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IV Erste Begegnung

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Anjas Vater, Berthold Schwab, der Hausmeister im Waisenhaus Herbertstal, war die Seele des Gebäudes, der Gärten und Stallungen, ein stiller und bescheidener Charakter, selbst ein Waisenkind gewesen und aufgewachsen im gleichen Gebäude, in dem er jetzt tagein, tagaus nach dem Rechten sah. Er war beliebt bei den Schwestern, sie suchten gerne seine Unterstützung und auffallend oft seine Nähe, denn er war das einzige erwachsene männliche Wesen im ganzen Haus.

Für die grösseren Jungen bot er eine der seltenen Möglichkeiten, der strengen Alltagsstruktur des Heimes zu entfliehen. Sie durften ihm im Garten beim Umstechen, in der Werkstatt beim Hobeln und Schreinern oder beim Ausmisten des Hühner- und des Schweinestalls behilflich sein.

Anja liebte es, ihn vom Fenster der Hausmeisterwohnung aus zu beobachten, wie er im blauen Arbeitskittel seine Runden drehte.

Die Wohnung befand sich im zweiten Stock des Personalwohnhauses, man hatte einen guten Überblick über die gesamte Anlage und Anja suchte, sobald sie von der Schule nach Hause kam, das Gelände nach dem blauen Arbeitskittel ab. Dieser Augenblick vermittelte ihr ein Gefühl von Wärme und Geborgenheit und sie war nicht vollständig, wenn sie ihren Vater dort nirgends entdecken konnte.

Anjas Mutter, Margarete Schwab, war Säuglingskrankenschwester, eine Tätigkeit, die ihr auf den Leib geschneidert war. Auf den ersten Blick wirkte sie zart und zerbrechlich und ihre geschmeidigen Bewegungen liessen den Umgang mit ihren Säuglingen leicht und spielerisch erscheinen, ihre Zähigkeit und Durchsetzungskraft jedoch, gab der Familie eine Richtung vor, die Berthold und die beiden Mädchen nicht immer verstehen konnten, Margarete aber meist an ihr gewünschtes Ziel brachten.

Von ihren dunklen, glänzenden Augen ging eine geheimnisvolle Anziehungskraft aus, meist lag ein leichtes Lächeln auf ihren Lippen und ihr schönes, ausdrucksvolles Gesicht strahlte eine Freude und Leichtigkeit aus, die ansteckend war.

Sie arbeitete gerne in der Erde und liebte es, die Blumen im grossen Heimgarten zu pflegen. Unter ihren Händen gediehen die Pflanzen prächtig und ab und zu erwischte Anja ihre Mutter, wie sie mit Löwenmäulchen oder Rittersporn sprach. Blumen könnten Geschichten erzählen, behauptete sie, und nur wenige Menschen würden ihre Sprache verstehen. Sie lachte, wenn Anja verzweifelt versuchte, diese Stimmen zu hören und tröstete sie damit, dass man ein bisschen Geduld haben müsste und man die Blumensprache nicht mit den Ohren hören könnte, sondern mit dem Herzen.

Die riesige Gartenanlage versorgte die Heimbewohner mit Gemüse und Früchten aller Art. Berthold hatte vom Frühjahr an alle Hände voll zu tun, den Garten in Schuss zu halten und auf die Tage vorzubereiten, an denen geerntet werden konnte. An manchen Sommertagen waren viele Hände nötig, um die reifen Früchte zu pflücken und die Waisenjungen wurden verstärkt zur Arbeit im Garten herangezogen.

An einem dieser Tage entdeckte Anja den kleinen, gedemütigten Heimjungen unter den Bohnenpflanzen wieder, die sich an langen Stangen emporwanden und weit über ihn hinausragten.

Sie beobachtete, wie er sich auf dem Boden niederliess, eine Hand voll Erde aufnahm und begann, die Brösel von einer Hand in die andere rieseln zu lassen. Er genoss es sichtlich, im Schutz des

grünen Blätterdachs unbeobachtet seinen Gedanken nachzugehen.

Anja schlich sich leise näher und Max erschrak, als sie so plötzlich vor ihm stand.

"Was machst Du hier?" fragte sie neugierig. Max liess die Erde aus seinen Händen gleiten, setzte sich aufrecht und blickte Anja herausfordernd an, als hätte sie hier nichts zu suchen.

"Was machst Du hier?" wiederholte er Anjas Frage.

"Ich spiele!" entgegnete Anja.

"Hier darf man nicht spielen!" erwiderte Max trocken.

"Ich darf hier spielen, ich wohne nicht im Heim!"

"Und wo wohnst Du?", fragte Max weiter.

"In der Hausmeisterwohnung nebenan und meine Eltern arbeiten hier im Garten. Und wo sind Deine?"

