Читать книгу Lance Armstrong - Juliet Macur - Страница 12

Kapitel 6

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Ein Jahr, bevor Armstrong und die Motorola-Fahrer über Pläne zur Einnahme von EPO sprachen, und zwei Jahre vor Armstrongs Krebsdiagnose lernte Frankie Andreu in Buddy’s Pizzeria in Dearborn, Michigan, ihrer beider Heimatstadt, eine Brünette mit jugendlich-frischem Gesicht kennen. Das war 1994. Sie war 27 Jahre alt, verkaufte Wasserfilter und bereitete die Eröffnung eines eigenen italienischen Cafés vor. Der gleichaltrige Frankie war gerade von den Frühjahrs-Radrennen in Europa zurückgekehrt. Eine kurze Begutachtung von Andreus Körperbau – er war 1,90 Meter groß und wog 75 Kilo, der Körperfettanteil lag bei etwa vier Prozent – ließ Betsy Kramar, die Brünette, innehalten. »Hm, warum sind deine Arme so dünn?«, fragte sie und zeigte dabei auf seinen kümmerlichen Bizeps. Er errötete. »Oh, ich bin Profiradfahrer.« »Ein was? Das ist deine Arbeit, Fahrrad fahren? Ich wusste gar nicht, dass man damit seinen Lebensunterhalt verdienen kann.«

Er sah gut aus, hatte goldbraunes Haar, grüne Augen und ein gewinnendes Lächeln. Sie war hingerissen, obwohl sie nur wenig gemeinsam hatten. Sie hatte an der University of Michigan Theaterwissenschaften studiert. Er hatte, parallel zu seiner Radsportkarriere, nur ein paar Kurse an einem Community College belegt. Sie war extrovertiert, mit einem Hang zum bissigen Humor. Er war eher der ernste Typ. Beide waren sie eigensinnig und eigenwillig. (Andreus Spitzname in Radfahrerkreisen war Ajax, wegen seines aggressiven Gebarens.) Beide hatten sie einen Elternteil, der aus einem kommunistischen Land geflohen war – Andreus Vater stammte aus Kuba, Kramars Vater aus Jugoslawien. Kramar erkannte schon bald, dass Andreu ihre drei Kriterien für einen Ehemann erfüllte. Katholisch? Ja. Konservativ? Ja. Gegen Abtreibung? Ebenfalls ja. Noch an dem Abend, an dem sie sich kennenlernten, hatte sie ihn zu diesen Themen befragt. Andere Männer hätte ihre inquisitorische Ader vielleicht abgeschreckt, aber Andreu gefielen ihre festen Überzeugungen und ihre geradlinige, aufrichtige Art.

Schon bald wurde Kramar in die Radsportszene hineingezogen. Andreu nahm sie zu Rennen mit und stellte sie seinen Freunden vor. Sie erfuhr, dass Andreu ein Domestik – ein Fahrer, der dem Mannschaftskapitän mit zum Sieg verhilft – und sein Teamkapitän ein Bursche namens Lance Armstrong war. Bei einem Rennen in Philadelphia lernte sie Armstrong kennen und hielt ihn zunächst für einen Radfahrer unter vielen. Aber er war bereits ein Star in dieser Sportart, was immer das im Jahr 1994 bedeuten mochte. Greg LeMond befand sich im letzten Jahr seiner großartigen Laufbahn, und die Popularität des Radsports in den Vereinigten Staaten war bereits abgeflaut. Die wichtigste Informationsquelle der Amerikaner über den Profiradsport war neben den Berichten von Greg LeMonds Erfolgen bei der Tour de France Breaking Away gewesen, ein Spielfilm aus dem Jahr 1979. Darin gerät ein Highschool-Absolvent in den Bann des Radsports, entwickelt ein obsessives Interesse an der italienischen Radsport-Nationalmannschaft, rasiert sich die Beine, weil er gehört hat, dass italienische Fahrer das so halten, und legt sich einen italienischen Akzent zu.

