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Buch 24

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1 (1) Während dieser Ereignisse auf Sizilien hatten sich unterdessen in Griechenland die Könige Ptolemaios Keraunos85, Antiochos86 und Antigonos87 entzweit und standen im Krieg.88 (2) Dadurch wurden beinahe alle griechischen Städte unter der Führung der Spartaner dazu ermutigt, auf die Freiheit zu hoffen, als wäre ihnen jetzt eine günstige Gelegenheit gegeben. Deshalb schickten sie gegenseitig Gesandte, durch die sie sich zu gemeinsamen Bündnissen verpflichteten, und stürzten sich in den Krieg. (3) Und damit es nicht so aussah, als hätten sie gegen Antigonos, dessen Herrschaft sie unterstanden, einen Krieg begonnen, griffen sie seine Bundesgenossen, die Aitoler, an. (4) Als Vorwand für den Krieg diente ihnen dabei, dass die Aitoler89 das kirrhaische90 Gebiet, das nach einhelliger Überzeugung aller Griechen dem Apollon heilig war, gewaltsam besetzt hätten. (5) Für diesen Krieg wählten sie Areus91 zum Feldherrn, der mit dem vereinigten Heer die Städte und die Saaten in diesem Gebiet plünderte und alles in Brand steckte, was man nicht wegtragen konnte. (6) Als die aitolischen Hirten das von den Bergen aus sahen, schlossen sich etwa 500 von ihnen zusammen. Sie verfolgten die Feinde, die sich zerstreut hatten und gar nicht wussten, wie groß ihre Schar war, weil ihnen die Furcht und der Rauch von den Bränden die Sicht nahmen, metzelten etwa 9000 nieder und schlugen die Räuber in die Flucht. (7) Als dann die Spartaner den Krieg wieder aufnahmen, verweigerten ihnen viele Städte ihre Hilfe, denn sie glaubten, dass die Spartaner die Vorherrschaft über Griechenland und nicht etwa seine Freiheit anstrebten. (8) Unterdessen endete der Krieg zwischen den Königen. Denn Ptolemaios vertrieb Antigonos und bemächtigte sich der Herschaft über ganz Makedonien. Dann schloss er Frieden mit Antiochos und trat in eine verwandschaftliche Beziehung zu König Pyrrhos, mit dem er seine Tochter92 vermählte.

|73|2 (1) Als Ptolemaios damit von außen keine Gefahr mehr drohte, ging er in seiner frevelhaften Skrupellosigkeit dazu über, Verbrechen an seiner eigenen Familie zu planen, und spann eine Intrige gegen seine Schwester Arsinoe93, um ihren Söhnen das Leben und ihr selbst ihren Besitz, die Stadt Kassandreia94, zu rauben. (2) Seine erste List bestand darin, Liebe für seine Schwester zu heucheln und um ihre Hand anzuhalten. Denn er konnte an die Söhne seiner Schwester, deren Reich er an sich gerissen hatte, nur dann herankommen, wenn er Eintracht vortäuschte. (3) Doch die verbrecherische Neigung des Ptolemaios war seiner Schwester bekannt. (4) Als sie ihm daher keinen Glauben schenkte, ließ er ihr sagen, dass er ihren Söhnen die Mitregentschaft überlassen wolle; er habe nicht deshalb mit Waffengewalt gegen sie gekämpft, weil er ihnen die Herrschaft entreißen, sondern weil er sie ihnen zum persönlichen Geschenk machen wolle. (5) Zu diesem Zweck solle Arsinoe jemanden schicken, damit dieser den Eid des Ptolemaios bezeuge; und in Gegenwart dieses Zeugen werde er, Ptolemaios, sich dann selbst vor den heimischen Göttern mit jedem von ihr gewünschten Schwur binden. (6) Arsinoe war unschlüssig, was sie tun sollte: Denn sie fürchtete, entweder durch einen Meineid getäuscht zu werden, wenn sie jemanden sandte, oder aber den Zorn ihres grausamen Bruders herauszufordern, wenn sie niemanden