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Kapitel 3

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John Thomas Neal war ein finanziell unabhängiger Immobilieninvestor und Heilmasseur, ein 48 Jahre alter Ehemann und Vater, der im Spitzen-Radrennsport als Betreuer, als sogenannter Soigneur, tätig war.1 Das ist jemand, der die Fahrer massiert, ihre Esspakete vorbereitet und die Wasserflaschen füllt, die Trikots wäscht und sich um den Gepäcktransport kümmert: ein Problemlöser, Ernährer und weiser Berater. Neal hatte an der University of Texas im Rahmen der Beachvolleyball-Tour und im Schwimmbereich mit Profisportlern zusammengearbeitet. Aber seine Leidenschaft war der Radsport, weil er die Sportart und das damit verbundene Reisen liebte.

Er war in Montgomery, der Hauptstadt des Bundesstaates Alabama, inmitten der Rassenunruhen der Sechzigerjahre aufgewachsen und von dort geflüchtet. Sein offenes Denken und sein eigenwilliger Geschmack passten gut zum liberalen Lebensgefühl in Austin, der Hauptstadt von Texas. Einmal fungierte er sogar als Gastgeber für die Hochzeit eines homosexuellen Paares in seinem Haus – einer ehemaligen Kirche –, das auf einem Hügel stand und von dem man einen guten Blick auf die Skyline der Stadt hatte. Er hatte zwar ein Hochschulexamen in den Rechtswissenschaften vorzuweisen, aber die Arbeit als Jurist behagte ihm nicht, und er blieb nicht dabei. Leisten konnte er sich diesen Ausstieg durchaus, denn er hatte eine wohlhabende Frau geheiratet.2

Neal, ein etwa 1,70 Meter großer, zierlich gebauter Mann, war ein großer Sportliebhaber – Football an der University of Texas, Schwimmen und Volleyball, Profitennis, Radsport, alles zog ihn an –, und er suchte nach einer Arbeitsmöglichkeit im Bereich des Berufssports. Als Trainer hätte er nicht arbeiten können, dazu war er in keiner Sportart gut genug, und außerdem war er kein aggressiver Typ. Die Lösung lautete: Heilmassage. Die medizinischen Aspekte dieser Tätigkeit faszinierten ihn. Ihm gefiel die Vorstellung, die Beschwerden anderer Menschen kurieren zu können. Neal war es mit seiner neuen Berufung so ernst, dass er sogar nach China reiste und sich dort mehrere Monate lang mit fernöstlichen Heilmethoden beschäftigte, einschließlich Akupunktur im Innenohr. Nach seiner Rückkehr nach Austin meldete er sich für die ehrenamtliche Arbeit mit den Sportlern an der University of Texas. Mit der Zeit knüpfte er viele Verbindungen und erwarb sich im Umfeld der Olympischen Spiele einen so guten Ruf als Fachmann in seinem Metier, dass er vom Subaru-Montgomery-Rennstall als Soigneur verpflichtet wurde. Eddie Borysewicz, ein ehemaliger Trainer der US-Olympiamannschaft, war der sportliche Leiter des Teams, Thomas Weisel, ein Investmentbanker, der in Finanzkreisen einen legendären Ruf genoss, war der Besitzer. Im Rahmen seines ersten Vertrags arbeitete Neal zunächst nur in den Vereinigten Staaten. Über Doping im Radsport wusste er kaum etwas, nur so viel, dass die Einnahme leistungssteigernder Mittel vor allem unter den Fahrern in Europa weitverbreitet war.

Lance Armstrong lernte er 1989 bei einem Triathlon in Texas kennen. Borysewicz hatte ihm gesagt, er solle nach dem kommenden Star im Radsport Ausschau halten. Armstrongs eindrucksvoller Auftritt bei der Junioren-Radweltmeisterschaft in Moskau im selben Jahr war dem Trainer nicht entgangen, und er überzeugte ihn, vom Triathlon zum Radsport zu wechseln, denn der Radrennsport war eine olympische Sportart, Triathlon noch nicht. Armstrong, damals wohl der aussichtsreichste Nachwuchs-Radprofi weltweit, erhielt einen Vertrag beim Subaru-Montgomery-Team. Zu diesem Zeitpunkt waren Neal und Armstrong bereits gut miteinander bekannt. Fast ein Dutzend Spitzensportler in Austin – Männer wie Frauen – sagt heute noch, Neal habe ihnen näher gestanden als der eigene Vater. Er nahm sie in den Kreis seiner Familie auf und gab ihnen eine gewisse Stabilität. Auch Lance Armstrong tat diese Nestwärme gut.