Als Kramar und Armstrong einander vorgestellt wurden, sprach sie mit ihm wie mit anderen Menschen auch – er war ihr Gegner in einer Debatte. Sie stritt mit ihm über seinen Agnostizismus und vertrat die Auffassung, dass der Glaube an Gott der Schlüssel zum Glück war. »Du kannst in deinem Leben nicht alles unter Kontrolle haben«, sagte sie, » dafür ist Gott da.«1 »Betsy, das ist Blödsinn, ich bin der Herr meines eigenen Schicksals«, erwiderte er. Nach der Religion ging es um Politik. Für einen Demokraten war er zwar charmant, aber sie fand ihn großspurig und ichbezogen. Wenn sie Andreu in Como besuchte, gingen sie oft zusammen Pizza essen. Einmal bereitete sie in Armstrongs Wohnung am See ein Risotto zu, und er kam dazu. Er bezeichnete sie als wunderbare Köchin und fragte nach Rezepten und Zutaten. Sie wusste zwar, dass er nur nett zu ihr war, damit sie wieder für ihn kochte, aber die Komplimente verfingen dennoch. Im Sommer 1994 verlieh Armstrong daheim in den Vereinigten Staaten seinen neuen Volvo, den er für den WM-Sieg 1993 erhalten hatte, an Andreu. »Betsy verdient es, mit einem schönen Auto zu fahren«, sagte er. Kramar gefiel das. Sicher, Armstrong war laut und unausstehlich, eingebildet und meist allzu sehr von sich überzeugt. Aber sie musste ihn ja nicht heiraten.

Andreu gestand Kramar am 14. September 1996 an der 50-Yard-Linie des Football-Stadions der University of Michigan seine Liebe und machte ihr einen Heiratsantrag. Sie vergoss Tränen der Rührung und sagte ja. Die Hochzeit wurde für Silvester geplant.

Zwei Wochen nach der Verlobung erfuhr das Paar, dass Armstrong Krebs hatte. Beide kannten ihn nur als Energiebündel. Die Vorstellung, dass er einfach so dahinsiechen könnte, war niederschmetternd. Zwei Tage, nachdem die Tumore aus Armstrongs Gehirn entfernt worden waren, flogen Kramar und Andreu nach Indianapolis, um ihren Freund im Krebszentrum der Indiana University zu besuchen.

Kramar, stets neugierig, sah sich in dem Zimmer um. Zur Linken war eine Toilette. Rechts stand ein langer, rechteckiger Tisch. Dahinter ein Sofa und, an der gegenüberliegenden Wand, ein Fernsehgerät. Armstrong saß am Tisch, an seinen Arm war eine Infusion angeschlossen. Auf Kramar wirkte er wie ein Schatten seiner selbst, von dem unermüdlichen Texaner, den sie kannte, war nichts mehr zu sehen. Der Krebs hatte ihm sein demonstratives Draufgängertum genommen. Er war schwach und kahlköpfig, eine lange Narbe verlief über die Kopfhaut, dort, wo die Ärzte für die Operation die Schädeldecke geöffnet hatten. Sie lächelte und sagte, er sehe gut aus. In Wirklichkeit war sie bestürzt, als sie sah, wie viel Lebensenergie aus ihm gewichen war. Kramar und Andreu saßen mit Armstrong und vier weiteren Freunden von ihm in einem Aufenthaltsraum zusammen, weil sein Krankenhauszimmer zu klein gewesen wäre. Im Fernsehen lief ein Footballspiel der Dallas Cowboys. Alle Anwesenden bemühten sich um eine unverfängliche Konversation. Armstrong hatte eine Saftpresse geschenkt bekommen, und Kramar stieg in das Gespräch ein: »Trinkst du gern Karottensaft?«, fragte Betsy und begann, die Vorzüge frischer Säfte anzupreisen. »Wie wäre es mit Äpfeln? Schmeckt dir Apfelsaft? Ich habe auch einen Entsafter, damit kann ich alle möglichen Säfte herstellen. Man kann damit sogar Gemüse verarbeiten. Das ist sehr gesund für dich.« »Danke, das wusste ich noch gar nicht«, erwiderte Armstrong.

