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1.1 Allgemeine Kommunikationsmodi der globalen Kommunikation
ОглавлениеWeltöffentlichkeit und Weltgemeinschaft: Synchronisation und Integration
Für die globale und grenzüberschreitende Kommunikation sind unterschiedliche Konzepte von Bedeutung. Am bekanntesten ist wohl das der „Weltöffentlichkeit“ (global public sphere, Volkmer 2014, Sparks 1998). Bei Massenmedien sind wir es gewohnt zu fragen, ob es eine Weltöffentlichkeit gibt. Werden Diskurse und damit Themen, Frames, Begriffe, Symbole und Bilder in verschiedenen nationalen Mediensystemen oder sogar transnational, das heißt durch Medien, die in mehreren Mediensystemen agieren, zeitgleich verhandelt? Man kann diese Frage als Synchronisations- oder auch als Koorientierungsproblem bezeichnen und es auf einfache Art wie folgt formulieren: Beobachten die Menschen dieser Erde unsere Welt mit Hilfe von Medien in ähnlicher Weise? Führt die journalistische Selbstbeobachtung tatsächlich zu einer „Synchronisation der Weltgesellschaft“ (Blöbaum 1994, S.261), indem sie uns ähnliches Wissen zur Verfügung stellt? Während der Begriff der „Öffentlichkeit“ weithin bekannt ist, spielen soziologische Konzepte wie „Weltgesellschaft“ oder „Weltgemeinschaft“ (Beck 1997, Richter 1990) in der Kommunikationsforschung kaum eine Rolle. Der Begriff der „Gesellschaft“ ist historisch eng mit dem Entstehen von medialer Öffentlichkeit verbunden. In einer Gesellschaft beobachten Menschen ihre Umwelt mit Hilfe von Medien (Kunczik/Zipfel 2001, S.47ff.). Der Begriff der „Weltgemeinschaft“ ist hingegen für die Kommunikationsforschung problematisch. Er evoziert ein anderes Problem als das der Synchronisation: das Interaktionsproblem, das zugleich ein Integrationsproblem ist. Während in Gesellschaften eine direkte Interaktion nicht unbedingt erforderlich ist, sondern Beobachtung mit Hilfe von Massenmedien von zentraler Bedeutung ist, entstehen Gemeinschaften durch Interaktion miteinander statt lediglich übereinander. Für Gemeinschaft, zumal für die lokale und stationäre Gemeinschaft, ist der zwischenmenschliche Dialog nahezu unabdinglich. Im Dialog optimieren wir unser Wissen und erzeugen den Wert eines gemeinsamen Wir-Gefühls.
Es lassen sich also zwei Grunddefinitionen festhalten: a) Vernetzung als interpretative Informationsverarbeitung ohne Interaktion ist Beobachtung; b) Vernetzung als kooperative und integrative Informationsverarbeitung ist Interaktion beziehungsweise Dialog. Beide Kommunikationsformen sind für die menschliche Existenz bedeutsam.
Zwar ist die Abgrenzung zwischen Gesellschaft und Gemeinschaft nicht so einfach, da auch „Nationen“ (im Unterschied zum Staat) Surrogatgemeinschaften in Großgruppen sind, die ein Wir-Gefühl entwickeln können, auch wenn keine direkte Interaktion zwischen allen Gemeinschaftsmitgliedern besteht. Hier könnte man den Begriff der „Diskursgemeinschaften“ einführen, die nicht durch direkte Interaktion, sondern durch eine weitgehend synchronisierte Öffentlichkeit zusammengehalten werden: Sprache, Geschichte und Kultur werden über Speichermedien hegemonial definiert, was die Vorstellung der Gemeinschaftlichkeit bedingen kann. Aber nationale Gemeinschaften sind ebenso wenig wie „virtuelle Gemeinschaften“ (Rheingold 2000) voll entwickelte Gemeinschaften im Sinne einer dichten Interaktion, eines ausgeprägten Wir-Gefühls und klarer Handlungshorizonte. Wenn ein starkes Wir-Gefühl vorherrscht, wie häufig im Falle von Nationen (Patriotismus, Nationalismus), dann ist dies in der Regel eine Mischung aus Diskurs- und Interaktionsgemeinschaft: Identifikation wird im direkten Kontakt mit einer kleinen Zahl der Mitglieder der Gemeinschaft eingeübt, basiert ansonsten aber auf geteilten Erfahrungen einer (durch Medien vermittelten) Diskursgemeinschaft. Der Begriff der „Weltgemeinschaft“ ist nun ebenfalls als eine solche Kombination vorstellbar. Kosmopolitismus, also eine über das Konzept der „Nation“ hinausweisende, die Menschheit als Ganzes umfassende Weltanschauung, entsteht durch a) direkte grenzüberschreitende Interaktionen der Menschheit miteinander, b) durch (repräsentative) direkte Interaktion zwischen bestimmten Sozialsystemen über Grenzen hinweg (z.B. Politik, Diplomatie) und c) durch global synchronisierte und von den Massenmedien vermittelte Wissensbestände, Werte und Perspektiven.
