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1963 I Ankunft

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Der Zug würde bald ankommen. Die drei Jungen drückten sich auf der schmalen Sitzbank aneinander, als wären sie zusammengewachsen. Max, der Siebenjährige, der älteste der drei Brüder, schmeckte noch die Schokolade auf der Zunge, die sie heute morgen von Tante Biene bekommen hatten. Tante Biene, die sanfte, aber zielstrebige, jüngere Schwester ihrer Mutter hatte sie heute morgen aus dem heimischen Elternhaus abgeholt und so sassen sie nun gemeinsam in einem vollbesetzten Waggon des Regionalzuges Stuttgart-Basel und versuchten, sich aufrecht zu halten.

Max trug das Erbe des toten Vaters mit sich, die Verantwortung, die er ihm hinterlassen hatte. Für den fünfjährigen Christian und den kleinen, dreijährigen Frieder. Der strenge Vater, einfach von der Leiter gefallen, vor zwei Wochen, als ihn während seiner Arbeit an einem Starkstrommasten viele Tausend Volt durchschlugen.

Und er trug die Verzweiflung der Mutter, die seit diesen zwei Wochen nicht mehr gesprochen, sich nicht mehr gerührt hatte und die heute früh abgeholt worden war in eine Klinik, die sie die nächsten 30 Jahre nicht mehr verlassen sollte.

Der kleine Frieder schluchzte leise. Max spürte die feuchte, bebende Hand in seiner und drückte sie kurz, als wolle er etwas damit sagen, dass er für ihn da sei, vielleicht, oder dass er nicht alleine wäre. Von einem Kinderheim war heute früh die Rede gewesen.

"Ihr werdet staunen, es wird euch gefallen, jede Menge Schaukeln, Karussells im Garten und jede Menge Freunde!", erklärte Tante Biene knapp. Man würde sie wieder abholen, sobald die Dinge geklärt sind. Max fixierte sie ununterbrochen mit seinen grauen, ängstlichen Augen, notierte jede Veränderung ihrer Mimik, als hoffte er, ihr angespannter Ausdruck würde sich bald lösen, als gäbe es noch die Möglichkeit zur Umkehr.

So vertraut waren die Ausflüge, die sie mit Tante Biene regelmässig mit der Bahn unternommen hatten, in den Zoo nach Stuttgart oder auf die Schwäbische Alb zum Picknick, wo sie ausgelassen über die Wiesen getollt waren.

Diesmal war alles anders, als hätte sie ein unsichtbarer Wirbelsturm der Gemütlichkeit ihres Zuhauses entrissen und in diesem Zug wieder ausgespuckt, ohne Wärme, ohne Zukunft.

Max wünschte, der kleine Frieder würde endlich aufhören zu weinen. Er war Max sehr ähnlich. Er hatte nicht nur die gleichen blonden Locken, mit denen die Mutter so gerne spielte, an ihnen zog und zupfte und sie sich um die Finger wickelte, sondern auch seine weichen Gesichtszüge und sein stilles, unnahbares Wesen. Frieder hing wie eine Klette an seinem grossen Bruder, der es selten übers Herz brachte, ihn abzuschütteln.

Christian, der mittlere der Brüder war anders, dunkelhaarig, mit verbissenem Gesichtsausdruck und schmalen Lippen, das Abbild des Vaters. Obwohl er eher leise und ängstlich wirkte, verstand er es, seine Familie und besonders seine Geschwister zu dominieren. Er trotzte sämtlichen Widerständen und versuchte mit einer Diskussionsfreude, die für sein Alter ungewöhnlich war, seine Wünsche durchzusetzen. Ein Schlitzohr, wie ihn die Mutter nannte.

"Warum können wir nicht bei Dir wohnen? Wird Mutter uns besuchen? Wie lange müssen wir bleiben? Wann holst Du uns wieder ab?"

Er bombardierte Biene geradezu mit Fragen und sie hatte es aufgegeben zu antworten, da ihre Antworten den verzweifelten kleinen Jungen niemals beruhigen könnten.

"Schlüpft in eure Mäntel!" sagte sie leise. "Wir sind da!"

Das Waisenhaus in Freiburg – Herbertstal, ein ehemaliges Zisterzienserkloster, direkt neben der Ortskirche im Zentrum von Herbertstal gelegen, beherrschte den Stadtteil durch seine wuchtige Bauweise und seinen sonnengelben Anstrich und es schien als duckten sich die umliegenden Häuser vor der Dominanz des alten Klosters.

Das Gebäude bestand aus vier im rechten Winkel zueinander gelegenen, zusammenhängenden Gebäudeteilen, die den alten Kreuzgang beherbergten und die einen staubigen Innenhof umschlossen, der früher Klosterhof gewesen war.

Das schmiedeeiserne Tor zum Haupteingang war durch eine Eisenstange gesichert, die Fenster des Erdgeschosses vergittert. Ein weisses Emaille-Schild am Torpfosten trug in rostigen Buchstaben die Aufschrift "Aufnahme" und ein dicker Pfeil zeigte nach links zum Seiteneingang.