Die Unterhaltung endete abrupt, als zwei Männer in weißen Kitteln den Raum betraten. Sie wollten Armstrong zu seiner medizinischen Vorgeschichte befragen. »Ich glaube, wir sollten gehen und seine Privatsphäre respektieren«, sagte Kramar und stieß Andreu an. »Nein, ihr könnt bleiben«, sagte Armstrong. Kramar forderte Andreu noch einmal zum Gehen auf, diesmal stieß sie ihn mit dem Fuß an. »Nein, Lance sagte, dass wir bleiben können«, gab er zurück. Einer der Ärzte fragte Armstrong, ob er jemals leistungssteigernde Mittel eingenommen habe. Betsys Puls ging schneller. Was hat er gesagt? Sie wandte den Kopf und sah Armstrong an. Der musterte den Raum, besah sich die Leute, die dort saßen. Anwesend waren Chris Carmichael und dessen zukünftige Ehefrau Paige, Lisa Shiels, Armstrongs neue Liebe, eine blonde Studentin, die bei ihm eingezogen war und sich derzeit an der University of Texas in einem Premed-Kurs auf ein weiterführendes Medizinstudium vorbereitete, und Stephanie McIlvain, Armstrongs persönliche Ansprechpartnerin beim Sonnenbrillenhersteller Oakley. Diese Leute bildeten Armstrongs engsten Freundeskreis. Mit einem kurzen, prüfenden Blick entschied er, dass er ihnen vertrauen konnte. Die Hand auf dem Infusionsbehälter, beantwortete Armstrong die Frage ruhig, als würde er eine Einkaufsliste vorlesen. Er sagte: »Wachstumshormon, Kortison, EPO, Steroide und Testosteron.«2

Andreu spürte die grenzenlose Verblüffung seiner Verlobten, er bugsierte sie aus dem Raum, auf den Gang hinaus. In einiger Entfernung vom Besuchsraum, in der Nähe der Aufzüge, richtete Kramar das Wort an Andreu, und sie wurde dabei laut. »Mein Gott, auf diese Art hat er den Krebs bekommen, nicht wahr? Ich heirate dich nicht, wenn du dieses ganze Zeug nimmst. Die Hochzeit ist abgesagt!« »Ich schwöre bei Gott. Ich schwöre bei Gott. Ich schwöre bei Gott«, sagte Andreu und bekreuzigte sich. »Bitte, ich verspreche es dir. Ich tue das nicht.« Kramar wusste über Steroide kaum mehr, als dass Ben Johnson, der kanadische Sprinter, wegen der Einnahme einer solchen Substanz bei den Olympischen Spielen disqualifiziert worden war, nachdem er den 100-Meter-Lauf gewonnen hatte. Aber sie wusste genug, um darüber im Bild zu sein, dass Steroide ungesund waren. Und verboten. Das Allerschlimmste nach ihren Maßstäben war, dass die Einnahme von Steroiden unmoralisch war. Sie verstieß gegen die Wettkampfregeln. Es war Betrug. »Ist das der Sinn von Radsport?«, wollte sie wissen. Andreu bat sie, ihre Lautstärke zu mäßigen. »Betsy, bitte, ich habe niemals Steroide genommen. Ich habe niemals irgendetwas von diesem Zeug genommen.«3 Er sagte ihr, sie solle sich keine Sorgen machen: Er sei sauber. »Ich habe mit dieser ganzen Doping-Scheiße nichts zu tun.« Sie stürmte ins Hotel zurück, und er folgte ihr. Die Situation war so angespannt, dass die beiden an jenem Tag nicht mehr zu Armstrong zurückgingen. Sie wollte mehr wissen, aber Andreu weigerte sich, über das Thema zu sprechen. Kramar hatte keine Ahnung, dass ihr Verlobter ihr ins Gesicht gelogen hatte, was seinen Dopingkonsum anging. Mehrere ehemalige Teamkollegen sagten, Andreu habe ab der Saison 1995, wenn nicht schon vorher, EPO genommen. Armstrong und Motorola-Teamkollege Stephen Swart gaben an, das gesamte Team, auch Andreu, habe bei der Tour 1995 EPO genommen, auch wenn andere Fahrer aus dem Team dies bestritten.4 In Frankie Andreus kleiner Welt wussten längst alle, dass die Fahrer bei ihren Rennen auf EPO setzten. Betsy Kramar war die Letzte, die es erfuhr.