Die zentrale These, die in diesem Buch verfolgt wird, lautet: Massenmedien allein können allenfalls „Weltöffentlichkeit“, nicht aber „Weltgemeinschaft“ erzeugen. Letztere entsteht, wenn überhaupt, nur durch die Mithilfe anderer Sozialsysteme sowie in den Lebenswelten des Menschen. Globale Massenkommunikation ist nicht nur, wie wir sehen werden, in ihrem derzeitigen Zustand kaum in der Lage, Öffentlichkeiten und Weltwissen zu synchronisieren, da die nationalen Mediensysteme weitgehend isoliert bleiben. Sie ist auch durch die monologische Anlage von Medien – one-to-many statt face-to-face, person-to-person oder group-to-group – prinzipiell unfähig, gemeinschaftsbildende Dialoge zu erzeugen. Die folgende Abbildung 1.1 illustriert die beobachtende und Öffentlichkeit erzeugende Anlage des Mediensystems sowie die interaktive und Gemeinschaften erzeugende Anlage anderer sozialer Systeme und Lebenswelten.
Abb. 1.1:
Globale Kommunikation – Öffentlichkeiten und Interaktionen
Distanzwahrnehmung und Kosmopolitismus
Warum benötigen wir ein erweitertes Leitbild? Weshalb betonen wir den Aspekt der Interaktion, des Dialogs und der partizipativen Gemeinschaft? Natürlich gibt es Beispiele dafür, dass Medien und Öffentlichkeit Empathie und ein Wir-Gefühl erzeugen können. Mediale Diskursgemeinschaften können unter besonderen Bedingungen ein Gefühl der Solidarität und Verbundenheit unter Menschen schaffen, das weit über die übliche nationale gesellschaftliche Koexistenz und das Nebeneinander paralleler Lebenswelten hinausweist. Diese Momente stehen aber gerade in Kriegs- und Krisensituationen patriotischen Grundstimmungen gegenüber, bei denen Mediendiskurse über die Verbreitung von Feindbildern dazu beitragen, die Länder und Bevölkerungen voneinander zu trennen (Hafez 2005, S.69ff.).
Positive Facetten von Weltöffentlichkeit – etwa einer von Medien induzierten kosmopolitischen Solidarität mit Geflüchteten – sind äußerst instabiler Natur. Lilie Chouliaraki hat gezeigt, dass Mediennarrationen über „entferntes“ (distant) Leiden dann am erfolgreichsten an der Konstruktion eines Gemeinschaftsbewusstseins (Kosmopolitismus) mitwirken, wenn sie Leiden humanisieren, individualisieren und durch das Aufzeigen gemeinsamer Verantwortung und Handlungsmöglichkeiten Nähe erzeugen (2006). Wie instabil solche Phänomene allerdings sind, konnte man etwa an der deutschen Flüchtlingsberichterstattung und der öffentlichen Meinung zu diesem Thema in den Jahren 2015/16 erkennen (Hafez 2016, Georgiou/Zaborowski 2017). Öffentliche Diskurse sind flüchtig, launisch und erratisch.
