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II Besondere Qualitäten

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Fräulein Bechler, Lehrerin der zukünftigen Klasse 1 der Grundschule in Herbertstal, würde auch in diesem Jahr, wie üblich, die Eignungstests für die Anwärter der 1. Schulklasse durchführen. In ihrem Klassenzimmer drängten sich Schüler und Eltern aufgeregt an den kleinen Pulten, die Lehrerin führte sie streng durch das Geschehen und verteilte zuerst einmal die Rechenaufgaben. Die Kinder begannen, fiktive Tortenstücke zu verteilen und Äpfel zu zerlegen, während die Eltern angespannt beobachteten, ob ihre Sprösslinge diese Hürde nehmen würden.

Die siebenjährige Anja Schwab sass in einem buntgestreiften Sommerkleid an der Seite ihrer Mutter an einem der mittleren Pulte und beobachtete die Lehrerin, wie sie die Aufgaben einsammelte und sich die Namen notierte. Das Kinn leicht erhoben schaute Anja mit grünen Augen und skeptischem Blick unter ihrem etwas zu langen hellblonden Pony hervor, als wolle sie sich die Person genau einprägen, die sie die nächsten Jahre durch die Schule begleiten würde.

"Die meisten von Euch können zwar noch nicht schreiben, aber ihr dürft es heute versuchen", erklärte Fräulein Bechler, öffnete die seitlichen Flügel der Tafel und zeigte auf die Worte, die dort in grossen Buchstaben geschrieben standen. Für Anja sahen sie wie ein kleines Gemälde aus, mit wunderschönen Bögen, Kringeln und Kreisen.

"Willkommen in der Schule, steht hier an der Tafel und da wir in der ersten Klasse das Schreiben in ganzen Sätzen lernen werden, ist es heute eure Aufgabe, diesen Satz abzuschreiben!", erklärte Fräulein Bechler knapp.

Sofort konnte man hier und dort aufmunternde, aber auch einschüchternde Worte der Eltern vernehmen, während die Kinder sich auf die Kringel und Haken der einzelnen Buchstaben konzentrierten und begannen, sie in ihr Gedächtnis aufzusaugen, um sie dann auf das leere Blatt Papier zu übertragen, das vor ihnen lag.

Anjas Blick streifte weg von der Lehrerin, hinüber zu einer kleinen Gruppe von Jungen im hinteren Teil des Klassenzimmers. Mit ihren einheitlichen, braunen Stoffhosen und den weissen Hemden, den fast kahl rasierten Köpfen und den vor Aufregung glühenden Gesichtern war einer kaum vom anderen zu unterscheiden. Eine Ordensschwester mit riesiger, weisser Haube und schwarzer Tracht zischte permanent mit ihren schmalen, kaum geöffneten Lippen auf die Kinder ein.

Anja bemerkte, wie sich die Kinder unter ihren Worten duckten, so als wären sie Gegenstände, die durch die Luft flogen und denen man ausweichen musste, um nicht getroffen zu werden.

Einer der Jungen beachtete die Schwester nicht, blickte traumverloren aus dem Fenster, so als würde er seinen Satz am Himmel ablesen, von ein paar weichen Wolkenkringeln vielleicht, oder einer Flugzeugspur.

Anja beobachtete, wie die Schwester kurz innehielt, ein paar Schritte auf den unaufmerksamen Jungen zuging, sich hinter ihm aufbaute und ihn so um den Hals griff, als würde sie ihn liebkosen wollen. Von den anderen unbemerkt, grub sie ihre Fingernägel in seinen dünnen Nacken und während sie freundlich lächelnd über die heissen Köpfe der Übenden hinwegblickte, zog sie den erschreckten Jungen ein paar Zentimeter zur Seite. Ein kurzer, unterdrückter Schrei folgte und während sich der Junge den schmerzenden Nacken rieb, blieb sein Blick jedoch in die Ferne gerichtet, stolz, unbeugsam und tränenlos. Nur ein paar Sekunden dauerte die Szene, die Anja zum ersten Mal Einblick ermöglichte in die mitleidlose Kälte des gelben Gebäudes gegenüber ihrem Zuhause, das die uniformierten Kinder ausspuckte und wieder einsaugte, wie es ihm gefiel.

