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V Eine Beobachtung

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Der obere Hof und der untere Hof, wie die beiden quadratischen Innenhöfe des Heimes genannt wurden, konnten sowohl von der Küche, als auch von der Erdgeschossgruppe aus betreten werden und waren von drei Seiten durch das gelbe Gebäude begrenzt. Von der vierten Seite schloss sich am unteren Hof das Gemäuer der Kirche nahtlos an und endete an der langen Buchsbaumhecke, die dann weiter am oberen Hof entlangführte.

Ein verrostetes, angelehntes Gartentor unterbrach die Hecke an einer Stelle und war der Durchgang zum Garten, der sich besonders im Sommer durch die leuchtenden Farben der Blumenbeete von den beiden kargen Höfen abhob, die den Kindern als Spielplatz dienten.

Der obere Hof war den Kleinen, also Zweit- und Drittstöcklern vorbehalten. Er war etwas höher gelegen und durch eine kleine Mauer vom Unteren getrennt. Man konnte ihn über eine breite Sandsteintreppe erreichen, die sich nach oben hin verjüngte und an der schmalsten Stelle die Mauer durchbrach.

Der untere Hof, ein blankes Stück Erde von der Grösse eines halben Fussballfeldes, war nachmittags nach den Hausaufgaben vollkommen von den Jungs der Erdgeschossgruppe in Beschlag genommen. Die Erde staubte, während sie mit Ernsthaftigkeit und Eifer die Fussballspiele ausfochten, sie kommentierten, wild gestikulierten und sich gegenseitig anfeuerten, während Pässe geschlagen, Freistösse ausgeführt und Elfmeter geschossen wurden. Hier war der einzige Ort, an dem die Jungen frei und ungezwungen aufspielen und die enge Welt der Heimtüren hinter sich lassen konnten. Hier wurde geklärt, wer das Sagen hatte, wer anerkannt und beliebt war und wer zum Aussenseiter erklärt wurde.

Jungs und Mädchen lebten in Herbertstal vom sechsten Lebensjahr an streng getrennt. Der Geruch des Verbotenen, sündhaften umgab die wenigen Annäherungen, die meist schon im Keim erstickt wurden, man setzte hier sogleich den Samen der Furcht vor der Nähe zum anderen Geschlecht.

Manchmal zogen kleine Unterhaltungen zwischen Jungen und Mädchen sogar Strafen nach sich.

Die Mädchengruppe war äusserst selten im Hof anzutreffen, vielleicht manchmal gegen Abend, wenn die Jungs erschöpft und hungrig beim Abendessen sassen oder wenn Schwester Sibylle und Tante Christa ein Hofverbot ausgesprochen hatten.

Dann konnte man sie grüppchenweise, tuschelnd in der Kirchenecke sitzen sehen oder in der Schiffschaukel oder mit schlenkernden Beinen auf einer der Bänke, und sich ein paar Bälle zuwerfen, während sie mit leiser Stimme einen Reim aufsagten.

Auch Margarete bekam selten eine Mädchenstimme zu hören oder eines der Mädchen zu Gesicht. In der Gruppe von Schwester Antonia fehlte jede Lebendigkeit. Das typische Gekicher, das ein paar junge Mädchen schon von Weitem ankündigt, war hier einer unheimlichen Stille gewichen, die jeden verführte, auf Zehenspitzen zu gehen, sobald er in die Nähe ihrer Gruppenräume kam.

Margarete fragte sich oft, wie sich ein solches Leben anfühlen musste, ohne Kontakt mit der Umgebung oder mit der Natur und ohne Begegnung mit den Menschen ausserhalb dieser Mauern. Ein Leben in Unauffälligkeit, zwischen Schule, Kirche und Wohngruppe, wo Geborgenheit nur innerhalb der Puppenstube stattfand.

Berthold sprach nie über seine Kindheit im Waisenhaus. Ungehalten und zornig wehrte er Margaretes Fragen ab. So greifbar war sein Unbehagen, dass sie es vermied, dieses Thema bei ihm anzusprechen. Doch diesmal wollte sie nicht schweigen.

"Berthold, hier kann ich nicht bleiben!", sagte Margarete eines Abends, nachdem sie Anja und Claudia zu Bett gebracht hatte.

"Was war denn nun schon wieder?" Berthold war genervt.