Es war Montag der 03.Juni 1963. Schwester Sibylle, die verantwortliche Ordensschwester der Jungengruppe vom Erdgeschoß, hatte gerade im Radio vom Tod des Papstes, Johannes Paul XXIII erfahren, als Frau Hawlizek, Mitarbeiterin der Aufnahme, den Tagesraum betrat, wo 30 Jungen zwischen sechs und sechzehn Jahren an fünf grossen Tischen verteilt schweigend ihre Mahlzeit einnahmen.

"Was gibt’s denn jetzt?" presste Schwester Sibylle, etwas ungehalten durch die Störung und mit halben Ohr bei den unerfreulichen Nachrichten im Radio, aus dem halb geschlossenen Mund. Ihre runden Backen waren mehr als üblich gerötet. Mit der weissen Schwesterntracht, die ihren schweren Busen eng umspannte und die unterhalb der Brüste durch eine Kordel strammgezogen wurde, schien es, als würde sie sich tiefe Atemzüge verbieten. Ihr flaches, hektisches Atemholen liess die überdimensionalen Flügel ihrer weissen Haube permanent auf und ab wippen.

"Der neue Junge, Max Weiss! Muss morgen um 8 Uhr zur Aufnahmeuntersuchung." entgegnete Frau Hawlizek knapp, die sich jede weitere Erklärung angesichts der sichtbaren Erregung der Schwester ersparte. Sie schob Max vor sich her, tiefer in den Raum hinein. Die Jungen blickten neugierig auf.

"Das ist deine Gruppe", erklärte sie ihm kurz, stellte den kleinen Koffer neben ihm ab und ging durch die Tür hinaus.

"Der heilige Vater ist tot. Wir beten für ihn." Schwester Sibylle beachtete Max nicht, der versuchte, den Blicken der Kinder auszuweichen. Weinen, das kam für ihn nicht in Frage, sein Blick war starr über die Köpfe der Kinder hinaus in den Garten gerichtet, auf den steinernen Springbrunnen, der eine endlose Wasserfontäne aus seiner Mitte spuckte.

"Alle aufstehen! Ein Vaterunser!", sagte die Schwester ungerührt. Die Kinder legten ihr Besteck beiseite, erhoben sich kauend und murmelnd von den Stühlen und leierten ihr Vaterunser herunter, als ob sie gar nicht anwesend wären. Dann fielen die Blicke wieder auf den Jungen.

Wie auf einem Bahnsteig wartend, den Koffer neben sich, blickte er unbeirrt aus dem Fenster. Die Trennung von seinen Brüdern traf ihn unvorbereitet und hatte ihn zutiefst erschüttert und je mehr er sich auf diesen Schmerz einliess und je verzweifelter er mit seinem Schicksal haderte, um so schneller sank sein Mut. In diesem Augenblick konnte er nur noch einen Schritt vor den anderen setzen und die Richtung war klar. "Jetzt bloss nicht weinen!"

Und er hielt seine Tränen zurück und versuchte, die Wut zu beherrschen, die plötzlich aufkochte und ihn zurück in den Raum katapultierte, er würde sich hier nicht kleinkriegen lassen, das war sicher.

Max liess jetzt den Blick über die Jungen schweifen und bemerkte, wie ähnlich sie alle gekleidet waren. Kurze, abgewetzte dunkel- oder hellgraue Lederhosen mit H-förmigen Trägern, buntkarierte Hemden. Alle Köpfe fast kahlrasiert, mit einem feinen Flaum bedeckt.

Schwester Sibylle forderte die Kinder auf, sich zu setzen und befahl Max, neben einem kleinen bebrillten Kerl in seinem Alter Platz zu nehmen, dessen rechtes Auge von einer beigen Augenklappe bedeckt war. Er legte den Kopf etwas schief, um Max von unten herauf mit seinem freien Auge zu fixieren. "Heiner, geh und hol deinem neuen Tischnachbarn ein Essen aus der Küche", befahl Schwester Sibylle barsch und der Kleine erhob sich in Eile und schwirrte hinaus.

"Und du Max, hältst dich an die Regeln!", sagte sie knapp, dann warf sie einen tadelnden Blick in die Runde und widmete sich wieder ihrer Mahlzeit, die längst kalt geworden war. Die Kinder wandten sich ihren Tellern zu und das Geräusch klappernden Bestecks erfüllte sogleich den Raum.

Heiner, zurück aus der Küche, stellte einen dampfenden Teller Kohlroulade mit Kartoffelbrei vor Max ab und beeilte sich, seinen Platz wieder einzunehmen. Max spürte die Blicke der Kinder, bemerkte, wie sie versuchten, zu ihm hinüber zu schielen, ohne die Aufmerksamkeit der Schwester zu erregen.

Er konnte nicht essen. Jeder Bissen brachte ihn zum Würgen, ein zäher Klumpen, der sich vom Magen aus nach oben geschoben hatte, verhinderte das Herunterschlucken der kleinen Rouladenstückchen, auf denen er herumkaute und die ihn schon auf dem Teller durch ihre gräuliche Farbe angeekelt hatten. Nach kurzer Zeit legte er die Gabel beiseite. Schwester Sibylle erhob sich von ihrem Stuhl. Trotz ihres schweren und trägen Körpers schien sie eine unglaubliche Leichtigkeit zu beflügeln, sie wehte ihm geradezu entgegen und deutete auf seine Kohlroulade: "Kannst du dir gleich merken, bei uns wird aufgegessen."

Fünf Sommer

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