Armstrong zog aus dem flachen Plano ins Hügelland von Austin um, weil sich diese Gegend perfekt für Trainingszwecke eignete. Zu einem erheblich reduzierten Mietpreis bezog er ein Apartment in einer Wohnanlage, die Neal gehörte. Es war ein angenehmer, sicherer Ort, an dem Armstrong sich wohlfühlen konnte, nicht weit vom Stadtzentrum entfernt, von hohen Bäumen umgeben und nur 20 Schritte von Neals Büro entfernt. Gegenüber einem Reporter der Dallas Morning News bezeichnete Armstrong diese Wohnung später als »Hammer … wahnsinnig schön!«3 Er und Neal trafen sich täglich, manchmal auch mehrmals am Tag, zu Massage-Behandlungen und gemeinsamen Mahlzeiten. Neal war zufrieden, wenn er sah, dass er einen positiven Einfluss auf einen Teenager ausübte, der eine gewisse Anleitung brauchte.

Neals erster Eindruck war, dass das Ego des jungen Burschen noch größer war als sein Talent. Armstrong war ungestüm, zeigte schlechte Manieren und brauchte unbedingt etwas Schliff. Aber je mehr er über die häusliche Situation seines Schützlings erfuhr, desto mehr bedauerte er ihn. Er war ein Junge ohne verlässlichen Vater. Linda Armstrong sah es gern, dass es im Leben ihres Sohnes jetzt ein verantwortungsbewusstes männliches Vorbild gab, und Neal war auch für sie ein verständnisvoller Zuhörer in einer schwierigen Übergangsphase zwischen zwei Ehen.4

Neal erkannte schon bald, dass Armstrongs Unsicherheit und sein Zorn auf seine schwierigen Familienverhältnisse zurückzuführen waren: Vom biologischen Vater fühlte er sich im Stich gelassen, vom Adoptivvater schlecht behandelt. Armstrong war nicht gerne allein, also traf Neal ihn oft bereits zum Frühstück im Upper Crust Café, ganz in der Nähe seines eigenen Hauses, und zum Mittagessen in einer Sportlerkneipe namens »The Tavern«. Drei- oder viermal pro Woche aß Armstrong mit den Neals zu Abend. Mit dabei waren die drei Kinder der Neals und ab und zu ein Freund Armstrongs oder ein Student, um den Neal sich kümmerte. Dabei ging es nicht besonders vornehm zu, manchmal gab es nichts als im Schongarer gekochte Bohnen, die mit Plastikbesteck von lauter verschiedenen Tellern gegessen wurden, als befände man sich auf einem Campingausflug. Aber sie waren eine Familie.

Neals Frau Frances und Armstrong waren die Spaßmacher in dieser Gruppe. Manchmal jagten sie einander um den Esstisch. Sie stimmten »Ice Ice Baby« an, einen Song des Star-Rappers Vanilla Ice aus Dallas, der damals an der Spitze der Charts stand. Einer sang »Ice Ice Baby!«, der andere antwortete »Too cold, too cold!« An manchen Tagen verlegten sie ihre Show auf das Motorboot der Neals, auf dem sie den Tag mit Schwimmen oder Wasserskifahren verbrachten.