sandte. (7) Weil sie um ihre Kinder mehr Angst hatte als um sich selbst und der Meinung war, dass sie diese durch ihre Heirat schützen könne, schickte sie Dion, einen ihrer Vertrauten. (8) Man führte ihn in den hochheiligen Tempel des Jupiter, den die Makedonen seit ältester Zeit verehrten. Dann legte Ptolomaios seine Hände auf die Altäre, berührte die Götterbilder selbst sowie die Götterpolster und schwor unter völlig unbekannten und entsetzlichen Selbstverwünschungen, (9) dass er aufrichtig und ehrlich um die Hand seiner Schwester anhalte; er werde sie zur Königin ernennen und sie nicht dadurch in ihrer Ehre kränken, dass er eine andere Frau oder andere Kinder als ihre eigenen Söhne haben werde. (10) Nachdem Arsinoe dadurch Hoffnung geschöpft und ihre Furcht verloren hatte, führte sie selbst mit ihrem Bruder eine Unterredung. Und weil seine Miene wie auch seine zärtlichen Blicke nicht weniger Aufrichtigkeit versprachen als sein Eid, willigte sie in die Ehe mit ihrem Bruder ein, obwohl ihr Sohn Ptolemaios laut ausrief, hinter dem ganzen Plan stecke eine Tücke.

3 (1) Die Hochzeit wurde mit großem Prunk und unter allgemeiner Freude gefeiert. (2) Ptolemaios rief auch das Heer zu einer Versammlung, setzte seiner Schwester ein Königsdiadem auf und rief sie zur Königin aus. (3) Arsinoe war außer sich vor Freude über diesen Titel, denn sie glaubte, das wiederbekommen zu haben, was sie mit dem Tod ihres vorigen Gatten Lysimachos95 verloren hatte. Daher lud sie ihren Gatten von sich aus in ihre Stadt Kassandreia ein, ebendiese Stadt, nach der er so gierte und für die er die Intrige überhaupt erst angezettelt hatte. (4) Arsinoe reiste nun vor ihrem Gatten dorthin und bestimmte den Tag seiner Ankunft zu einem Festtag für die Stadt. Sie ließ die Häuser, die |75|Tempel und alles andere schmücken und überall Altäre und Opfertiere verteilen. (5) Und sie forderte ihre Söhne, den sechzehnjährigen Lysimachos und den um drei Jahre jüngeren Philippos, die beide auffallend hübsch waren, dazu auf, Ptolemaios bekränzt entgegenzugehen. (6) Um seine List zu verbergen, umarmte Ptolemaios sie mit einer leidenschaftlichen Zuneigung, die zu übertrieben war, um echt zu sein, und überschüttete sie lange mit Küssen. (7) Sobald man aber zum Tor kam, befahl er seinen Leuten, die Burg einzunehmen und die Knaben zu töten. Diese flüchteten sich zu ihrer Mutter und wurden in ihren Armen mitten unter ihren Küssen abgeschlachtet. (8) Arsinoe schrie dabei laut, welchen schrecklichen Frevel sie denn mit oder nach ihrer Hochzeit begangen habe. Mehrfach bot sie den Mördern an, sie selbst anstelle ihrer Söhne zu töten; immer wieder umarmte sie die Knaben, um sie mit ihrem eigenen Körper zu decken, und wollte die Wunden abfangen, die ihren Kindern zugefügt wurden. (9) Zuletzt nahm man ihr sogar die Möglichkeit, ihre Söhne zu bestatten, und zerrte sie mit zerrissenem Gewand und zerrauften Haaren nur in Begleitung von zwei Sklaven aus der Stadt. Da ging sie nach Samothrake96 in die Verbannung und war umso unglücklicher, als sie nicht gemeinsam mit ihren Söhnen hatte sterben dürfen. (10) Doch für Ptolemaios blieben die Verbrechen nicht ungesühnt: Denn die unsterblichen Götter rächten so viele Meineide und so grausame Verwandtenmorde; und deshalb wurde Ptolemaios kurz danach von den Galliern seiner Königsherrschaft beraubt und gefangen genommen und verlor, wie er es verdient hatte, sein Leben durch das Schwert.

