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1.4 Systemdependenzen und Lebensweltbeziehungen
ОглавлениеKommunikation und zwischenstaatliche Beziehungen
Bislang haben wir versucht, die kommunikativen Eigenlogiken von Akteuren und Systemen im globalen Rahmen zu verstehen. Die Kommunikationsweisen der Akteure stehen allerdings in engem Zusammenhang mit bestimmten gesellschaftlichen Konzepten wie „Weltöffentlichkeit“ und „Weltgemeinschaft“. Unter anderem die oben vorgestellten integrativen Systemtheoretiker haben früh erkannt, dass beispielsweise grenzüberschreitende Interaktion durch Briefe, Telefon usw. eine Dichte der Beziehungen erzeugt, die wiederum politikrelevant ist oder dass umgekehrt ein bestimmter Stand der politischen und wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Ländern solche Kommunikation fördert. Kommunikation erfolgt nicht „einfach so“, sondern sie ist in gesellschaftliche Motivlagen eingebunden, deren Komplexität man verstehen muss, wenn man globale Kommunikation – oder ihr Ausbleiben – analysieren will. Bisher gibt es keine Generaltheorie für solche gesamtgesellschaftlichen Zusammenhänge. Dennoch existieren Konzepte, die man für die Analyse von globaler Kommunikation nutzbar machen kann, wenngleich man sie ergänzen und überarbeiten muss. Im Folgenden werden drei Typen von Interdependenzansätzen vorgestellt, die verschiedene Bereiche thematisieren und die komplexen Beziehungen beschreiben:
Kommunikation und zwischenstaatliche Beziehungen,
Medien und nationale/internationale Systembeziehungen,
Beziehungen zwischen Massenmedien, Handlungssystemen und Lebenswelten.
Zusammen bilden diese Theoreme zwar keine einheitliche Dependenztheorie globaler Kommunikation, aber es entsteht eine Matrix, die für Wechselbeziehungen zwischen verschiedenen Akteuren sowie zwischen den Akteuren und ihren Umwelten sensibilisiert. Richard Rosecrance beschreibt die Wechselwirkungen zwischen Interessenstrukturen und Kommunikationsbeziehungen in der internationalen Politik, indem er drei grundlegende Beziehungsmuster herausarbeitet (1973, S.136ff.). Als „positive Interdependenz“ bezeichnet er, wenn die Interessenstrukturen zweier Akteure, etwa zweier Staaten, grundsätzlich kompatibel sind und eine sich ergänzende Form der Beziehungen besteht. In diesem Fall trägt ein hohes Kommunikationsniveau in der Regel zur Stabilität der Beziehungen bei, während ein Abbruch oder eine massive Störung der Kommunikation zu temporärer Instabilität und zu einer Zunahme der Konfliktspannung führen können. Bei „negativer Interdependenz“ hingegen, also bei inkompatiblen Interessenstrukturen und einer „Nullsummen“-Interdependenz (Gewinne des einen sind Verluste des anderen) gehen auch von einem hohen Kommunikationsniveau in der Regel keine konfliktmindernden Einflüsse aus. In diesen Fällen ist es notwendig, entweder den Konflikt auszutragen, im Dauerkonflikt zu verharren oder aber Interessen neu zu definieren. Von „geringer Interdependenz“ spricht Rosecrance, wenn internationale Kommunikationspartner (Staaten/Regierungen) weder positive noch negative Beziehungen pflegen. Hier ist Kommunikation der wichtigste Beziehungsfaktor. Verläuft die Kommunikation störungsarm, sind auch die Beziehungen konfliktarm. Treten vermehrte Kommunikationsstörungen auf, sind auch die Beziehungen konfliktgeprägt. Trotz der engen Beziehung zwischen Interaktion und staatlichen Interessen ist also Interaktion kein Allheilmittel. Eine konfliktmindernde oder -verstärkende Wirkung der Kommunikation ist nur bei zwei Drittel der Modellkonstellationen zu erwarten (positive Interdependenz und teilweise geringe Interdependenz); bei einem Drittel aller Modellfälle (negative Interdependenz) werden keine beziehungsweise geringe Wirkungen durch Kommunikation erzielt.