Anja wusste, dass sie zu weit gegangen war, doch es reizte sie, diesen stolzen, trotzigen Jungen ein wenig zu ärgern.

Max war rot geworden und sagte jetzt frech: "Das geht Dich gar nichts an!"

Anja liess sich nicht so schnell abspeisen. "Du bist doch der Neue aus der Erdgeschossgruppe und bist mit den kleinen Jungs vor kurzem hier gelandet!"

"Christian....Frieder!" Plötzlich war Max aufgestanden und auf sie zugetreten. "Hast du sie gesehen? Weisst du, wo sie sind?", fragte er aufgeregt.

"Ja, klar weiss ich das!" antwortete Anja. "Sie sind in der Krankenstation. Komm mit, ich bring Dich hin!" Anja streckte ihm die Hände entgegen, doch Max tat, als hätte er es nicht bemerkt.

Berthold schüttelte stumm den Kopf, als die beiden Kinder zuerst über die Beete hüpften und dann gemeinsam auf dem breiten Gartenpfad zum Gebäude zurückrannten, über die Treppe zum oberen Hof, vorbei an den vergitterten Fenstern im Erdgeschoss, bis sie vor der Tür zur Aufnahme standen, hinter der sich Max, Christian und Frieder an jenem unheilvollen Tag ihrer Ankunft verzweifelt von Tante Biene verabschieden mussten und einen Tag später von der unfreundlichen Ärztin mit dem freundlichen Lächeln untersucht wurden und die sie freigegeben hatte für dieses neue Leben.

"Hinter der Aufnahme liegen die Krankenzimmer!", flüsterte ihm Anja aufmunternd zu.

"Und hier wohne ich!" Sie zeigte auf das graue, schmuddelige kleine Häuschen gegenüber, doch Max starrte unbeweglich in die Richtung der Eingangstür, hinter der er seine Brüder vermutete.

Er hörte nicht, wie sich Anja leise verabschiedete, wie sie an ihrer Wohnungtür klingelte und nach dem Summen des Türöffners im Haus verschwand.

Die Tür liess sich leicht und ohne Geräusche öffnen. Max trat lautlos ein und befand sich in dem engen, länglichen Flur, den er schon kannte. Aus dem Arztzimmer links vor ihm waren klappernde Geräusche zu hören und während er vorbeischlich, bemerkte er, dass in der oberen Hälfte der Tür eine Milchglasscheibe eingelassen war, durch die er aus den Augenwinkeln den Umriss der Ärztin erkannt hatte, die sich an einer kleinen Gestalt auf der Liege zu schaffen machte.

Um nicht entdeckt zu werden, duckte sich er schnell und schlich gebückt mit vorsichtig geschmeidigen Tritten unter der Scheibe hinweg.

Die nächste Tür zum Büro von Frau Hawlizek war geschlossen. Max atmete auf und ging weiter. Er schob die Schwingtür am Ende des Flures vorsichtig auf, schlich sich hindurch und zuckte zusammen, als sich die Türflügel mit einem schabenden Geräusch hinter ihm schlossen.

Ein weiterer, schmaler Flur lag vor ihm, gleich dem vorherigen, zwei Türen auf der linken Seite, beide geschlossen, nur die Milchglasscheibe in der ersten Tür war gegen eine einfache Glasscheibe ausgetauscht worden, das sah er sofort.

Sein Herz klopfte laut, als er auf die Scheibe zuging und in einen trostlosen Raum blickte, in dem vor vergitterten Fenstern und kahlen Wänden mehrere Betten standen. Ein grosses Holzkreuz war zwischen den beiden Fenstern aufgehängt und es schien, als würde es einen Schatten auf die verzweifelten Gestalten werfen, die dort in ihren Betten lagen. Max Blick wanderte von einem zum nächsten. Manche der Kinder schliefen, die Decke bis zur Nasenspitze hochgezogen. Andere wiederum sassen mit bleichen Gesichtern und wässrigen Augen aufrecht im Bett und stierten unbeteiligt gegen die kahlen Wände.

Er entdeckte Christian in einem weiten Nachthemd mit nackten, herunterhängenden Beinen auf einer Bettkante sitzen. Sein Oberkörper war weit nach vorne gebeugt, er hustete unentwegt und wand sich in Krämpfen.

Minutenlang beobachtete Max seinen Bruder, das Gesicht gegen die Scheibe gepresst, die Hand an der Klinke, die Zehen in den ausgetretenen Schuhen festgekrallt, der erste freundliche Augenblick seit Tagen voller Angst, Demütigung und Einsamkeit und obwohl er sehen konnte, wie Christian verzweifelt um Atem rang, genoss er diesen wertvollen Moment, denn er ahnte, dass er von kurzer Dauer war.