Adaptiert man die Koorientierungsansätze der interpersonalen Kommunikation für die Medien, so versteht man, dass Beobachtung ein komplexer Prozess ist, bei dem sich schnell Fehlinterpretationen einstellen, etwa die sogenannte „kollektive Nichtbeachtung“ (pluralistic ignorance), die durch Annahmen darüber entsteht, wie andere ein Phänomen deuten (Hafez 2002a, Bd.1, S.171ff., Bd.2, S.253ff.). Was denken die nicht-muslimischen Deutschen auf der Basis von Medieninformationen, was Muslime über Terror denken? Und liegen sie damit richtig? Chouliaraki ist daher dahingehend interpretiert worden, dass auch unter den Bedingungen internationaler Medienberichterstattung der Spannungszustand zwischen universellem Bewusstsein und einer spezifischen (lokalen) Involviertheit des Menschen dazu führt, dass in aller Regel globale Gemeinschaftlichkeit verhindert wird und die Selbstzuordnung zu einer partikularen Gemeinschaftlichkeit (Nation, „Kulturkreis“, Religionsgemeinschaft) unangetastet bleibt (Yilmaz/Trandafoiu 2014, S.7f.). Transkulturelle Fernkommunikation durch mediale Beobachtung ist also nicht oder nur eingeschränkt gemeinschaftsbildend.
Interaktion, Koorientierung und globale Übereinstimmung
Die Frage ist daher: Muss nicht zur Beobachtung und Synchronisationsleistung der nationalen Öffentlichkeiten ein echter grenzüberschreitender Dialog treten, der die nationalen Systeme besser integriert und das Individuum aus seiner lokalen Handlungsbegrenzung befreit? Zwar ist es richtig, dass historische traditionale Gesellschaften der Menschheitsgeschichte, die hochinteraktiven Stämme und Clans, die das Sozialleben in früheren Zeiten dominierten, zugleich hochgradig rassistisch und fremdenfeindlich waren und ihre Kriegsrate der moderner Gesellschaften durchaus ähnelte (Diamond 2013, S.142ff.). Die Frage muss also lauten: Warum mehr Interaktion, wenn doch erst die moderne Gesellschaft mit ihren Institutionen wie Staat, Medien und Öffentlichkeit Regeln für die dauerhafte Existenz von Menschen im Herrschaftsraum anderer Gruppen geschaffen hat? Die Antwort ist, dass erst die in der Moderne erfolgende Interaktion über Grenzen hinweg – out-group statt wie früher in-group – die Fortschritte der Vernetzung der Welt möglich gemacht hat. Es ist weniger die Beobachtung durch Medien als die direkte Interaktion zwischen Staaten, die, um beim Beispiel zu bleiben, ein System von völkerrechtlichen Aufenthaltsberechtigungen und Staatsbürgerschaften geschaffen hat. Die direkte Interaktion zwischen politischen Systemen und Staaten ist also, ebenso wie der Austausch auf anderen Ebenen der Gesellschaft, ein unverzichtbarer Bestandteil einer jeden Bilanz globaler Kommunikationsverhältnisse. Zwar führt nicht jede Form der Interaktion zu einem positiven kosmopolitischen Wir-Gefühl, weil in der Interaktion unterschiedliche Motive eine Rolle spielen können und auch Trennendes entdeckt werden kann. Zugleich besteht aber nur durch die direkte Interaktion überhaupt eine Chance, ein Wir-Gefühl als individuelles Erfahrungswissen zu etablieren, wie dies der Symbolische Interaktionismus behauptet.
Bislang gibt es keine auch nur annähernd kohärente Theorie der internationalen Gemeinschaft, die noch dazu Kommunikationsfragen zentral stellt. Es existieren aber zahlreiche Versatzstücke, wie die klassische Forschung der soziologischen Kommunikationstheorie, die allerdings eher kleingruppenorientiert ist. George Herbert Mead und Herbert Blumer haben im Symbolischen Interaktionismus verdeutlicht, dass Bedeutungen der Welt durch gemeinsame Interaktionen entstehen (Mead 1934). Dabei spielt die Interaktion mit sich selbst eine ebenso große Rolle wie die soziale Interaktion (Dialog). Die Grundlagen des Symbolischen Interaktionismus beschreibt Blumer wie folgt: „Weder betrachtet [der Symbolische Interaktionismus] die Bedeutung als den Ausfluss der inneren Beschaffenheit des Dinges, das diese Bedeutung hat, noch ist für ihn die Bedeutung das Ergebnis einer Vereinigung psychologischer Elemente im Individuum. Vielmehr geht für ihn die Bedeutung aus dem Interaktionsprozess zwischen verschiedenen Personen hervor. Die Bedeutung eines Dinges für eine Person ergibt sich aus der Art und Weise, in der andere Personen ihr gegenüber in Bezug auf dieses Ding handeln“ (1992, S.25f.).