Medien und nationale/internationale Systembeziehungen
Aus der Perspektive des Fachvertreters für Internationale Beziehungen besteht „Kommunikation“ für Rosecrance vor allem aus direkter Interaktion zwischen politischen Systemen. Andere theoretische Ansätze haben sich auf die Massenmedien, also auf beobachtende Formen des Austauschs zwischen Gesellschaften konzentriert, die wiederum für verschiedene Systeme und Lebenswelten von Bedeutung sind, wo Massenmedien als zentrales Umweltsystem für Akteure fungieren, die ihrerseits Umwelten der Massenmedien darstellen. Kai Hafez geht generell davon aus, dass grenzüberschreitende Interdependenzen bei den meisten Massenmedien – anders als bei Politik und Wirtschaft – schwach entwickelt sind, weil, wie oben festgestellt wurde, ein transnationales Mediensystem heute bestenfalls im Ansatz vorhanden ist (2002a, Bd.1, S.134ff., 2005). Gegenwärtig beobachten vor allem nationale Medien und Mediensysteme andere Nationen (und deren Medien). Das System der Massenmedien ist also nicht nur seiner Natur nach beobachtend und nicht dialogisch; es ist auch national desintegriert, was bedeutet, dass die nationalen Umwelten der Medien in aller Regel bedeutsamer sind als die globalen und die Dependenzverhältnisse insofern weitgehend national geprägt sind. Eine „positive“ Interdependenz, wie bei Rosecrance im Verhältnis zwischen manchen Staaten oder bei multinationalen Einheiten wie der EU, gibt es bei Massenmedien im Grunde nicht. Dadurch ist auch der Dependenzdruck in Richtung einer Synchronisation der Weltöffentlichkeit und -gesellschaft (siehe oben) gering ausgeprägt.
Die Ursache für die weitgehende nationale Entkoppelung der Massenmedien liegt in dem prinzipiell anderen Charakter der Austauschverhältnisse. Anders als die meisten materiellen Waren der Ökonomie etwa sind Medien als kulturelle Produkte vielfach kontextabhängig und – frei nach dem Zitat von Karl W. Deutsch „Human relations are […] far more nationally bounded than movements of goods“ (siehe oben) – nur schwer exportierbar. Menschen mögen weltweit die gleichen Autos fahren – dieselben Medien nutzen sie nur sehr bedingt. Grenzüberschreitende Mediennutzung ist in bestimmten sprachlichen Großregionen (dem deutsch-, spanisch- oder arabischsprachigen Raum usw.) durchaus vorhanden, sonst jedoch auf bestimmte Sondersituationen und -gruppen beschränkt. Allerdings gibt es bei nationalen Medien eine gewisse Hierarchie, wonach Ton und Bild Grenzen leichter überwinden als Texte und gerade im fiktionalen Unterhaltungsbereich ist der Im- und Export von Musik und Filmen weit verbreitet, wenn auch mit einer klaren Tendenz eines Nord-Süd-Gefälles (Hafez/Grüne 2016). Medien sind also nicht transnational, einzelne ausländische Produkte werden aber in nationale Medien integriert, was zu einem globalen Austausch beiträgt, der die Phantasie vor allem der ersten Welle der Globalisierungsforschung beflügelt hat (z.B. die Nachfrage nach Hollywoodfilmen in Asien). Allerdings sind auch bei Unterhaltung eher fiktionale Narrationen globalisierbar; schon bei Unterhaltungsshows lassen sich nur die Formate, nicht aber die Shows selbst im- und exportieren und müssen national oder regional reproduziert werden, was zu Verschiebungen im Produktions- und Rezeptionsprozess und damit in der Synchronisation der Medien führt (Grüne 2016). Auf der Ebene des Nachrichtenjournalismus aber werden die Informationsrohstoffe über die Weltlage importiert und von nationalen Mediensystemen lokal neu montiert.
