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Prolog

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Ich habe mich der Stätte meiner Kindheit langsam angenähert.

Zunächst von weit weg, genaugenommen von oben, von einem Waldweg aus blicke ich ins Tal. Als ob sich an dieser Stelle der dichte Wald gelichtet hätte, um mir die Sicht auf den kleinen Ort dort unten freizugeben. Die Häuser schmiegen sich sanft an die Hügel, die rundum steil zulaufen. Inmitten des Ortes dominiert das alte, gelbgetünchte Kloster mit der angrenzenden Kirche die Szenerie, umgeben von einer alten Wallanlage, die auf der Kirchenseite als Friedhofsmauer beginnt, das Kloster grossräumig umschliesst und auf der anderen Seite an der Einfahrt mit dem grossen Torbogen endet. Bis heute habe ich nirgendwo eine Kirche wie diese gesehen, die Fassade vom selben Gelb wie das Kloster, der Kirchturm mit tiefschwarzen Schindeln, ein spitz zulaufender Giebel und eine goldene Turmuhr, auf die ich schon tausendfach geblickt habe. Am rechten Ende des Klosters, noch innerhalb der Mauern, stört das kleine Hausmeisterhäuschen wie ein plumpes Anhängsel die geometrische Schönheit des Komplexes. Unser Zuhause. Damals vor 40 Jahren.

Langsam steige ich den schmalen mäandernden Trampelpfad hinab, bis ich vor dem gelben Gebäude stehe, das mir jetzt viel kleiner erscheint, als in meinen Kindheitstagen.

Ich gehe durch den grossen Torbogen auf dem Sandweg entlang, vorbei am früheren Schweinestall, dessen Holzgerüst zu einem Carport umgewandelt wurde, auf unser altes Häuschen zu.

Personalhaus steht als grosse Überschrift auf dem weissen Schild direkt neben der Eingangstür. Erzieher und Zivildienstleistende kleiner darunter. Das Kloster ist also heute noch ein Kinderheim, denke ich. So wie früher, als ich in diesem Häuschen lebte und mein Vater der Hausmeister war.

Ich gehe weiter, vorbei am Fenster meines damaligen Zimmers mit den gelben selbstgehäkelten Vorhängen, den Postern von Che Guevara, Led Zeppelin und T. Rex und dem Klavier, das mein Vater verkaufte, als ich mich für ein paar Monate dem Klavierunterricht verweigert hatte.

Weiter vorbei an der alten Waschküche mit den verschlossenen Fensterläden, in der damals einige mit weissen Schürzen bekleidetete Frauen versuchten, die anfallende Wäsche zu bewältigen. Weiter in den Innenhof, dessen zwei Ebenen durch ein kleines Mäuerchen getrennt waren, auf der einen Seite der obere Hof, Spielplatz für die kleinen, auf der anderen der untere Hof mit den Spielgeräten für die grösseren Kinder und gleichzeitig Fussballplatz für die Jungen.

Meine Schwester Claudia und ich sassen oft auf der kleinen Mauer, dazwischen sozusagen, gehörten nirgendwo richtig dazu, entschieden manchmal, uns einer Gruppe anzuschliessen oder blieben sitzen und beobachteten nur.

Wo sich früher im Gemüsegarten Beet an Beet reihte, die Obstbäume ihre Früchte austrugen und eine bunte Blumenvielfalt die Gartenwege säumte, dominiert jetzt ein betonierter Tennisplatz die Szene, dessen rote Farbe teilweise abgeblättert oder abgerieben ist. Der Platz ist umgeben von einer ungepflegten Wiese. Ein Teil des alten Gartens wurde offensichtlich als Friedhofsgelände benötigt.

"Alles verwahrlost“, würde mein Vater sagen.

Sorgsam hat er sich damals um das Anwesen gekümmert. Jeder kleinste Makel wurde in Windeseile ausgebessert, die Flächen rund um das Gebäude waren sauber und ordentlich, die Hecken und der Rasen kurzgehalten und der Garten frei von Unkraut und Ungeziefer. Ich hatte ihn dafür verachtet, früher in meinen Teenagerjahren, und kann erst jetzt begreifen, dass diese Arbeit seine Lebensaufgabe gewesen war.

Könnte er heute die abblätternde Farbe der Fassade, das wild wuchernde Unkraut im Garten und seine zerfallende, mit Zweigen und Gestrüpp überwucherte, selbstgebaute Holzgarage sehen, er würde sich kopfschüttelnd abwenden, an seinen abgenutzten Körper denken und sich fragen, wo sein Arbeitsleben geblieben war. Ein halbes Leben verschluckt von diesem gelben Gebäude.

Wie die unzähligen Kinderseelen. Bei ihrer Entlassung stolperten die leeren Körper ihrer Freiheit beraubt, amputiert und gesichtslos aus der grossen Toreinfahrt. Eine leichte Beute für die Welt da draussen.

Fünf Sommer

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