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VI Das Federmäppchen

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Es war Oktober geworden. Anja Schwab und Max Weiss hatten sich inzwischen an den täglichen Schulweg zu Fräulein Bechler's erster Grundschulklasse gewöhnt.

Der Weg führte durch das schmiedeeiserne Haupttor hinaus über die Brücke des Bohrerbachs, der mit einigem Getöse an Kirche und Heim vorbeirauschte, die Hauptstrasse entlang, hinein in die Innenstadt Freiburgs, um dort die berühmten "Bächle" zu füllen, die die Stadt durchzogen.

Die Waisenkinder traten jeden Morgen gemeinsam den Schulweg an. Die Grossen führten die Kleinen über die verkehrsreiche Hauptstrasse und dann auf dem Fussweg durch das altertümliche Stadttor, durch welches alle zehn Minuten die Strassenbahn rumpelte. Nach dem Tor bogen sie rechts in die Schulstrasse ein, an der Schuhmacherei Winter und am Wirtshaus zum Kühlen Krug vorbei, überquerten die Strasse und standen vor dem grossen Eingangsportal der Grundschule Herbertstal.

Die Stimmen der Kinder, wenn sie morgens auf dem Weg zur Schule am Hausmeisterhäuschen vorbeikamen, mahnten Anja zum Aufbruch. Meist lief sie in einigem Abstand hinterher, die Schwestern hatten ihren Zöglingen untersagt, sich auf dem Schulweg mit aushäusigen Kindern zu unterhalten, die sie auf dumme Gedanken brächten, die das strukturierte und isolierte Heimleben stören konnten. In den Pausen und auf dem Schulhof traten diese Gesetze ausser Kraft, denn die langen Arme der Schwestern reichten nur bis vor die Schultüre.

Doch auch in den Klassen waren die fast kahlrasierten Jungen und die verschüchterten Mädchen die Aussenseiter. Viele trauten sich kaum zu sprechen, waren zurückhaltend, verschämt und verunsichert oder sie konnten kaum stillsitzen, versuchten, unentwegt zu stören, zettelten in den Pausen regelmässig Prügeleien an und waren beim Rest der Klasse nicht sonderlich beliebt. Auch Anja fürchtete die aufgeladene Stimmung, die manche Kinder in die Schule mitbrachten und war froh über den Abstand, den sie zu ihr hielten.

Eines Morgens stand Max verstohlen an der Ecke des Schulhauses und war bemüht, möglichst unauffällig zu erscheinen. Anja marschierte an ihm vorbei und lächelte ihm zu.

Am nächsten Morgen stand er bereits in der Einfahrt des Kühlen Kruges und spähte in ihre Richtung.

"Auf wen wartest Du?", fragte Anja neugierig.

"Auf einen Freund!" antwortete er verlegen und schlenderte mit ihr weiter. Von diesem Tag an entfernte sich Max jeden Morgen von seiner Gruppe und wartete, bis Anja um die Ecke bog und sie die letzten Schritte bis ins Klassenzimmer gemeinsam gehen konnten.

So erzählte er eines Morgens von seinem neuen Federmäppchen. Einem Geschenk von Tante Biene, die Max, Christian und Frieder vor ein paar Wochen besucht hatte. Die Kinder waren aus dem Häuschen gewesen und die Tante konnte sich vor Fragen nach dem Zuhause kaum retten.


Ein ums andere Mal hatten sie nach den Eltern gefragt, nach der unerreichbaren Mutter, die nicht nur in den Mauern einer Anstalt eingeschlossen war, sondern sich ihre eigene Mauer gebaut hatte und von einem Schmerz überwältigt wurde, der sich mehr Raum nahm, als ihm zustand. Und nach dem Tod des Vaters, der ihnen ein fremdes Leben aufgezwungen hatte und das Vertraute ausgelöscht hatte, als wäre es mit ihm untergegangen.

Zu Tode betrübt nahm sie ein paar Stunden später Abschied und so blieben für Christian und Frieder ein paar Süssigkeiten zurück und für Max das Federmäppchen. Ein neues, sandfarbenes Mäppchen. Kein abgegriffenes, gebrauchtes, wie er es von Schwester Sibylle bekommen hatte, mit abgenagten Bleistiften und stumpfem Spitzer, sondern ein Nagelneues mit leuchtenden Buntstiften, zweifarbigem Radiergummi und zwei Bleistiften, so spitz, wie die Nadel, die Tante Christa für das Stopfen der Löcher in den alten Kindersocken benutzte.

"Sie hat es mir weggenommen!" er senkte den Kopf, sein Blick zeigte ins Leere, nur an seinem Kinn, das kaum sichtbar zitterte, konnte man einen Ausdruck von Erregung erkennen. Eigentlich wusste Anja die Antwort bereits, als sie nachfragte: "Wer hat es weggenommen?"

"Schwester Sibylle! Sie hat es in ihrem Schrank eingeschlossen. Und wenn ich freiwillig die Badezimmer putze, kann ich es mir ansehen."

Anja war verwirrt. "Wie, du kannst es dir ansehen?"

Max schluckte. "Ich darf es nicht anfassen. Sie öffnet die Schranktür, die Schublade, klappt das Federmäppchen auf und ich darf es mir ansehen. Nach ein paar Minuten schliesst sie die Schranktür wieder. Das war's."