Diese interaktionistische Herangehensweise unterscheidet sich vom Koorientierungsansatz. Kommunikationsvorgänge werden demnach durch ein Dreischrittverfahren charakterisiert: Sind mehrere Akteure („A“ und „B“ bei Newcomb) auf ein bestimmtes Symbol („X“ bei Newcomb) orientiert, gelten sie als „koorientiert“, ihre jeweiligen Bedeutungsinterpretationen können verglichen und das Maß an „Einverständnis“ (agreement) kann gemessen werden. Im nächsten Schritt kann ermittelt werden, inwieweit die Akteure selbst annehmen, dass ihre Bedeutungsauslegung mit der des anderen übereinstimmt, woraus das Maß der „Übereinstimmung“ (congruency) bestimmt wird. Schließlich werden „Einverständnis“ und „Übereinstimmung“ in Bezug auf ihre „Genauigkeit“ (accuracy) verglichen (Newcomb 1953).
Direkte soziale Interaktion unterscheidet sich von der sozialen Koorientierung, die auf Beobachtungen im Alltag beruht oder aber vermittels Medien stattfinden kann. Sowohl Umweltobjekte als auch Medien kann man als X-Objekte betrachten, auf die Menschen (A und B) orientiert sind. Im Unterschied zur Interpretation von beobachtbarer Umwelt liefern Medien eine Art Beobachtungs-Beobachtung, die Beobachtung anderer wird zugänglich. Man kann auch von direkter und indirekter Beobachtung sprechen. Medien sind hier Ressourcen zur Aushandlung der Welt, sie können Wissen schaffen, aber Sinndeutungen müssen auch im gemeinschaftlichen Rahmen ständig neu interaktiv ausgehandelt werden, um der Gesellschaft Stabilität zu verleihen. Beide Beobachtungsformen sind auch für den Prozess der globalen Kommunikation bedeutsam.
Direkte Beobachtung der Welt erfolgt durch den physischen Prozess der Grenzüberschreitung durch Individuen (etwa im Tourismus, in der Diplomatie usw.). Eine auf Medien koorientierte Wahrnehmung der Welt vermittelt darüber hinaus Wissen, gelegentlich sogar kosmopolitische Grundstimmungen. Die direkte Interaktion des Menschen – gleich ob in der privaten Lebenswelt oder als Rollenträger in politischen und gesellschaftlichen Systemen – ist allerdings eine zusätzliche sinnstiftende und zudem für die emotionale Bindung der Weltgemeinschaft wichtige Funktion. Simultanität durch Beobachtung und durch Massenmedien (ebenso wie universelle menschliche Orientierungen und kosmopolitische Werte) sind also wichtige Voraussetzungen für das Weltverstehen. Sie sind aber noch nicht selbst das Verstehen, denn diese Kommunikationsprozesse vermitteln noch kein stabiles Bewusstsein der globalen Gemeinsamkeit (Axford 2013, S.32), das nur durch direkte Interaktion und Erfahrungswissen entstehen kann. Die erfolgreiche Koorientierung durch Massenmedien ist zwar eine notwendige Voraussetzung für globale Gemeinschaftsintegration, sie ist aber nicht hinreichend, solange die Rückverhandlung oder Weiterverarbeitung ausschließlich in getrennten Sozialsystemen und Lebenswelten stattfindet (Hafez 2002a, Bd.1, S.171ff., Grüne 2016, S.421ff.).