4 (1) Als die Gallier nämlich einen Bevölkerungsüberschuss hatten und die Länder, in denen sie geboren waren, sie nicht mehr fassen konnten, schickte man wie einen ‚heiligen Frühling‘97 300.000 Leute aus, die sich neue Wohnsitze suchen sollten. (2) Ein Teil von ihnen ließ sich in Italien nieder, nahm dann die Stadt Rom ein und steckte sie in Brand;98 (3) ein anderer Teil ließ sich von den Vögeln führen – denn die Gallier verstehen sich besser als alle anderen auf die Kunst, den Vogelflug zu deuten – und drang in die illyrischen Buchten ein. Dabei vernichteten sie die Barbaren und ließen sich dann in Pannonien99 nieder. (4) Sie waren ein wildes, kühnes und kriegerisches Volk. Als Erste nach Herakles überquerten sie die unbezwungenen Gipfel der Alpen und die wegen ihrer Kälte unbewohnbaren Gebiete – eine Tat, die den Mut des Herakles bewunderungswürdig und seine Unsterblichkeit glaubhaft erscheinen ließ.100 (5) Dort unterwarfen die Gallier die Pannonier und führten viele Jahre lang verschiedene Kriege gegen ihre Grenznachbarn. (6) Ermutigt durch ihren Erfolg, teilten sie sich dann in mehrere Heerestrupps auf und zogen teils nach Griechenland, teils nach Makedonien, wobei sie alles mit dem Schwert niederstreckten. (7) Und allein der Begriff ‚Gallier‘ jagte allen einen solchen Schrecken ein, dass sogar Könige, die nicht angegriffen wurden, freiwillig mit einer gewaltigen Geldsumme den Frieden erkauften. (8) Nur der Makedonenkönig Ptolemaios blieb ohne |77|Furcht, als er von der Ankunft der Gallier hörte, und trat ihnen, getrieben von den Furien, den Rächerinnen des Verwandtenmordes, mit wenigen, ungeordneten Truppen entgegen, als wäre es ebenso leicht, Kriege zu führen, wie Verbrechen zu begehen. (9) Er wies sogar eine Gesandtschaft der Dardaner101 ab, die ihm 20.000 Bewaffnete zur Unterstützung anbot, und setzte überdies noch die beleidigende Aussage hinzu, es sei um Makedonien geschehen, wenn sie, die alleine den ganzen Osten bezwungen hätten, nun zum Schutz ihrer Grenzen die Dardaner bräuchten. (10) Als Soldaten habe er die Söhne derer, die unter König Alexander auf der ganzen Erde siegreich Kriegsdienst geleistet hätten. (11) Als diese Worte dem Dardanerkönig gemeldet wurden, sagte er, das berühmte Königreich Makedonien werde in Kürze durch die Unbesonnenheit eines unreifen Jünglings zu Fall kommen.