Diese Zeit war wohl die glücklichste und unkomplizierteste in Armstrongs Leben. Er musste sich nicht mehr mit Terry Armstrong auseinandersetzen, und die aktuellen Eheprobleme seiner Mutter spielten sich 350 Kilometer weiter nördlich ab, in Plano, das über den Interstate Highway 35 zu erreichen war. Seine Welt waren Austin und Neal, der sein Zuhause oder seine Wohnungen gerne für Mitglieder der Radsport-Nationalmannschaft öffnete – zum Beispiel für künftige Teamkollegen Armstrongs bei U.S. Postal wie George Hincapie, Frankie Andreu, Chann McRae und Kevin Livingston –, die mit Armstrong im texanischen Hügelland trainieren wollten. Die Neals schauten Armstrong am Tag nach dem Einzug in die neue Wohnung bei einer Fahrt in Lago Vista zu, etwa 55 Kilometer von Austin entfernt. Armstrong sah dabei nicht gut aus und gab im Gespräch mit Neal zu, dass er am Vorabend lange unterwegs gewesen war und in einem Striplokal in Austin, dem »Yellow Rose«, Alkohol getrunken hatte. Neal nahm das nicht weiter wichtig, er sah in Lance vor allem einen Teenager, der seine neu erworbenen Freiheiten auslotete.

Armstrongs Anruf bei J. T. Neal an einem Augustmorgen des Jahres 1991 ging noch vor Sonnenaufgang ein. Ob Neal nach San Marcos kommen und ihn abholen könne? Armstrong saß nicht irgendwo am Straßenrand im menschenleeren Hinterland der Großstadt. Er war nicht auf einer Marathon-Trainingsfahrt, bei der ihn ein platter Reifen gestoppt hatte. Er war im Gefängnis. Am Vorabend hatte er, etwa 50 Kilometer von Austin entfernt, mit einer Gruppe von Studenten der Southwest Texas State University gefeiert. In einem Freiluft-Jacuzzi hatten sie dabei einen solchen Lärm veranstaltet, dass die Polizei angerückt war, um für Ruhe zu sorgen. Aber das war nur Armstrongs erste Begegnung mit der Polizei an diesem Abend. Bei der zweiten wurde es ernst. Er war wegen seiner unsicheren Fahrweise gestoppt worden und hatte gedacht, er könne sich herausreden.5 Was war schon dabei, dass er betrunken gewirkt und den Alkoholtest verweigert hatte? Er war sich sicher, dass es die Polizisten beeindrucken würde, wenn er ihnen sagte, wer er war – der beste Nachwuchs-Radrennfahrer im ganzen Land. Der Trick hätte vielleicht funktioniert, wenn er ein Quarterback gewesen wäre, aber das Allerletzte, was einen texanischen Polizisten beeindruckte, war ein Typ, der mit seinen radfahrerischen Fähigkeiten prahlte. Nein, dieser Auftritt führte direkt ins County-Gefängnis.

Neal, der Armstrongs Angewohnheit, nach dem Trinken ins Auto zu steigen, mit Sorge sah, kam am darauffolgenden Tag und holte ihn aus dem Gefängnis von San Marcos. Monate später erhielt Armstrong eine Benachrichtigung, in der man ihm mitteilte, dass er eventuell seine Fahrerlaubnis verlieren würde. Er gab diesen Brief umgehend an Neal weiter. Auf dem Umschlag notierte er: »J. T. – das hier kam heute?? Ich wünsche Dir wunderschöne Weihnachten! Lance.« Neal handelte als Anwalt und Freund zugleich und half Armstrong, die Beschuldigung zu entkräften und seinen Führerschein zu behalten. Im Gegenzug erhielt Neal von Armstrong etwas Seltenes und Kostbares: sein Vertrauen. Armstrong schickte ihm von seinen Trainingsfahrten und Rennen Postkarten, so zum Beispiel diese kurze, auf den 16. August 1991 datierte Nachricht aus dem »Wein- und Ferienort Bischoffingen« in Deutschland:

J. T. – wie geht’s? Deutschland ist sehr schön. Wie Du vielleicht weißt, ist es nur noch wenig mehr als eine Woche bis zu den Weltmeisterschaften, und ich bin höllisch nervös. Wenigstens fahre ich jetzt richtig gut! Wär’ schön, wenn Du hier wärst! Grüße von den Jungs. Lance