Reizvoll ist es an dieser Stelle, das berühmte Bild des Orchesters, das Alfred Schütz für Symbolische Interaktion geprägt hat, auf die Weltgemeinschaft zu übertragen. Schütz sagt, dass, um gute Musik zu spielen, man nicht nur die richtigen Noten vom Blatt lesen können muss, sondern auch immer darauf achten sollte, wie die Kollegen spielen (Schütz 1951, S.94ff.). Sieht man die Welt als Orchester, dann reicht es nicht, sich beobachtend und mit Hilfe von Medien global zu koorientieren und mit der Welt zu synchronisieren, sondern man muss auch in eine direkte Kommunikation mit der Welt treten – Kosmopolitismus als Wert ist gut, globale Kommunikation als Praxis ist besser.
Diskursive Weltgesellschaft/dialogische Weltgemeinschaft: Kommunikationstheorien
Im Unterschied zur Weltgesellschaft bilden sich in der Weltgemeinschaft nicht nur gemeinsame Ethiken wie Menschenrechte und Kosmopolitismus aus (Albert et al. 1996, S.19, vgl. a. Etzioni 2004). Diese Ethiken können nur durch interaktives Handeln auf allen Ebenen entstehen, was den Übergang von der Weltgesellschaft zur Weltgemeinschaft zu einem intrinsisch kommunikations- und dialogbasierten Projekt macht. Emanuel Richter: „[Es] kommt in jenen Vorstellungen zum Ausdruck, die sich als ‚kommunikatives‘ Modell der Welteinheit klassifizieren lassen. Dieses erhebt die geradezu revolutionäre Ausbreitung von kommunikativen Austauschprozessen in allen Lebensbereichen zum neuen Bestimmungselement des globalen Zusammenhangs. […] In der abstraktesten Formulierung stellt sich diese Weltgemeinschaft als eine Art ‚kognitive Weltgesellschaft‘ dar, die in der Verallgemeinerung von Kommunikation schlechthin eine neue Form der Welteinheit erblickt. Diese systemtheoretische Einfärbung der Vorstellungen von der Welteinheit rückt also jenen Aspekt der Weltgesellschaft ins grelle Licht, der sich auf die Globalisierung von kommunikativen Austauschprozessen bezieht“ (1990, S.277).
Philosophen wie Immanuel Kant, Richard Rorty, Jürgen Habermas oder Nancy Fraser haben über Jahrzehnte immer wieder ihre Visionen einer „dialogischen Weltgemeinschaft“ formuliert (vgl. Linklater 1998, S.85ff.). Eine genaue theoretische Ausformulierung dieser Konzepte hat jedoch nicht zuletzt wegen der Zersplitterung der Geistes- und Sozialwissenschaften nie stattgefunden (Albert 2009). Neben den Theoretikern der sozialen Kommunikation, der internationalen Beziehungen und politischen Philosophie sind Medienphilosophen sowie Kommunikations- und Netzwerktheoretiker der modernen Informations- und Kommunikationsgesellschaft ergiebig, wenngleich auch sie selten auf globale Verhältnisse Bezug nehmen. Zu den bekanntesten Medienphilosophen gehört Vilém Flusser, dessen kardinale Unterscheidung zwischen diskursiver und dialogischer Kommunikation an der Wurzel unserer eigenen, in ähnlicher Weise Beobachtung von Interaktion trennenden Theoriebildung liegt: „Um Informationen zu erzeugen, tauschen Menschen verschiedene bestehende Informationen aus, in der Hoffnung, aus diesem Tausch eine neue Information zu synthetisieren. Dies ist die dialogische Kommunikationsform. Um Informationen zu bewahren, verteilen Menschen bestehende Informationen, in der Hoffnung, dass die so verteilten Informationen der entropischen Wirkung der Natur besser widerstehen. Dies ist die diskursive Kommunikationsform“ (2000, S.16). Auch Jürgen Habermas orientiert sich an dieser grundlegenden Unterscheidung zwischen Interaktion (beziehungsweise „kommunikativem Handeln“) und Diskurs, wobei er der Interaktion direkte Handlungskonsequenzen zuweist, während der Diskurs ein System der „möglicherweise existierenden Tatsachen“ ist, in dem das Individuum Informationen verstehen und deuten kann, ohne dass unmittelbare soziale Konsequenzen daraus entstehen (1971, S.21f.).