5 (1) Um die Gesinnung der Makedonen zu erkunden, schickten die Gallier nun unter der Führung des Belgius102 Gesandte zu Ptolemaios und boten ihm Frieden an, wenn er ihn erkaufen wolle. (2) Doch Ptolemaios prahlte vor seinen Leuten, dass die Gallier aus Furcht vor einem Krieg um Frieden bäten. (3) Und nicht weniger übermütig als bei seinen Vertrauten brüstete er sich vor den Gesandten, er werde ihnen nur dann Frieden gewähren, wenn sie ihre führenden Männer als Geiseln stellten und ihre Waffen ablieferten; denn er werde ihnen nur dann Glauben schenken, wenn sie unbewaffnet seien. (4) Als diese Botschaft überbracht wurde, lachten die Gallier und riefen auf allen Seiten, Ptolemaios werde schon bald merken, ob sie ihm in ihrem oder in seinem Interesse den Frieden angeboten hätten. (5) Nach einigen Tagen wurde eine Schlacht geschlagen; die Makedonen wurden besiegt und niedergemetzelt; (6) Ptolemaios erlitt viele Verwundungen und wurde gefangen genommen. Man schlug ihm den Kopf ab, steckte ihn auf eine Lanze und trug ihn zur Abschreckung der Feinde auf dem ganzen Schlachtfeld herum. (7) Nur wenige Makedonen konnten sich durch Flucht retten; die Übrigen wurden entweder gefangen genommen oder getötet. (8) Als das in ganz Makedonien gemeldet wurde, schloss man die Tore der Städte, und alles war von Kummer erfüllt. (9) Die Makedonen trauerten darüber, dass sie nach dem Verlust ihrer Söhne kinderlos waren, fürchteten den Untergang ihrer Städte und riefen die Namen ihrer Könige Philipp und Alexander, als könnten diese ihnen wie Gottheiten zu Hilfe kommen. (10) Unter deren Herrschaft seien sie nicht nur sicher, sondern sogar Sieger über die ganze Welt gewesen. (11) Sie baten Philipp und Alexander, ihre eigene Heimat zu schützen, die sie durch ihre ruhmvollen Taten bis in den Himmel gehoben hätten, und ihnen in ihrer Not Hilfe zu bringen, nachdem sie die wahnwitzige Unbesonnenheit ihres Königs Ptolemaios ins Verderben gestürzt habe. (12) Während nun alle verzweifelten, war Sosthenes103, einer der einflussreichsten Makedonen, der Meinung, dass sich das Handeln nicht nur auf Beten beschränken dürfe. Deshalb versammelte er die jungen Männer, wies |79|die Gallier, die noch im Siegestaumel waren, in ihre Schranken und verteidigte Makedonien gegen Plünderung durch die Feinde. (13) Wegen dieser Verdienste, die er sich durch seine Tapferkeit erworben hatte, wurde er vielen Adligen, die nach der Königsherrschaft über Makedonien trachteten, vorgezogen, obwohl er selbst kein Adliger war. (14) Und als das Heer ihn zum König ausrief, brachte er persönlich die Soldaten dazu, ihm nicht als König, sondern nur als Feldherrn die Treue zu schwören.

6 (1) Inzwischen hatte Brennus104, unter dessen Führung ein Teil der Gallier nach Griechenland geströmt war, vom Sieg seiner Landsleute gehört, die unter der Führung des Belgius die Makedonen besiegt hatten. Weil er entrüstet war, dass sie nach ihrem Sieg die reiche Beute mit all dem Raubgut aus dem Osten so leichtfertig zurückgelassen hatten, zog er selbst 150.000 Fußsoldaten und 15.000 Reiter zusammen und fiel in Makedonien ein. (2) Während er nun Felder und Höfe verwüstete, trat ihm Sosthenes mit einem gerüsteten makedonischen Heer entgegen. Doch die Wenigen wurden von den Vielen und die Ängstlichen von den Starken mit Leichtigkeit besiegt. (3) Als sich nun die besiegten Makedonen hinter ihren Stadtmauern in Sicherheit gebracht hatten, verwüstete der siegreiche Brennus die Felder von ganz Makedonien, ohne dass ihn jemand daran hinderte. (4) Dann wandte er seine Aufmerksamkeit den Tempeln der unsterblichen Götter zu, als ob irdische Beute schon zu gering für ihn wäre, und machte den albernen Scherz in seiner Torheit, die reichen Götter müssten den Menschen etwas schenken. (5) Deshalb schlug er sofort den Weg nach Delphi ein und stellte damit die Beute über die Ehrfurcht vor dem Göttlichen und das Gold über das Bedenken, die unsterblichen Götter zu kränken. Er behauptete, die Götter bräuchten keinen Reichtum, da sie ihn ja üblicherweise an die