Kramar rief im Verlauf der nächsten Wochen vier Freunde und zwei Familienangehörige an, um mit ihnen über Armstrongs Dopinggeständnis zu sprechen. Eines dieser Gespräche führte sie mit Dawn Polay, ihrer Zimmerkollegin am College, die Frankie Andreu schon seit der gemeinsamen Grundschulzeit kannte. »Man weiß nie, was wahr ist«, sagte Polay. »Hör dir einfach an, was er zu sagen hat, bevor du eine Entscheidung triffst. Wenn ein anderer so etwas tut, heißt das noch lange nicht, dass Frankie da mitmacht.« Was für ein großes, kompliziertes Durcheinander Armstrong angerichtet hatte, dachte Polay. Warum hatte er Kramar vertraut? Wenn er ihr in dieser ganzen Zeit auch nur ein bisschen Aufmerksamkeit gewidmet hatte, konnte ihm nicht entgangen sein, dass sie gegen Rauchen und Alkohol war, von Drogenmissbrauch ganz zu schweigen. Nach Polays Ansicht hatte Armstrong einen gewaltigen Fehler begangen, indem er etwas so offensichtlich »Regelwidriges« in Gegenwart von Betsy Kramar eingestanden hatte, einer unerschütterlichen Moralistin, die ein solches Verhalten verurteilte. Kramar und ihre Freunde überlegten wochenlang, was Armstrongs Geständnis für ihre bevorstehende Eheschließung bedeuten mochte. Würden ihre Kinder drei Arme haben, wenn Andreu gedopt hatte? Sie fragten sich, ob Armstrong seine Krebserkrankung selbst ausgelöst hatte. Kramar stellte diese Frage sogar ihrem eigenen Arzt.

Die meisten Fachleute sagen, man könne unmöglich mit Bestimmtheit behaupten, Armstrongs Dopingmittelkonsum habe den Krebs ausgelöst oder eine bereits bestehende Erkrankung verschlimmert. Dass Testosteron eine Prostataerkrankung auslösen kann, ist nachgewiesen, aber es gibt keinen Beweis dafür, dass leistungssteigernde Mittel Hodenkrebs auslösen, eine der seltensten Krebsarten überhaupt. Das Risiko, an Hodenkrebs zu erkranken, liegt bei 0,3 Prozent.5 Mit seinen 25 Jahren zählte Armstrong zu der Altersgruppe – der 20- bis 40-Jährigen –, bei der Hodenkrebs am häufigsten auftritt.

Manche Experten sagen, EPO und Wachstumshormon könnten die Entwicklung von Tumoren und die Teilung von Krebszellen beschleunigen, aber auch das ist nach wie vor unbewiesen. Das Wachstumshormon regt nach den Erkenntnissen von Dr. Arjun Vasant Balar, einem Onkologen am Langone Medical Center der New York University, die Leber und andere Gewebe zur Sekretion des insulinähnlichen Wachstumsfaktors IGF-1 an, und vom IGF-1 weiß man, dass er das Krebswachstum beschleunigt.6 Lucio Tentori, ein Krebsforscher an der Universität Tor Vergata in Rom, verfasste 2007 einen Aufsatz, der sich mit der Frage beschäftigt, ob Doping mit HGH, IGF-1, anabolen Steroiden oder EPO das Krebsrisiko erhöht.7 Er berücksichtigte dabei auch den einzigen beschriebenen Fall eines Radsportlers, der nach der Einnahme von Wachstumshormon an Krebs erkrankte. Bei diesem Sportler wurde allerdings die Hodgkin-Krankheit diagnostiziert, kein Hodenkrebs. Tentori wollte nach seinen Untersuchungen und Analysen nur so weit gehen: »Sportler sollten darauf hingewiesen werden, dass die langfristige Behandlung mit Dopingmitteln das Risiko einer Krebserkrankung erhöhen könnte.«

Lance Armstrong

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