Flusser hat in seiner Medientheorie das bestehende Ungleichgewicht der Kommunikationsmodi in der Moderne beschrieben und ein Ende des Primats textbasierter Diskurskommunikation beschworen. Eine „Kommunikationsrevolution“ der Menschen sei erforderlich, so meinte er, ein „Abschirmen des Interesses der Menschheit gegen die sie programmierenden Diskurse“ (ebenda, S.47). Alphabetisierung der Moderne, Entwicklung des Buchdrucks, das Entstehen linearer Geschichtsschreibungen und der großen ideologischen Narrationen, inklusive moderner Nationalstaatsideen und moderner Kriege, sind bei Flusser aufs engste verbunden (ebenda, S.56). Die Bevölkerung wird in diesem Prozess zur „Masse“, die Lebenswelt wird kolonisiert. Man mag Flussers Sprache pathetisch und seine Betonung des repressiven Charakters der Mediendiskurse angesichts der von ihm selbst ja konstatierten Unverzichtbarkeit von Dialog und Diskurs (ebenda, S.16) widersprüchlich finden. Der Dualismus von diskursiver und dialogischer Kommunikation als Grundlage einer sozialen Kommunikationstheorie aber lässt sich in den Arbeiten zahlreicher Autoren erkennen.
Weiterführend ist Michael Giesecke sicher einer der interessantesten Autoren, die sich mit Fragen von Medien, Dialogen, Kommunikationsprozessen und Vergemeinschaftung beschäftigt haben. Gieseckes Denken ist grundlegend im Konzept der Kommunikationsökologie als dem Zusammenwirken artverschiedener Kommunikationsformen verankert (2002). Menschliche Kommunikation basiert auf durch Medien ermöglichtem Beobachten ebenso wie auf direktem lebensweltlichen Interagieren. Störungen und Pathologien entstehen aus Disbalancen, die das Zusammenwirken der verschiedenen Kommunikationstypen aus den Fugen geraten lassen (ebenda, S.35): bekannt sind hier seine „Mythen der Buchkultur“. Giesecke beschreibt die moderne Kultur des Westens und der Aufklärung als zu text- und beobachtungszentriert. Sein Beispiel: Hätte sich Kolumbus auf den herrschenden Diskurs seiner Zeit verlassen, hätte er sich nie auf die Suche nach neuen Welten gemacht. Erst die direkte Beobachtung – an den Küsten angeschwemmte Funde von toten nordamerikanischen Ureinwohnern oder Bambusstämmen – und die Interaktion mit Gleichgesinnten ermutigten ihn zu seinen Abenteuern (ebenda, S.114ff.).
Gerade das Internet betrachtet Giesecke als Chance für eine neue Vision der Informationsgesellschaft, die die kommunikationsökologische Balance, die durch monologische Buch- und Pressekulturen zerstört wurde, wiederherstellen kann. Dabei geht es nicht nur um eine Wiederbelebung des interpersonalen Dialogs, sondern vor allem um die Revitalisierung des Gruppen- und Mehrpersonengesprächs. Fraglich bleibt allerdings, wenn man den Hinweis von Giesecke weiterdenkt, welche theoretische Stellung man dem Gruppengespräch vor dem Hintergrund der Dichotomie von Diskurs und Dialog einräumen sollte: Steht es eher auf der Seite der „repressiven“ Verteilung medialen Wissens, indem es Medienagenden und -diskurse weitervermittelt; oder dient es der kreativen Aneignung und interaktiv-dialogischen Sinndeutung?
Interessant ist an Giesecke besonders, dass er die interkulturelle Fernbeziehung in seine Analyse einbezieht (2002, S.145ff.). Er bestätigt, dass bei interkultureller Kommunikation seit Jahrhunderten der Kommunikationsmodus der medialen Beobachtung dominiert hat, das Schreiben über und die Visualisierung von statt der Interaktion mit „Fremden“. Beobachtung statt dialogischem Austausch war ja auch der vorherrschende Modus des Kolonialzeitalters, das bis heute nachwirkt. Nach Giesecke haben wir in der Aufklärung eine Kultur der Neugierde, aber ohne echten Dialog, etabliert. Den Dialog bezeichnet er hingegen als Medium, um das „Gemeinsame der Menschheit“ hervorzubringen, und die neuen digitalen Medien erscheinen ihm als probates Heilmittel, auch wenn er hinzufügt: „Was immer mit dem globalen Dorf gemeint sein mag, es baut sich nicht allein auf dem Internet auf. Wir sind nicht nur durch Kabel, sondern auch durch andere Medien verbunden. Das ‚globale Dorfʻ bedarf unterschiedlicher Interaktions-, Kooperations- und Kommunikationsmedien, wenn es zusammenhalten und funktionieren soll“ (ebenda, S.376).