Menschen verschenkten. (6) Der Tempel des Apollon in Delphi liegt auf dem Berg Parnassos105, auf einer Klippe, die nach allen Seiten steil überhängt. Dort bildete sich eine Bürgerschaft aus den vielen Menschen, die voller Bewunderung für diesen erhabenen Ort von überall her zusammenkamen und sich auf diesem Felsen ansiedelten. (7) Und so schützen den Tempel und die Gemeinde nicht Mauern, sondern jäh abfallende Felsen und nicht von Menschenhand gemachte, sondern natürliche Befestigungen, sodass sich nicht eindeutig entscheiden lässt, ob das Bollwerk des Ortes oder die Erhabenheit des Gottes hier mehr Ehrfurcht erregt. (8) In der Mitte weicht die Felsklippe etwas zurück und bildet eine Art Theaterrund. Deshalb hört man die Rufe von Menschen und den gelegentlich hinzukommenden Klang von Trompeten vervielfacht und auch lauter, als der ursprüngliche Schall tatsächlich war, weil die Felswände hallen und untereinander widerhallen. Das vergrößert meist bei den Menschen, die ein solches Phänomen nicht kennen, die Furcht vor dem erhabenen Ort und ruft Verwunderung und Staunen hervor. (9) In diesem Felsenrund befindet sich etwa auf halber Höhe des Berges eine schmale Ebene und in ihr ein tiefes Loch in der |81|Erde, das zur Verkündung der Orakel offensteht. Aus dem Loch wird ein kalter Lufthauch von einer unbekannten Kraft wie von einem Wind in die Höhe getrieben. Er versetzt die Seherinnen in Ekstase, erfüllt sie mit göttlicher Kraft und zwingt sie, den Ratsuchenden Antworten zu erteilen. (10) Dort sind auch viele wertvolle Geschenke von Königen und Völkern zu sehen, und sie bestätigen durch ihre Pracht die Dankbarkeit derjenigen, die ihre Gelübde einlösen, und die Antworten der Götter.

7 (1) Als Brennus nun den Tempel erblickte, überlegte er lange, ob er sein Vorhaben sofort in Angriff nehmen oder aber seinen vom Marsch erschöpften Soldaten die Frist von einer Nacht geben sollte, damit sie wieder zu Kräften kommen konnten. (2) Die Anführer der Ainianer106 und der Thessalier107, die sich ihm angeschlossen hatten, um einen Anteil an der Beute zu erhalten, forderten ihn auf, die Rast zu verkürzen, solange die Feinde noch nicht vorbereitet seien und ihnen der Schreck über ihre eigene Ankunft noch in den Gliedern säße. (3) Wenn man dagegen die Nacht verstreichen ließe, dann bekämen die Feinde Mut, vielleicht auch Hilfstruppen, und die Straßen, die jetzt passierbar seien, würden versperrt werden. (4) Doch als die einfachen gallischen Soldaten nach den langen Entbehrungen entdeckt hatten, dass es hier auf dem Land reichlich Wein und andere Lebensmittel gab, hatten sie sich über diesen Überfluss nicht weniger gefreut als über den Sieg und sich auf den Feldern zerstreut. (5) Und so verließen die Gallier ihre Feldzeichen und streiften umher, um alles in Besitz zu nehmen, als wären sie bereits Sieger. Dieser Umstand verschaffte den Einwohnern von Delphi einen Aufschub. (6) Denn bei der ersten Kunde von der Ankunft der Gallier hatten, so heißt es, Orakelsprüche den Bauern untersagt, Ernteerträge und Wein von ihren Höfen fortzuschaffen. (7) Wie nützlich diese Vorgabe war, verstand man erst dann, als die Menge an Wein und anderen Vorräten die Gallier gleichsam aufgehalten hatte und in dieser Zeit die Hilfstruppen der Grenznachbarn zusammenkommen konnten. (8) Durch die Streitkräfte ihrer Bundesgenossen verstärkt, befestigten die Einwohner von Delphi nun vollends ihre Stadt, bevor die Gallier, die ihren Wein so geizig hüteten wie eine Beute, zu den Feldzeichen gerufen werden konnten. (9) Brennus hatte 65.000 aus dem gesamten Heer ausgewählte Fußsoldaten bei sich; die Soldaten der Einwohner von Delphi und ihrer Bundesgenossen waren nur 4000 Mann. (10) Voller Verachtung für sie zeigte Brennus all seinen Leuten die reiche Beute, um sie anzustacheln, und behauptete, die Standbilder mit den Viergespannen, die man in großer Zahl von Weitem sehen konnte, seien aus massivem Gold gegossen und daher sei die Beute ihrem tatsächlichen Gewicht nach noch größer als nach dem bloßen Augenschein.