Dann drückte Max die Klinke hinunter und schlich in den Krankensaal. Der Hustenanfall brach jäh ab, als Christian ihn erblickte und er starrte Max mit rot umränderten Augen an, als wäre er ein Geist. Seit Tagen hatte er nur gehustet. Tag und Nacht. Die Keuchhustenanfälle hatten zugenommen und inzwischen quälte sich sein Atem schmerzhaft und heiss durch die Bronchien, die sich bei jedem Anfall zusammenzogen und ihm die bläuliche Gesichtsfarbe verliehen, die Max so erschreckte.

Christians verzweifelter Blick stellte die Frage, bevor seine Lippen sie aussprachen: "Max, können wir wieder nach Hause gehn?"

Max schüttelte kaum merklich den Kopf und blickte mitleidig und verwirrt auf den entstellten Bruder und mit Christians schwindender Hoffnung verstärkte sich sein Husten.

"Was ist los mit Dir? Wo ist Frieder?" Christian drehte seinen Kopf nach links und deutete in Richtung der Bettgestelle im hinteren Teil des Krankensaales. "Da hinten!" prustete er und versuchte, einen neuen Anfall zu unterdrücken.

"Ich möchte nach Hause!" stammelte er, jedes Wort von einem Keuchen begleitet und rutschte von der Bettkante. Er ging auf Max zu, nahm seine Hand und versuchte, ihn zur Tür zu zerren.


In diesem Augenblick wurde sie heftig aufgestossen und Schwester Sibylle stand im Türrahmen, wie eine Statue, die Hände auf die breiten Hüften gelegt, mit eingezogenem Hals, weil ihre ausladende Haube kaum durch den Türstock passte. Ihr wilder, wütender Blick streifte Christian und blieb dann an Max hängen.

"Hier bist Du also!" Einige lange Sekunden fixierte sie ihn unbeweglich, dann stürmte sie auf die beiden zu. Erregt riss sie die Jungen auseinander, die sich nicht loslassen wollten und sich mit Kräften wehrten, als hätten sie etwas gegen die zornige Schwester auszurichten. Dann schubste sie Christian auf sein Bett zurück, schnappte sich ein Ohr von Max und zerrte ihn daran zur Tür.

Während Christian zwischen Husten und Weinen verzweifelt versuchte, Luft zu holen, hörte Max vom anderen Ende der Bettreihe einen kleinen Jungen schreien. Immer wieder rief Frieder seinen Namen. "Maaaax...!"

Er konnte ihn noch hören, als die Tür zum Krankenzimmer längst zugefallen war. Schwester Sibylle zerrte ihn hinaus, über die Treppe zum unteren Hof, zurück in die Erdgeschossgruppe und weiter in das Badezimmer, wo sie ihn nackt auszog, kopfüber zwischen ihre Beine steckte und so lange auf ihn einprügelte, bis der Druck von ihr abgefallen war.

Das Leben hinter den Klostermauern war ihr Schicksal, liess sie unbeachtet und ungeliebt zurück, wie die Kinder, die sie betreute. Mit jedem Schlag, den sie austeilte, spürte sie ihren Atem freier fliessen und die Anspannung weichen, die sie nachts nicht schlafen liess. Die Gerechtigkeit war zurück, Schwester Sibylle war wieder lebendig.

Seine Brüder wiederzusehen, hatte auch in Max neue Energien entfacht. Allein der Gedanke daran, sich der Macht dieser Schwester zu widersetzen, erfüllte ihn mit frischer Kraft, die ihn mit seinen sieben Jahren zu einem würdigen Gegner machte.

Die blauen Flecken heilten rasch und Max schlich, so oft er sich unbeobachtet von der Gruppe entfernen konnte, in die Krankenstation, um seine beiden Brüder zu sehen. Manchmal beobachtete er sie einfach nur durch die Scheibe, wie sie hustend um Luft rangen, in den Hustenpausen erschöpft an der Wand lehnten oder teilnahmslos in die Luft starrten. Und manchmal, wenn sie ihn an der Scheibe entdeckten, schlich er zu ihnen in den Krankensaal, wo sie die Köpfe zusammensteckten, sich gegenseitig Mut machten und sich schworen, einander beizustehen, was auch immer geschehen würde.

Mehr als einmal hatten ihn die Kinder im Krankensaal verraten, dann liess er sich ungerührt von Schwester Sibylle hinüber ins Badezimmer führen und mit jedem Schlag, den sie austeilte, wuchs seine Abscheu und gleichzeitig mehrte sich auch die Kraft, die er brauchte, die nächsten Monate durchzuhalten.

Nachdem die Hustenkrämpfe weniger geworden waren und die Ansteckungs-gefahr gebannt war, entliess Frau Dr. Bank die beiden in den Alltag des Waisenhauses. Christian und Frieder wurden bei den kleinen Jungs, den Zweitstöcklern aufgenommen.

Fünf Sommer

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