Integrationistische Systemtheorien
Literatur, die sich speziell mit der Frage der internationalen Kommunikation und Vergemeinschaftung beschäftigt, gibt es vergleichsweise wenig. Einige Pioniere haben jedoch die Auswirkungen von globaler Interaktion auf weltweite Vergemeinschaftung untersucht. Hier sind vor allem Autoren zu nennen, die Howard Frederick unter dem Label der „integrationistischen Systemtheoretiker“ zusammenfasst, wie etwa Karl W. Deutsch, Claudio Cioffi-Revilla, Richard L. Merritt, Francis A. Beer, Philip E. Jacob oder James V. Toscano (1993, S.202ff.). Das Credo dieser Arbeiten, die zum Teil schon in den 1960er Jahren entstanden, ist genau die oben mit dem Orchesterbild angedeutete Dynamik. Die internationale Integrationstheorie misst vor allem den Umfang von Interaktionen zwischen Einheiten wie Staaten und setzt diesen in Beziehung zum innergesellschaftlichen Kommunikationsaufkommen. Als empirische Basis dienen in diesen frühen Arbeiten üblicherweise der Brief- und Telefonkontakt, aber auch Daten des kulturellen Austausches etwa bei universitären Auslandsstudien. Die Hypothesen dieser sehr quantitativ orientierten Forschung sind Variationen der Grundannahme, dass nur eine interaktive und nicht nur koorientierte und beobachtende Welt ein stabiles Gerüst für eine Weltgemeinschaft sein könne. Karl W. Deutsch argumentiert, dass die Abwesenheit von Kommunikation zwischen Staaten zwar nicht notwendig zu Konflikten führen müsse, dass aber die Möglichkeiten der sozialen Kommunikation mit den Erfordernissen politischer, ökonomischer und sozialer Transaktionen auf anderen Feldern mithalten müssen (1970, S.58).
Mit anderen Worten: Ein Mangel an grenzüberschreitender Interaktion muss nicht zu Konflikten führen (vgl. a. Beer 1981, S.133, Rosecrance 1973, S.136ff.), aber eine Integration zu größeren Gemeinschaften etwa im Rahmen der Europäischen Union oder anderer internationaler Sicherheitsgemeinschaften hält er in einem solchen Zustand der Interaktionslosigkeit für undenkbar. Deutsch betont mit Nachdruck, dass eine Akzeptanz der politischen oder wirtschaftlichen Integration gleich welcher Art nur dann erfolgen könne, wenn Menschen diese Integration auch selbst erleben; nur so könne ein Wir-Gefühl (we-feeling) entstehen (1970, S.36). Er unterstreicht, dass solche Erfahrungen sowohl für politische Eliten als auch für die Gesellschaft an sich von Bedeutung seien (favorite societal climate, 1964a, S.51). Integrationstheoretiker betonen den Zusammenhang zwischen dem durch Medien vermittelten Image eines anderen Landes und menschlichen Beziehungen zwischen den Ländern, die sich durch Interaktionen wie Brief- und Telefonaustausch – heute würde man das Internet und andere Reisetätigkeiten hinzurechnen – ergeben (ebenda, S.54, 1964b, S.75ff.).