|83|8 (1) Diese Behauptung spornte die Gallier an, und weil sie außerdem auch noch vom Wein, den sie am Vortag getrunken hatten, berauscht waren, stürzten sie sich in den Krieg, ohne auf die Gefahren zu achten. (2) Dagegen zählten die Einwohner von Delphi mehr auf den Gott als auf ihre eigenen Kräfte, leisteten den Feinden voller Verachtung Widerstand und überschütteten die Gallier, die den Berg erklommen, vom hohen Gipfel aus mit einem Hagel von Steinen und Geschossen. (3) Als nun beide Seiten so kämpften, liefen plötzlich die Priester aus allen Tempeln und zugleich auch die Seherinnen selbst mit offenen Haaren in ihren priesterlichen Rangabzeichen und Kopfbändern ängstlich und wie von Sinnen in die vorderste Kampflinie. (4) Der Gott selbst sei gekommen, so riefen sie; und sie hätten gesehen, wie er durch die offenen Dachgiebel in seinen Tempel herabgesprungen sei, (5) während alle demütig um die Hilfe des Gottes gefleht hätten, ein junger Mann von übermenschlicher Größe und auffallender Schönheit. Und als Begleiterinnen seien ihm zwei bewaffnete Jungfrauen aus den beiden benachbarten Tempeln der Diana und der Minerva entgegengeeilt. (6) Und das hätten sie nicht nur gesehen, sondern sie hätten auch das Sirren des Bogens und das Klirren der Waffen gehört. (7) Daher forderten sie die Bewohner von Delphi unter inständigen Beschwörungen auf, sie sollten nicht zögern, den Feind zu töten, wenn ihnen die Götter im Kampf vorangingen, und sich als Verbündete der Götter ihrem Sieg anzuschließen. (8) Von diesen Worten ließen sich alle entflammen und stürmten um die Wette in die Schlacht. (9) Und sofort spürten auch sie die unmittelbare Gegenwart des Gottes, denn ein Erdbeben riss einen Teil des Berges ab und streckte das gallische Heer nieder; und seine dicht gedrängten Kampftruppen wurden zersprengt und stürzten nicht ohne Verluste der Feinde bergab. (10) Dann folgte ein Sturm, der Hagel und Kälte mit sich brachte und dadurch die Verwundeten hinwegraffte. (11) Der Anführer Brennus selbst konnte die Schmerzen seiner Wunden nicht ertragen und nahm sich mit dem Dolch das Leben. (12) Der andere Anführer bestrafte diejenigen, die den Krieg angezettelt hatten, und zog sich mit 10.000 Verwundeten im Eilmarsch aus Griechenland zurück. (13) Doch auch auf der Flucht war ihnen das Schicksal nicht gnädiger, weil sie in ihrer Angst keine einzige Nacht unter einem festen Dach verbrachten und keinen einzigen Tag ohne Mühsal und Gefahr erlebten. (14) Unaufhörlicher Regen, der bei Frost in Schnee überging, Hunger, Erschöpfung und zudem die Schlaflosigkeit als das schlimmste Übel rieben die elenden Überlebenden dieses unseligen Krieges auf. (15) Und auch die Stämme und Völker, durch deren Gebiet sie zogen, verfolgten die versprengten Gallier, als wären sie eine Jagdbeute. (16) So kam es, dass von einem so großen Heer, das noch vor Kurzem im Vertrauen auf seine eigenen Kräfte sogar die Götter verachtet hatte, niemand am Leben blieb, der gleichsam diese entsetzliche Niederlage in Erinnerung hätte rufen können.

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