Traurig blickte er zu Anja hinüber. Anjas Gedanken wanderten zu ihrem gelben Mäppchen in der Schultasche auf ihrem Rücken, das sie wie einen Augapfel hütete und voller Mitgefühl nahm sie Max bei der Hand. Sie stiegen die wenigen Stufen zum Portal der Schule hinauf und erreichten das Klassenzimmer im zweiten Stock pünktlich zum Einläuten der ersten Stunde.

Fräulein Bechler betrat das Klassenzimmer und sofort verstummten die hellen Kinderstimmen und alle eilten auf ihre Plätze.

"Bevor wir heute mit dem Unterricht beginnen, möchte ich von Euch erfahren, wer gestern die kleine Sanduhr zerbrochen hat, die ich manchmal beim Abfragen benutze. Als ich aus der grossen Pause kam, lag sie in zwei Teile zerbrochen auf meinem Pult. Und jetzt möchte ich wissen, wer das zu verantworten hat!"

Stille im Klassenraum. Manche Kinder versenkten verlegen ihre Blicke in ihren Schössen und manche drehten unruhig ihre Stifte zwischen den Fingern oder wischten imaginären Staub von Heften oder Pulten.

"Wenn der Schuldige nicht auf der Stelle gefunden wird, werde ich den Klassenausflug auf den Kybfelsen ausfallen lassen, stattdessen werdet ihr eine Strafarbeit schreiben!", erklärte die elegant gekleidete Dame mit dem strengen Dutt. "Wer hat etwas zu sagen?"

Zögerlich ein Handzeichen, verschämt versteckte sich Renate Forsts bleiches Gesicht hinter ihrem gestreckten Arm.

"Der Max war's, er war alleine im Klassenzimmer, als ich gestern aus der grossen Pause kam!" Renate, die pausbäckige Tochter des Postbeamten von Herbertstal, war nicht sonderlich beliebt in der Klasse, jedoch sie erhielt weitere Unterstützung. Mehrere Arme fuhren jetzt in die Höhe: "Ja, der Max war's!"

Max schüttelte ungläubig den Kopf. "Ich hab die Sanduhr nicht angefasst, ich war das nicht!"

"Bist du gestern in der Pause alleine hier im Klassenzimmer gewesen?" fragte die Lehrerin streng.

"Ja, das war ich, aber die Sanduhr habe ich nicht zerbrochen!"

Während Max versuchte, seine Unschuld zu beteuern, rutschte Anja unruhig auf ihrem Stuhl hin und her. Sie spürte instinktiv, dass hier ein Junge zur Verantwortung gezogen wurde, der keine Fürsprecher hatte, dem keiner Rückhalt bot und der auch in seinem neuen Zuhause, einem unfreundlichen Kinderheim, Ziel vieler Ungerechtigkeiten war. Und dann sammelte sie ihren ganzen Mut.

"Fräulein Bechler, ich habe die Sanduhr zerbrochen!"

Fräulein Bechler blickte überrascht zu Anja hinüber. "Na also!", sagte sie herablassend und beendete die Diskussion. "Nach dem Unterricht kommst du bitte zu mir nach vorne!"

Anja war erleichtert, als die Schulglocke das Ende des Schultages einläutete, in Eile packte sie Hefte und Mäppchen in die Schultasche und stand ein paar Minuten später vor dem Pult der Lehrerin, um ihre Strafe entgegenzunehmen. Sie war nicht mutig, so wie Max es war, es lag ihr viel daran, nicht aufzufallen, sie versuchte mit dem Strom zu schwimmen und eher unauffällig ihre Pflicht zu tun, wie sie es von ihrem Vater gelernt hatte und war völlig überrascht, als Fräulein Bechler sie freundlich anlächelte:

"Liebe Anja," sagte sie verschmitzt, "du solltest bei der Wahrheit bleiben, Max tut Dir leid, nicht wahr? Sag mir die Wahrheit und ich erlasse Dir die Strafe!"

"Ich habe die Sanduhr zerbrochen, glauben Sie mir!" Mit eindringlichen Worten versuchte sie, die Lehrerin zu überzeugen. "Max war das nicht!"

Fräulein Bechler liess sich nicht beirren und versicherte, dass Max nicht um die verdiente Strafe herumkäme.

"Max hat nichts getan!", flüsterte Anja fast flehentlich.

Und dann erzählte sie der Lehrerin von den Strafen, die Max im Heim zu erdulden hatte. Sie erzählte von Schwester Sibylle und dem Federmäppchen, das unbefleckt im Allerheiligsten der Schwester lag und von der rohen Gewalt, mit der die Schwester Max am Einschulungstag traktiert hatte.

Die Lehrerin unterbrach sie nicht, sie stellte keine Fragen, zeigte keine Reaktion, nur ihre Wangen röteten sich ein wenig. Sie entliess Anja mit einer Strafaufgabe und wendete sich den Schulheften zu.

Die Berichte über die Ermordung des amerikanischen Präsidenten J.F. Kennedy, einige Stunden später, verfolgte sie mit regen Gefühlsausbrüchen im Radio.

Fünf Sommer

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