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III Heimleben

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Die vier Kindergruppen im Waisenhaus Herbertstal waren nach den jeweiligen Stockwerken benannt, in denen sie sich befanden. Im Dritten Stock wohnten die Säuglinge und Kleinkinder mit ihren Betreuerinnen, im zweiten Stock die Gruppe der Mädchen und Jungen im Kindergartenalter und die Mädchengruppe, die einen separaten Trakt des zweiten Stockwerkes bewohnte.

Die Erdgeschossgruppe mit ihren 30 Jungen war in zwei Flügeln des ehemaligen Klosterkreuzgangs untergebracht und wurde von Schwester Sibylle und der sogenannten Tante Christa betreut, einer kleinen, unscheinbaren Gestalt im grauem Kleid mit weisser, gestärkter Schürze, deren einzige Auffälligkeit die geröteten Wangen auf der blassen Gesichtshaut waren.

Die Nahtstelle der beiden Seitenflügel bildete das Zentrum des ganzen Gebäudes. Zwei Türen, die für die Kinder des Heimes tabu waren, die eine führte zum Speisesaal der Schwestern, dem sogenannten Refektorium, die Zweite ins Sekretariat und zum dahinterliegenden Büro der Oberin. Hier wurden die Fäden gezogen und hier erhielt das strenge Schwesternregiment von Sr. Ehrengard, der Oberin, seine Instruktionen.

In diesen ehrwürdigen Räumen, deren Betreten den Kindern strengstens untersagt war, gingen die wichtigsten Persönlichkeiten des Ordens der Barmherzigen Schwestern des heiligen Vinzenz von Paul und der Gemeinde Herbertstal ein und aus. Der ehrwürdige Herr Superior, Oberhaupt des Ordens, der Katholische Priester von Herbertstal, der Direktor der Stiftung, die das Heim finanzierte und die strenge Kinderärztin Frau Dr.Bank, die zweimal pro Woche in der "Aufnahme" Sprechstunde hielt.

So manche milde Gabe, die eigentlich für die Kinder gedacht war, wurde hier an die Honoratioren weitergegeben.

Ging man den rechten Flügel entlang, konnte man nacheinander in die beiden Tagesräume blicken, die der Gruppe als Aufenthalts– und Essensräume dienten. Der lange, mit Holzdielen bedeckte und auf Hochglanz gebrachte Flur endete vor der Küche, in der zwei Köche und mehrere Küchenhilfen mit der täglichen Zubereitung der Gerichte beschäftigt waren.

Eine davon, die alte "Kartoffel-Anna“ war das Ausstellungsstück der Küche und schälte seit über sechzig Jahren die Kartoffeln. Sie ticke nicht mehr richtig, behaupteten die Kinder. Die meisten "Neuen" wurden in die Küche geführt, um Anna zu bestaunen, die nach all den Jahren schon einer alten Kartoffel glich, schrumpelig, mit Gewächsen auf Nase und Kinn. Mit dem Kopftuch, dem langen Rock und der Schürze sah sie aus, als wäre sie einem Märchenbuch entsprungen.

Ging man nun den linken Flügel entlang, erreichte man die beiden gelbgefliesten Baderäume mit den Duschreihen und den Toiletten. Danach folgten die drei Schlafräume. Der Vordere, der Hintere und der Kleine für die Bettnässer.

Dieser Flur endete abrupt an einer weiss getünchten Mauer, in deren Mitte sich eine schwere, mit sakralen Ornamenten verzierte Messingtür befand, die Verbindungstür zur Katholischen Kirche von Herbertstal.

Jeden Sonntag zogen die Waisenkinder von Herbertstal durch diese Türe in die Kirche ein. Wenn alle Kirchgänger Platz genommen hatten, kurz bevor der Gottesdienst anfing und der Pfarrer mit seinen Ministranten den Altarraum betrat, waren die Blicke aller Kirchenbesucher auf das Schauspiel der eintretenden Waisen gerichtet. Begleitet von ihren geflügelten Erzieherinnen marschierten sie in Zweierreihen in die Kirche ein und reihten sich in den ersten Bänken auf, wie die Perlen an einer Schnur. Einzig als Füllmaterial für die Kirche zu gebrauchen waren sie die letzten Glieder der Kette, unnütze Anhängsel in gestopften Hosen, verachtet und ungeliebt.

Seine erste Nacht im Waisenhaus Herbertstal war Max in vielen Träumen wiederbegegnet. Der schielende Heiner durfte ihn am Nachmittag durch die Räume des Erdgeschosses führen. Mit seinen dünnen Gliedmassen, der spitzen Nase und den abstehenden Ohren erinnerte der Achtjährige an einen Kobold. Blickte man auf seinen Mund, meinte man, ihn grinsen zu sehen, während sein unbedecktes Auge ängstlich und bekümmert dreinblickte. Während er Max die Baderäume zeigte, erzählte er flüsternd von den Schlägen, die er regelmässig von Schwester Sibylle erhielt, von kalten Duschen und anderen Strafaktionen und davon, dass ihn die anderen Jungs nicht mochten, weil er schielte und nicht gerne Fussball spielte.

"Und meine Mutter will mich auch nicht mehr bei sich haben!" sagte er traurig und senkte den Kopf. "Irgendwann sind zwei Leute gekommen und haben mich zuhause abgeholt und meine Mutter stand daneben und hat einfach nur zugesehen!"