Geht man vom bereits erwähnten „Fließgleichgewicht“ aus, wobei Medien, Politik und andere Sozialsysteme zwar autonome Programme verfolgen, aber immer auch zu Anpassungsleistungen an ihre jeweilige Umwelt gezwungen sind (Kunczik 1984, S.205ff., 212ff., vgl. a. Endruweit 2004, S.67ff.), dann findet dieser Abgleich bei Massenmedien nicht wie bei anderen Sozialsystemen zum Teil grenzüberschreitend statt, sondern die Interdependenzverhältnisse konzentrieren sich weitgehend auf den nationalstaatlichen Raum. Auf der Basis des bisherigen Forschungsstandes lassen sich folgende Leitgedanken für die spezifischen Interdependenzverhältnisse der Massenmedien formulieren (Hafez 2002a, Bd.1, S.130ff.):
Medien/Politik: Die nationale Medienpolitik gibt die politischen Rahmenbedingungen der Medien vor und nationale Medien und nationale Außenpolitik beeinflussen sich in der Regel in der Auslandsberichterstattung stark (Indexing-Hypothese, CNN-Effekt usw., vgl. Kap. 9.3). Der Einfluss anderer Länder auf die nationalen Medien ist im Vergleich dazu in der Regel marginal, was dazu führt, dass die Sichtweise der Welt oft sehr – und insbesondere in extremen Krisenzeiten – von der heimischen Außenpolitik bestimmt wird.
Medien/Wirtschaft: Medienmärkte sind vor allem im Bereich der Direktinvestitionen nur bedingt global verflochten (vgl. Kap. 2.1). Es dominieren in der Tendenz die Belange nationaler Märkte, was dazu führt, dass die nationale Nachfrage die Inhalte beeinflusst (Ausnahme Auslandsrundfunk, der allerdings eher zum politischen System und zur Public Diplomacy zu zählen ist).
Medien/Gesellschaft: Die starke Abhängigkeit von nationalen Publika führt in der Auslandsberichterstattung in jedem einzelnen Mediensystem dieser Welt zu einer ständigen Reproduktion von ethnischen und religiösen Stereotypen, die allerdings gerade unter dem Einfluss des (interaktiven und dependenten) politischen Systems auch wandlungsfähig sein können. Zumindest die organisierte kosmopolitische Zivilgesellschaft ist zumeist „strukturschwach“; kulturelle und lebensweltliche Umwelten lassen sich jedoch als diffuse Umwelten nur schwer generalisieren (siehe unten).
Medien/Journalismus: Auf der Mikro- und Mesoebene des Journalismus bestehen Mediensysteme meist aus national sozialisierten Journalisten, multikulturelle Redaktionen sind eher die Ausnahme als die Regel, was schon mit der notwendigen perfekten Sprachkompetenz zu erklären ist. Auslandskorrespondenten und -korrespondentinnen sind nur bedingt als globale Eliten unter den Journalisten zu betrachten, da Zentralredaktionen ein stärkeres Gewicht haben und kosmopolitische Ethiken des Journalismus unterentwickelt sind, so dass die nationalkulturelle Bindung des Journalismus in der Regel stark ausgeprägt ist (vgl. Kap. 2).
Im Ergebnis sind Massenmedien nach Hafez global kaum interdependent, weniger jedenfalls als andere organisierte Sozialsysteme. Sie mögen in gewissem Umfang wie andere Systeme Informationen ex- und importieren. Eine Transnationalisierung auf Produktionsebene findet jedoch nur sehr bedingt statt, was die globale Synchronisation der Diskurse behindert (von der dialogischen Kommunikation ganz zu schweigen, die, wie in Kap. 1.3 erörtert, eher ein systemisches Nebenprodukt ist). Das beobachtende Kommunikationssystem der Massenmedien ist demnach tendenziell lokaler geprägt als interaktive Systeme wie Politik und Wirtschaft, wo globale Dependenzverhältnisse weiter fortgeschritten sind, wenngleich auch hier der Nationalstaat eine echte Transnationalisierung verhindert.
