein umstrahlt wird. Vor einigen Jahren hing dieses Werk in der Kapelle, die Armstrong für seine Ex-Frau, eine Katholikin, in ihrer Wohnung in Girona einrichten ließ. Er selbst ist nicht religiös. Er sagt, er betrachte die organisierte Ausübung von Religion als Versammlung von Heuchlern. Verlässt man sein Büro und biegt um eine Ecke, findet sich, über einem Treppenhausschacht, eine weitere Darstellung der Kreuzigung. Den ans Kreuz genagelten Jesus erkennt man nur aus bestimmten Blickwinkeln, dann erst entfaltet das Bild seine ganze Wirkung. »Ein Mann hat die Schuld für Tausende Sünden auf sich genommen«, lautet Armstrongs Kommentar. Selbst in Gegenwart des Kruzifixes spricht er über sich selbst. Ob er erreichen will, dass ich ihn als Märtyrer für ein Jahrhundert der Doper im Radsport darstelle? Ist das die Absicht, die er gerade verfolgt? Er geht zu einem Tischchen in seinem Büro und nimmt eine Skulptur auf, die einen Arm von der Hand bis zum Ellbogen darstellt. Die Skulptur des japanischen Künstlers Haroshi besteht aus zahlreichen Schichten zusammengepresster Skateboards. Der Mittelfinger der Skulptur ist ausgestreckt. »Das fasst die Geschichte meines Lebens ziemlich gut zusammen«, sagt er. Dann hält er mir die Skulptur vors Gesicht. Ich sehe Armstrongs Hände. Auf beiden Handflächen sind kleine Wunden. Dort wurden Zysten weggebrannt, erklärt er. Ich denke an die Wundmale Christi. »Leck mich am Arsch«, sagt er lachend.

Vor sieben Jahren sagte er zu Luke, Grace und Isabelle, seinen drei ältesten Kindern aus seiner gescheiterten Ehe, dass sie zum Zeitpunkt ihres Highschool-Abschlusses in diesem Haus bei der großen Eiche leben würden.10 Er sei ihnen das schuldig. Sie waren ihm unzählige Male von Texas nach Frankreich und Spanien gefolgt. Jetzt könnten sie endlich Wurzeln schlagen. »Ich verspreche euch: Dad wird nicht wieder umziehen.« Sie würden nur sechs Minuten von ihrer Mutter Kristin entfernt wohnen und hätten ihren festen Platz an dem vertrauten riesigen Küchentisch, der von Schwarzweiß-Fotos der Familie umgeben ist. Und sie würden wissen, wo ihr Dad an den meisten Abenden der Woche zu finden war – auf einem Sofa vor dem Fernseher, in dem er sich die CNN-Sendung Anderson Cooper 360 o ansah. Im Sommer 2012 ließ Armstrong noch den ersten Stock des Hauses ausbauen, damit die größer werdende Familie ein siebtes Zimmer hatte. Das Haus war vorher schon sein Hauptquartier. Er lebte dort mit seiner Freundin Anna Hansen, einer gertenschlanken Blondine, und ihren beiden Kindern, dem vier Jahre alten Max und der zwei Jahre alten Olivia, die wie Shirley Temple aussah. Armstrong und sein Clan hatten geplant hierzubleiben, geborgen und glücklich, und das für lange Zeit. Aber jetzt kommen die Möbelpacker. Wir schreiben den 6. Juni 2013, das ist fünf Jahre vor dem Zeitpunkt, zu dem Luke vermutlich seinen Schulabschluss machen wird. Am nächsten Morgen wird eine kleine Kolonne von schwarzen Lastwagen den Zufahrtsweg hinauffahren, und aus diesen Fahrzeugen werden Arbeiter in schwarzen kurzärmeligen Hemden steigen. Jetzt schon herrscht eine begräbnisähnliche Stimmung. Die Möbelpacker haben bereits das 150 Quadratmeter große Gästehaus ausgeräumt, eine Mini-Villa, deren hellbraune Fassade farblich gut zum orangefarbenen Ziegeldach passt.

Am 7. Juni komme ich wieder um zu beobachten, wie die Arbeiter das Hauptgebäude ausräumen. Sie nehmen Armstrongs Tour-Trophäen aus den beleuchteten Regalen, verpacken sie in grüne Luftpolsterfolie und legen sie in blaue Kartons. Im Umzugskarton mit der Nummer 64 verstaut ein Arbeiter einen silbernen Rahmen mit einem 17,5 mal 12,5 Zentimeter großen Foto von Armstrongs Discovery-Channel-Team aus dem Jahr 2005, das nach seinem siebten und letzten Tour-Sieg gemeinsam beim Abendessen sitzt. Er, seine Teamkollegen und der langjährige Teammanager Johan Bruyneel halten sieben Finger hoch. Jeder der Männer trägt ein gelbes Livestrong-Gummiarmband am Handgelenk. Auf dem Tisch stehen viele halb volle Weingläser. Eine Szene aus einem früheren Leben. Karton Nr. 64 wandert mit allen anderen in einen Lastwagen. Ich folge den Arbeitern, die alle weiße Baumwollhandschuhe tragen, in den Medienraum. Dort nehmen sie die sieben gerahmten gelben Trikots von der Wand. Am Vortag, als Armstrong und ich in diesem Raum saßen, hatte er eine Idee. Er fragte, ob ich mich auf die Couch legen und für ein Foto unter den Trikots, die noch da waren, posieren wolle. »Das wäre lustig«, meinte er. Ich verstand den Witz nicht.

Armstrong hatte das große Haus verlassen, noch bevor es dämmerte, für immer. Um 4.15 Uhr, am Morgen des 7. Juni 2013, fuhr er mit Hansen und seinen fünf Kindern zum Austin/Bergstrom International Airport, um dort mit einem Linienflug nach Big Island, Hawaii, aufzubrechen, wo die Familie den ersten Teil des Sommers verbringen wollte.11 Armstrong sagt mir später, er habe sich nicht nach dem Haus umgedreht, das er gebaut hatte. Er sagt, Gefühlsregungen dieser Art seien ihm fremd. Der Umzug bedeute nur, dass ein Teil seines Lebens beendet sei und ein neuer beginne. Mehr gibt es dazu nicht zu sagen, erklärt er. Vielleicht glaubt er die Worte, die aus seinem Mund kommen. Vielleicht auch nicht.

Mehrere Tage danach befanden sich nur noch zwei seiner Besitztümer auf dem Anwesen. Eines davon passte in keinen Umzugslaster: ein schwarzes Pontiac GTO-Cabrio, Baujahr 1970, ein Geschenk der Sängerin Sheryl Crow, mit der er eine öffentlich ausgelebte Romanze hatte, ehe er davonradelte und kurz bevor sie an Krebs erkrankte. Das Auto, das auch an ein Versagen Armstrongs erinnert, ist 70 000 Dollar wert.12 Im Wohnzimmer des Gästehauses ist ein vollständiges Schlagzeug stehen geblieben. Noch ein Belegstück aus dem Leben, das der Mann abgelegt hat. Oh beat the drum slowly and play the fife lowly, kommt mir in den Sinn, als ich das Instrument betrachte, Worte aus einem Lied (Streets of Laredo, amerikanisches Volkslied. Anm. d. Ü.), das ich aus der Zeit kenne, als ich selbst in Texas lebte und arbeitete:

Take me to the valley, and lay the sod o’er me,

For I’m a young cowboy and I know I’ve done wrong.

Lance Armstrong

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