Neal war eingestandenermaßen ein Radsport-Groupie, der zwar auch selbst fuhr, aber nur zur Erholung. Er genoss den Umgang mit den Sportlern, die ihn akzeptierten und respektierten. Er hatte den Traumjob eines Radsportfans. Neal gefiel es, dass die Fahrer der Nationalmannschaft und amerikanische Radprofis wussten, wer er war. Manche riefen ihn sogar an, um seinen Rat einzuholen. In Hincapies Fall klang das so: Der Zoll stoppte mich, und ich hatte einen Koffer bei mir, randvoll mit EPO und anderen Mitteln. Was soll ich tun?6 Manche Fahrer sprachen offen mit ihm über ihren Dopingkonsum, zum Beispiel Armstrong und Hincapie. Ob Neal in irgendeinem Fall als Komplize fungierte, ist ungeklärt. Er sagte allerdings, ein Betreuerjob in den Vereinigten Staaten sei etwas anderes als in Europa, wo man für diese Tätigkeit schon seit Langem genaue Kenntnisse über Pharmazeutika brauchte. Das hatte er von Kollegen gehört, die bereits in Übersee gearbeitet hatten. Neal verabreichte Armstrong nur ein einziges Mal eine Injektion, nach seinen eigenen Angaben handelte es sich dabei um eine Vitaminspritze ins Hinterteil.

Armstrong verbarg die Tatsache nicht, dass er regelmäßig Spritzen erhielt. Neal sagte immer, dass Armstrong bestimmte Dinge nicht gerne selbst erledigte und der Ansicht war, es stehe ihm zu, sich von einem Helfer unentgeltlich das Auto waschen oder einen Tisch im Restaurant reservieren zu lassen. Anfangs verabreichte er sich auch die Spritzen nicht gern selbst. Die Studentin Nancy Geisler, Neals Büroassistentin, die mit beiden Männern eng zusammenarbeitete, sagte, Neal habe sie einmal gebeten, Armstrong eine Vitaminspritze zu geben, weil er unterwegs sei und die Angelegenheit nicht selbst erledigen könne.7 Sie nahm damals an, so etwas gehöre zu Armstrongs Trainingsplan. Armstrong fand nichts dabei, als sie einsprang. Sie sah kein Etikett auf der Ampulle, aus der sie die zu injizierende Substanz mit der Spritze aufzog, und vermutete, dass Armstrong dopte und Neal Bescheid wusste. Erst Jahre später kam ihr der Gedanke: »Habe ich bei einer illegalen Sache mitgemacht?«8

Nach Neals Aufzeichnungen benutzte Armstrong Spritzen und Infusionen, um sich schneller zu erholen und sich vor einem Rennen noch einen Energieschub zu verpassen. Am Vorabend des Straßenrennens bei den Olympischen Spielen 1992 in Barcelona kam Mannschaftskollege Timm Peddie in Armstrongs Hotelzimmer und sah Neal und eine Schar US-Radsportfunktionäre, die einen auf seinem Bett liegenden und an eine Infusion angeschlossenen Armstrong umstanden.9 Peddie staunte, wie offen diese Prozedur vor sich ging. Alle Anwesenden starrten den unerwarteten Gast an, bis dieser so schnell wieder verschwand, wie er gekommen war. Er war sich damals nicht sicher gewesen, was da vor sich ging. Vielleicht eine Bluttransfusion? Eine Elektrolyt- oder Protein-Infusion? Er wusste nur, dass er selbst vor einem Rennen noch nie eine Infusion oder etwas in dieser Art erhalten hatte. Armstrong war offensichtlich ein besonderer Fall.

Im US-Radrennsport gab es zu Beginn der Neunzigerjahre einen einzigen Star: Greg LeMond, der 1986 als erster Amerikaner die Tour de France gewonnen hatte und diesen Erfolg 1989 und 1990 wiederholte. Aber seine Siege wirkten sich kaum auf die Sportszene in den Vereinigten Staaten aus. LeMond fuhr für eine europäische Mannschaft, und seine Erfolge erzielte er hauptsächlich in Europa, außerhalb des Wahrnehmungsbereichs amerikanischer Sportfans. Armstrong jedoch betrat die Szene mit einer dramatischen Vorgeschichte – die notleidende alleinerziehende Mutter, die für ihn auf den Highschool-Abschluss verzichtet hatte –, und er fuhr ab 1992 für Motorola, ein amerikanisches Team. Er war jung und charismatisch, drauf und dran, ein Star zu werden, und er sehnte sich nach dem damit verbundenen Ruhm.