Trotz ihrer sieben Jahre fühlte Anja schon lange, dass sie anders war, als die anderen. Wie auf dem falschen Planeten zur Welt gekommen, spürte sie Dinge, die die meisten Menschen nicht wahrnahmen. Sie spürte, wie sich die Atmosphäre verändern konnte, wenn jemand den Raum betrat und sie fühlte Menschen leiden, so als ob sie selbst betroffen wäre. Oft wurde sie von Eindrücken bedrängt und überwältigt, die ihr eine Flut von Gefühlen bescherten, die sie nicht aufhalten konnte.

Ihre fünfjährige Schwester Claudia wurde meist wütend, wenn Anja wieder einmal das gemeinsame Spiel verweigerte, sich in die Ecke setzte und lieber stundenlang in ein Bilderbuch starrte, sich in den Details verlor, förmlich hineinkroch in die bunte Szenerie.

Auch die Eltern beobachteten besorgt, wie sich ihre grosse Tochter manchmal zurückzog. Unerreichbar und nur manchmal von der kleinen Melodie eines Kinderliedes aus ihrer Welt zu locken. Anja liebte es, zu singen. Mit ihrer hellen wohlklingenden Stimme sang sie die ein oder andere Melodie in unendlichen Wiederholungen. Sie spürte in ihren Körper, wenn sie sang, fühlte, wie das Lied ihn ausfüllte und zum Schwingen brachte, ein heilendes Mantra.

"Genug, mach mal Pause!" rief die Mutter manchmal aus der Küche, wenn Anja von Neuem anhob. Doch sie freute sich insgeheim, dass ihre verschlossene Tochter beim Singen von einer Fröhlichkeit umgeben war, die sie sonst an ihr vermisste.


Die ersten Mädchen und Jungen gaben das Blatt mit den schwungvoll gemalten Worten an die Lehrerin weiter und verliessen mit Vater oder Mutter den Raum. Vielleicht würden sie in wenigen Monaten zurück sein in der Welt der Buchstaben und Zahlen.

Auch die kleine Gruppe um die Ordensschwester hatte ihre Prüfung bereits beendet und Anja beobachtete, wie sie vorne an der Tafel vorbeizogen. Die Kinder legten im Vorbeigehen ihre Blätter auf das Pult, eines nach dem anderen. Der traurige Junge blickte kurz auf, als hätte er bemerkt, dass Anja ihn ansah und dann senkte er wieder verlegen den Kopf. Die Schwester wechselte im Hinausgehen ein paar Worte mit der Lehrerin und marschierte fast im Gleichschritt mit ihren uniformierten Jungen zur Türe hinaus.

Anjas Mutter begann, sich Sorgen zu machen. Die meisten Kinder hatten ihre Prüfung beendet und ihr Blatt abgegeben, nur vereinzelt sassen die Übrigen kritzelnd an ihren Pulten, schnaufend über der schweren Aufgabe. Anja hatte noch nicht einmal begonnen.

Würde sie schon an der ersten Hürde scheitern? Noch immer sahen die Tiere, die sie malte, wie Lokomotiven aus. Würde sie die Wörter an der Tafel auch zu unlesbaren Gebilden formen oder würde sie es gar nicht einmal versuchen?

"Was ist los mit Dir?", fragte sie leise und dann hob Anja den Stift und ihr Willkommen in der Schule fügte sich Buchstabe für Buchstabe in schwungvollen und fliessenden Bewegungen zu einem Ganzen, zu einer Einladung in einen neuen Lebensabschnitt.

Fünf Sommer

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