"Und Dein Vater?", fragte Max.

"Ich habe keinen Vater!", sagte Heiner.

"Jeder Mensch hat einen Vater!", sagte Max und Heiner schielte verwundert unter seiner Augenklappe hervor. "Meine Mutter jedenfalls, hat mich jetzt vergessen!" beeilte er sich zu sagen. Der Junge schluckte und versuchte seine Tränen zurückzuhalten. Max suchte nach tröstenden Worten: "Eltern vergessen einen niemals, das hat die Natur so gemacht, das geht gar nicht anders, hat meine Mutter mir erzählt!"

"Doch das geht, bei meiner Mutter geht das. Schwester Sibylle sagt das immer wieder. Meine Mutter hat mich vergessen!" Er war sich seiner Sache sicher.

Max ahnte in diesem Augenblick, dass ihn niemand mehr aus diesem Waisenhaus herausholen würde und der grausame Schmerz über den toten Vater überfiel ihn erneut, wie schon so oft in den letzten Tagen.

Er war erleichtert, als Heiner ihn in den Flur zurückschob, weg von ihren traurigen Gedanken und ihn schnell und unsanft weiterdrängte, zurück in den Tagesraum, wo die ungeduldige Schwester mit dem Abendessen auf sie wartete.

Max und Heiner, die Zuspätgekommenen, mussten das Tischgebet alleine sprechen, während die anderen Jungs die beiden neugierig zwischen ihren gefalteten Händen hindurch beäugten. Beim Essen rückten die beiden Jungen etwas näher zusammen, bis sich ihre kleinen verlorenen Körper berühren konnten.

Nach dem Abendessen reichte ihm Schwester Sibylle verschiedene Kleidungsstücke, die sie einem riesigen Schrank im langen Flur gegenüber den Schlafsälen entnommen hatte. "Lederhose, Hemd, Unterwäsche, Socken, Bettwäsche und ein Schlafhemd" zählte sie ihm vor und klatschte ihm die Sachen in die ausgestreckten Arme. "Du brauchst hier keine eigene Kleidung. Deinen Koffer werden wir für dich aufbewahren." Vollbepackt folgte er ihr in einen riesigen Schlafraum, wo ihm die Schwester eines der zwanzig Eisenbetten zuwies, die auf beiden Seiten der kahlen Wände aufgereiht waren. Max legte die Wäsche auf seiner Matratze ab und blickte sich um.

Zuhause war sein Bett eine kleine Höhle gewesen. Als er noch sehr klein war, spielte er oft den kleinen Maulwurf, der sich unter der Erde versteckte und die Mutter tat so, als suche sie das ganze Kinderzimmer nach ihm ab, bis sie ihn schließlich juchzend unter seiner Bettdecke hervorzog. Wie konnte er sich jemals an die kalte, unfreundliche Atmosphäre dieses Raumes mit den vergitterten Fenstern gewöhnen und an diesen schrecklichen Geruch aus getrockneter Pisse und Arznei.

Jetzt lag er da, blickte mit schmerzenden Augen in die Dunkelheit, hörte die atmenden Geräusche der Kinder um sich und konnte Stunde um Stunde nicht einschlafen. Immer wieder wurde er durch das verzweifelte Bellen eines Hundes aufgeschreckt, der in unmittelbarer Nähe des Gebäudes unruhig in seiner Hütte auf und ab sprang.

Und immer wieder blieb sein Blick an dem schwarzen Fenstergitter hängen, das sich vom stumpfen Grau der nächtlichen Umgebung abhob, schwarze, geschwungene Stäbe, wie tanzende Schlangen, die sich zwischen ihn und die Freiheit drängten.

Um sich zu beruhigen, versuchte er, sich den kleinen Vorgarten vor seinem Elternhaus vorzustellen, die Einzelheiten zu erinnern. Die Brombeerhecke an der kleinen Mauer, die Birke, deren Stamm schon weit unten dreigeteilt war und die dadurch so sehr in die Breite wuchs, dass sie die Hälfte des Gartens überschattete. Das Beet im hinteren Teil des Gemüsegartens, in dessen Erde sein Hund Karli begraben lag und wohin er sich gerne zurückzog, um mit Karli in einen stummen Dialog zu treten. Er erinnerte sich an den Geruch des Grases, wenn er auf dem Rücken liegend das Blinzelspiel spielte, wobei er seine Augen starr geöffnet hielt, um sein Blinzeln zu unterdrücken und nur blinzeln durfte, wenn ein Vogel sein Blickfeld durchkreuzt hatte.

Immer wieder wurde er durch das leise Traumgemurmel eines schlafenden Kindes oder durch die Bewegung eines anderen in die Dunkelheit des Schlafsaales zurückgeholt.

"Würde er Christian und Frieder wiedersehen? War er von nun an völlig auf sich alleine gestellt, schutzlos, ohne tröstende Worte oder eine liebevolle Berührung?"

In dieser Nacht durchschritt Max eine Tür, die sich hinter ihm schloss und die er nie mehr würde öffnen können und er betrat einen unbekannten Raum, dunkel und leer, den er neu gestalten musste, ihn beleuchten, mit Möbeln versehen und mit Farben bemalen, mit blossen Händen und ohne Handwerkszeug. Und es würde dauern, bis er einziehen konnte.

Fünf Sommer

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