Armstrong drängte darauf, dass Steve Penny, der Geschäftsführer des US-Radsportverbandes, ihn so intensiv wie möglich vermarktete, um die Sportart insgesamt stärker ins Blickfeld der Öffentlichkeit zu rücken.10 Radsportnachrichten waren im Sportteil der Zeitungen bis jetzt nur selten über Meldungen hinausgekommen. Penny überredete Descente, den neuen Bekleidungssponsor des Radsportverbands, ein Poster zu drucken, das die vier Spitzenfahrer des Nationalteams zeigte: Armstrong, Hincapie, Bobby Julich und Jeff Evanshine, der 1991 die Juniorenweltmeisterschaft im Straßenrennen gewonnen hatte. Sie alle sollten später zugeben, gedopt zu haben, oder wegen Verstößen gegen die Dopingbestimmungen gesperrt werden. Auf dem Poster zeigten die Fahrer allesamt eine Miene, die grimmige Entschlossenheit vermittelte, den Hintergrund bildete eine dramatische Ansicht des Pikes Peak in Colorado. Am linken unteren Bildrand waren die »Regeln des US-Teams« abgedruckt:

Nr. 1: Leg dich nicht mit Lance, Bobby, George und Jeff an.

Nr. 2: Es wird nicht gejammert.

Nr. 3: Es zählt nur das, was du unter Druck bringst.

Nr. 4: Es gibt keine »Hintertür«.11

Nr. 5: Es gibt keine Regeln: Die Goldmedaille in Barcelona ist das Einzige, was zählt.

So sehr Armstrong den Ruhm liebte, sein Geldhunger kam noch vor dem Wohlgefühl, das sich mit dem Prominentenstatus verband. J. T. Neal spürte das schon zu einem frühen Zeitpunkt. Armstrong wurde seinem Eindruck nach vom Geld angetrieben – ihn beschäftigte, wie man zu Geld kam, wie man es beisammen hielt und was man tun musste, um zu noch mehr Geld zu kommen, sei es moralisch oder unmoralisch.

Im Jahr 1993 war Armstrong auf der Jagd nach einer Eine-Million-Dollar-Prämie. Die Apothekenkette Thrift Drug hatte das Preisgeld für Siege bei drei großen amerikanischen Radrennen ausgesetzt – beim Thrift Drug Classic in Pittsburgh, beim Kmart Classic in West Virginia und bei der CoreStates-USPRO-Landesmeisterschaft in Philadelphia. Bei diesen Rennen waren jeweils unterschiedliche Stärken gefragt: Pittsburgh war ein anspruchsvolles eintägiges Rennen, West Virginia eine harte Rundfahrt mit sechs Etappen, und in Philadelphia kam es vor allem auf Sprinterqualitäten an.

Der damals erst 21-jährige Armstrong gewann das erste Rennen und überraschte die gesamte Branche. Nach fünf Etappen des zweiten Rennens zählte er zu den Favoriten auf den Gesamtsieg. Die Millionen-Prämie vor Augen, entwickelten dem Vernehmen nach mehrere Fahrer des Motorola-Teams einen Plan, der den Sieg garantieren sollte.12 Angeblich boten sie einigen Fahrern des Coors-Light-Teams eine Pauschalsumme von 50 000 Dollar an, wenn sie Armstrong bei der letzten Etappe des zweiten und während des gesamten dritten und letzten Rennens nicht attackierten.13 Coors Light war eine starke Mannschaft mit Fahrern, die ebenfalls zu den besten im gesamten Feld zählten. Spätabends besprachen mehrere Fahrer aus beiden Teams in Armstrongs Hotelzimmer den Deal.14 Beide Teams sollten profitieren, wenn Armstrong die Million einfahren würde. Armstrong würde das Preisgeld erhalten – einen Betrag von 600 000 Dollar – und 200 000 Dollar davon behalten, während der Rest unter seinen Mannschaftskollegen und den anderen Fahrern, die ihm zum Sieg verholfen hatten, aufgeteilt werden würde.15 Nach Angaben von Stephen Swart, einem Coors-Light-Fahrer, der behauptete, an diesen Gesprächen teilgenommen zu haben, sollte jeder Fahrer seiner Mannschaft einen Anteil von 3000 bis 5000 Dollar erhalten.16 Solange niemand erfuhr, was sich in Wirklichkeit abgespielt hatte, würde Armstrongs Eine-Million-Dollar-Jackpot außerdem dem Radsport die Art von positiver Publicity verschaffen, die notwendig war, um an Bedeutung zu gewinnen. Alle Beteiligten konnten also nur gewinnen.