"Heute mittag hat mich Schwester Maria vom Dritten Stock gebeten, nach einem Baby zu sehen, das gerade aufgenommen worden war."

"Hatte Frau Dr. Bank heute keine Sprechstunde?" fragte Berthold verwundert. Üblicherweise wurde die Kinderärztin für solche Aufgaben herangezogen.

"Sie hatte heute viel zu tun," sagte Margarete schnell, sie wollte sich nicht ablenken lassen.

"Das Kind lag in einem der Gitterbettchen im Schlafsaal und weinte ununterbrochen. Schwester Maria hat ja keine Geduld mit den Kleinen. Nur ein paar Monate war das Mädchen alt, alle Körperöffnungen wund und gerötet, es machte einen jämmerlichen Eindruck. Ich salbte und wickelte das Kind und trug es auf meinen Armen durch den Raum, damit es sich etwas beruhigte. Es war gerade Essenszeit und Schwester Maria fütterte die Kleinkinder im Tagesraum gegenüber. Man konnte allerlei Geräusche hören, Kindergebrabbel, Schmatzen, Weinen und Schreien, alles mischte sich durcheinander.

Plötzlich war da ein Würgen zwischen den Kinderstimmen und dem Geschirrgeklapper und ich dachte zuerst, eine Katze hätte sich nach oben verirrt."

Berthold hatte die Schilderung bisher unbeteiligt verfolgt, jetzt wurde er lebendig, richtete sich auf und blickte Margarete aufmerksam an.

"Ich schlich zur halb geöffneten Tür und sah, wie Schwester Maria versuchte, das Erbrochene neben dem Teller eines etwa dreijährigen Jungen auf einen Löffel mit Kartoffeln zu schieben und diesen Löffel dann in den Mund des Kindes zu befördern. Der Junge, dessen Hände mit Manschetten an der Lehne seines Stühlchens festgemacht waren, würgte entsetzlich und versuchte gleichzeitig nach Luft zu schnappen. "Das wird aufgegessen, auch wenn wir bis heute abend hier sitzen bleiben!" hatte Schwester Maria zornig gesagt und sie hat mit dem Zeigefinger auf den Tisch geklopft, als würde sie den Takt dazu schlagen.

Der Junge erbrach sich erneut und hat dann von Schwester Maria eine krachende Ohrfeige bekommen. Sie hat das Erbrochene wieder aufgesammelt, mit der freien Hand den Unterkiefer des Jungen gepackt und nach unten gedrückt, so dass er seinen Mund einen Spalt weit öffnen musste. Dann hat sie ihm den Löffel samt Inhalt zwischen die Lippen geschoben!"

Margarete war ausser sich. "Und das im Namen der Kirche, der sogenannten christlichen Fürsorge und mit dem Segen des Ordens und der Gemeinde!"

Während er Margaretes Schilderung lauschte, bewegte sich Bertholds Oberkörper automatisch von einer Seite auf die andere. Jetzt bäumte er sich kurz auf, tat einen tiefen Atemzug, als wollte er etwas sagen, hielt inne und beliess seine Reaktion bei einer abwinkenden Geste. Dann drehte er sich zur Seite und nahm die Zeitung auf. Und Margarete registrierte die Schlagzeile nur nebenbei, die sich plötzlich zwischen die beiden schob. "Ich bin ein Berliner! John F. Kennedy wird von den Massen gefeiert!", bevor sie wütend aus dem Zimmer eilte.

Und dann hielten sie wieder still und sie blieben, hatten nicht den Mut, anzuklagen, aufzustehen oder einfach Angst vor dem Gespenst, das sie lostreten könnten. Zu nah war noch der letzte Krieg, als der Hunger allgegenwärtiger Begleiter war. Jetzt waren die sechziger Jahre, die Zeit des Wirtschaftsaufschwungs, der sozialen Marktwirtschaft, man hatte die Amerikaner als Verbündete und die Not war nur noch Erinnerung. Man wollte sich erhalten, was man erarbeitet hatte. Die Familie hatte ein gutes Einkommen, eine billige Wohnung, ab und zu bekam Berthold ein paar Extras aus der Heimküche, sie durften sich im Garten mit Gemüse und Früchten bedienen und weil sie keine eigene Badewanne hatten, war sogar Samstagnachmittag ein Badezimmer in der Mädchengruppe für sie reserviert. Und das alles sollte auch so bleiben.

Fünf Sommer

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