Dass die Angleichung internationaler politischer und ökonomischer Beziehungen einerseits und sozialer Interaktionen andererseits eine Wunschvorstellung ist, die nicht immer mit der Realität einhergeht, sondern, mit eigenen Worten ausgedrückt, „tektonische Verschiebungen“ zwischen den Beziehungsebenen die Regel sind (Hafez 1999, S.54ff.), haben die integrationistischen Systemtheoretiker dabei sehr frühzeitig erkannt: „Human relations are […] far more nationally bounded than movements of goods“ (Deutsch 1964b, S.84). Sezessionen wie die zwischen Großbritannien und den USA im 18.Jahrhundert etwa ließen sich auch auf Basis der kommunikativen Verbindungen nachvollziehen: zunächst war der Postverkehr zwischen England und den Kolonien ausgeprägter. Einige Jahrzehnte später jedoch hatte sich das Bild verändert, die Kolonien kommunizierten stärker miteinander, die sozialen Kontakte zu Britannien wurden immer spärlicher, wenig später brach der Unabhängigkeitskrieg aus (Deutsch 1964a, S.51). Die integrationistischen Systemtheoretiker konnten zudem nachweisen, dass der nach dem Zweiten Weltkrieg erfolgte multinationale Zusammenschluss europäischer Staaten den Briefverkehr und andere Interaktionen zwischen den Staaten verstärkte, was wiederum die europäische Idee in der Mitte der Gesellschaften ankommen ließ und den Eliten eine immer stärkere Integration ermöglichte (Clark/Merritt 1987, S.230ff.). Bis in die Gegenwart ist trotz der gewachsenen Kritik an der Europäischen Union und neonationalistischen Bewegungen wie dem Rechtspopulismus die europäische Idee selbst in Europa mehrheitsfähig. Hypothetisch könnte man fragen, ob mögliche Absatzbewegungen von der EU nicht auch damit erklärt werden können, dass gerade zwischen bestimmten Räumen (Nord- und Südeuropa oder Ost- und Westeuropa) eben noch immer zu wenig grenzüberschreitend kommuniziert wird – von dem Fehlen einer gemeinsamen europäischen Medienöffentlichkeit einmal ganz abgesehen.
Fazit: Dialog der „Kulturen“ in der erweiterten Lebenswelt
Unabhängig davon, ob man die quantitativen Methoden der früheren Forschung heute immer nachvollziehen kann (ist die Qualität mancher Interaktionen nicht bedeutsamer als die schiere Anzahl der Briefe, Telefonate und E-Mails?) oder ob man, wie in diesem Buch, Systemtheorie zur Handlungstheorie der Lebenswelt erweitern will (vgl. Kap. 1.2), weist die Schule der integrativen Systemtheoretiker dennoch den richtigen Weg. Dass das globale Integrationsdenken in der politologisch orientierten Sozialforschung entstanden ist, zeigt schon, dass weniger die Massenmedien, sondern vielmehr andere Sozialsysteme in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft sowie Individuen und Gruppen in den Lebenswelten für Dialogverhältnisse verantwortlich sind. Gerade in der Annahme, soziale Kommunikation sei ebenso wichtig wie politischer und ökonomischer Austausch, liegt eine geradezu revolutionäre theoretische Deutung, die Kommunikation zur zentralen Ressource der sozialwissenschaftlichen Theoriebildung gleichrangig mit ökonomischen Verhältnissen und Herrschaftsbeziehungen macht.
Spätere kommunikationswissenschaftliche Forschungen wie die zum „Dialog der Kulturen“ oder zum „islamisch-westlichen Dialog“ konzentrieren sich wieder sehr viel mehr auf globale Medienkommunikation, Feindbilder und Images – Forschungsrichtungen, die ohne Zweifel gemäß der Flusser’schen Zweiteilung der Kommunikationsmodi in Diskurs und Dialog ihre Berechtigung haben, direkte Interaktionen aber eher am Rande berücksichtigen (Quandt/Gast 1998, Hafez 2003). Neuere Arbeiten der politischen Philosophie zur globalen Gemeinschaft benutzen zwar den Begriff des „Dialogs“ in einem interaktiven Sinn, ignorieren aber die kommunikationswissenschaftlichen Dimensionen des Problems (Linklater 1998, Etzioni 2004). Dass der „Dialog der Kulturen“ daher eine theoretisch nie recht zufriedenstellende Formel war, weil die ursprünglich bei Systemtheoretikern wie Deutsch angelegte Symbiose aus Gesellschafts- und Kommunikationsanalyse verloren gegangen ist, sei an dieser Stelle ausdrücklich festgehalten.