Die Praxis, Rennsiege zu manipulieren, gab es schon seit Jahrzehnten, sie war in dieser Sportart so fest verankert wie das Doping. Joe Parkin, ein Amerikaner, der in Europa Radrennen fuhr, schrieb darüber in seinem Buch A Dog in a Hat. Er behauptete, dass es in Europa Ende der Achtzigerjahre gängige und akzeptierte Praxis war, Siege zu ver- und zu erkaufen.17 Ein Fahrer, der in seiner Heimatstadt zu einem Rennen antrat, zahlte für einen Sieg unter Umständen mehrere Tausend Dollar. Alle Beteiligten waren zufrieden und hatten hinterher die Taschen voll Geld. Parkin schrieb: »Meine Erfahrungen als Profiradfahrer in Europa haben mein moralisches Empfinden so weit verschoben, dass mir vieles, was normale Menschen verstört, gar nicht auffällt.«

Armstrong gewann auch das zweite Rennen. Dann kam der letzte Wettkampf. In der entscheidenden Phase des Rennens in Philadelphia befand sich Armstrong in einer Ausreißergruppe von sechs Fahrern, aus der er sich löste, als es auf ein unglaublich steiles Teilstück, den sogenannten Manayunk Wall, ging. Keiner der anderen Fahrer in der Ausreißergruppe folgte ihm, sodass er das Rennen durch diesen vermeintlich heldenhaften Solo-Ausritt gewann.

Vor dem Rennen war Neal davon ausgegangen, Armstrong würde gewinnen, weil er der stärkste Fahrer im Feld war. Hinterher erfuhr er, dass sein Schützling sich den Weg aufs Siegertreppchen erkauft hatte. Armstrong erzählte Neal, dass er in der Schlussphase des Rennens den italienischen Fahrer Roberto Gaggioli bestochen habe, damit dieser ihn gewinnen ließ. Er habe Gaggioli, einem seiner härtesten Widersacher, 10 000 Dollar geboten, damit dieser sich zurückhielt, als Armstrong seinen Solo-Ausreißversuch unternahm, und der Italiener sei auf die Bestechung eingegangen.18 Gaggioli erklärte später, Armstrong habe ihm 100 000 Dollar gegeben, aber dieser Betrag klingt unwahrscheinlich. Neal war angesichts dieser offenkundig schamlosen Unehrlichkeit unbehaglich zumute, und er sagte, er habe Armstrong für diesen Betrug hart kritisiert. »Hör um Himmels willen auf, darüber zu quatschen«, riet er Armstrong.19

Neal war auch über Teammanager Jim Ochowicz erbost, von dem er vermutete, dass er an dieser Absprache beteiligt gewesen war. Er mochte ihn ohnehin nicht besonders und klagte, Ochowicz wisse nur wenig über Renntaktik im Radsport. Sein einziger Beitrag bestehe darin, sich mit Erdnussbutter-mit-Fruchtgelee-Sandwiches vollzustopfen, die im Mannschaftsfahrzeug für ihn bereitgehalten wurden. Nach Neals Eindruck übte Ochowicz einen schlechten Einfluss auf Armstrong aus, den jungen Burschen musste man zu Regelverstößen nicht lange drängen. Neal sah vorher, dass Armstrong seine Moral über kurz oder lang aufgeben würde. Nach Angaben einer Person mit unmittelbaren Kenntnissen vom Geschehen gewann Armstrong auch die Clásica de San Sebastián von 1995 nur deshalb, weil er einen anderen Fahrer noch auf den letzten Kilometern bestach. Er sei dabei jedoch nur einem etablierten Brauch gefolgt.20 Wenn Armstrong jemals Skrupel hatte, trugen die fest verankerten Gepflogenheiten in dieser Sportart dazu bei, ihn davon zu überzeugen, dass ein Gewissen fehl am Platz war. Bei der Fernsehübertragung der Preisverleihung fasste Armstrong den Sieg mit einer ironischen Anspielung auf das tatsächliche Geschehen so zusammen: »Heute haben alle gewonnen.«

In diesem Jahr, 1993, erlebte Armstrong einen kometenhaften Aufstieg. Er gewann nicht nur die von Thrift Drug ausgelobte Eine-Million-Dollar-Prämie, sondern auch noch seine erste Etappe bei der Tour de France. Und im August wurde er im Alter von 21 Jahren zum zweitjüngsten Straßenweltmeister aller Zeiten. Motorola hatte eigentlich geplant, aus dem Radsport auszusteigen, aber Armstrongs glanzvolle Saison verschaffte seinem Team die begründete Aussicht, einen neuen Sponsor zu finden, vielleicht sogar einen, der noch sehr viel mehr Geld mitbrachte.

Urplötzlich galt der Radrennsport auch in den USA etwas. Reporter aus der ganzen Welt kamen nach Austin. Der Fernsehsender ABC News interviewte Armstrong und seine Mutter, nannte ihn einen »Wunderknaben« und spielte Linda Armstrongs Rolle als minderjährige Mutter hoch.21 »Ich war jung und schwanger, und ich hatte Angst«, sagte sie.22 Lance erzählte: »Wir mussten in unserem Leben eine Menge Hindernisse und Widerstände aus dem Weg räumen. Alle diese Leute schrieben sie ab, und sie schrieben mich ab.«23 Zeitungsberichten war zu entnehmen, er habe seinen Vater nie kennengelernt, und Lindas zweite Ehe sei nach zehn Jahren am Ende gewesen. Diese Lügen machten Armstrongs Geschichte für die Medien noch attraktiver. »Lance ist genau der Typ, den unser Land braucht, um Begeisterung für den Radsport zu wecken«, wurde Steve Penny, der Marketingchef des US-Radsportverbandes, in einem Zeitungsartikel zitiert. »Wenn jemand nach einem Helden sucht, um ihn zu unterstützen, gibt es keinen passenderen.«24 Teammanager Ochowicz sagte, er sei von Armstrongs Eine-Million-Dollar-Sieg begeistert. »Das ist ein großartiger Tag für den Radsport in den Vereinigten Staaten.« Am Jahresende standen Armstrong und das Team so gut da, dass Motorola den Vertrag um ein Jahr verlängerte. Die Mannschaft blieb beisammen. Armstrong verpasste Penny einen neuen Namen: »Dime.«

Der nach Austin zurückgekehrte Armstrong kaufte sich für 70 000 Dollar einen neuen Sportwagen, einen schwarzen Acura NSX. Er bat Neal, die Wohnanlage um eine Garage zu erweitern. Neal weigerte sich, aber nur kurz. Er konnte ihm nichts abschlagen. In jenem Jahr bedankte sich Armstrong dafür zu Weihnachten mit mehreren Geschenken. Eines davon war ein signiertes Weltmeister-Regenbogentrikot. Mit schwarzem Filzstift schrieb er darauf: »J. T., ich hatte das große Glück, dass unsere Wege sich kreuzten. Du bist wahrlich meine rechte Hand! Vom besten Freund ganz zu schweigen! Lance Armstrong.« Außerdem schenkte er ihm eine Rolex mit der Gravur: »Für J. T. Von LANCE ARMSTRONG.« Neal nahm die Uhr als Symbol für Armstrongs Dankbarkeit, ja sogar für seine Liebe. Einige Jahre lang trug er sie mit Stolz – bis der Tag kam, an dem er beschloss, sie für immer abzulegen.

Lance Armstrong

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