Als Leitsatz lässt sich jedoch definieren, dass die globale Abhängigkeit politischer und wirtschaftlicher Systeme voneinander in der Regel größer ist als die der Massenmedien, die zumeist national eingebettet bleiben. Diese nationale Orientierung der Medien führt jedoch ihrerseits dazu, dass Medien hochgradig abhängig sind von nationaler Politik, sowohl was die medienpolitische Regulierung als auch die diskursive Einflussnahme angeht, wobei auch eine sekundäre Abhängigkeit der Politik von den Medien besteht (vgl. Kap. 9.3).
Beziehungen zwischen Massenmedien, Handlungssystemen und Lebenswelten
Während im Bereich der Medienforschung ein recht guter Forschungsstand vorhanden ist, ist dies gerade im Bereich der Lebensweltforschung wegen der noch schwierigeren und uneinheitlichen Interessenverflechtungen nicht der Fall. Verschiedene integrative Konzepte haben sich bemüht, die in der Kommunikationswissenschaft verbreitete Fixierung auf Massenkommunikation hinter sich zu lassen (Giesecke 2002, S.18). Das Ziel von so unterschiedlichen Ansätzen wie der Kommunikationsökologie (Michael Giesecke) oder der Media Dependency Theory (Sandra Ball-Rokeach und Melvin DeFleur) ist es, vor allem das Individuum und die soziale Gruppe wieder stärker als zuvor als Akteure sozialer und kultureller Kommunikation sichtbar zu machen. Beide Ansätze haben bislang wenig mit globaler Kommunikation zu tun, können aber fruchtbar gemacht werden und zumindest Giesecke hat, wie oben ausgeführt, auch erste Anmerkungen zur interkulturellen Kommunikation gemacht. Er geht davon aus, dass die westliche Buch- und Massenmedien-gestützte Fernkommunikation Neugier ohne echtes Interesse für andere Welten hervorgebracht habe. Das Genie menschlicher Kommunikation, das Giesecke prinzipiell im Zusammenwirken „artverschiedener“ Kommunikationsweisen der Beobachtung und Interaktion erkennt (2002, S.26), ist aus seiner Sicht sowohl in den Nah- wie auch ganz besonders in den Fernbeziehungen aus der Balance geraten. Die „Buchkultur“ hat das Face-to-Face-Gespräch überflüssig gemacht, wodurch kulturelle und gesellschaftliche Disbalancen entstanden sind (ebenda, S.35ff.). Nicht zuletzt durch die moderne Netzwerktechnologie entstehen jedoch neue Chancen für die Re-Balancierung unserer Kommunikationsökologie. Das Zusammenwirken von „rückkopplungsintensiven und interaktionsarmen Kommunikationsformen wird zu einer Zukunftsaufgabe“ für die neue Wissens- oder Lerngesellschaft (ebenda, S.370). Auch Giesecke bemüht das Bild des „Fließgleichgewichts“ (ebenda, S.36), wenn er die prinzipiell dynamische Fähigkeit des Menschen beschreibt, ein neues Gleichgewicht zwischen den Kommunikationsformen zu finden.
Da Giesecke vor allem mit dem Gleichgewicht zwischen Kommunikationsformen und weniger mit den Beziehungen zwischen den Akteuren selbst beschäftigt ist, ist für die Zwecke des vorliegenden Buches auch die Media Dependency Theory von Sandra Ball-Rokeach und Melvin DeFleur von Bedeutung, da sie die generellen Beziehungen zwischen verschiedenen Systemen als Dependenzfaktoren thematisiert (1976, Ball-Rokeach 1985, Ognyanova/Ball-Rokeach 2015). Ausgangspunkt ist ähnlich wie bei Giesecke eine in der Moderne erfolgte Verschiebung von Bedürfnissen der interpersonalen Kommunikation hin zu einer Informationskontrolle durch Massenmedien (Ball-Rokeach 1985, S.488f.). Vor allem in demokratischen Gesellschaften pflegt das Mediensystem demnach seinerseits dynamische Beziehungen zu anderen Sozialsystemen. Einerseits ist der Mensch als Konsument bei einem grundlegend symbiotischen Verhältnis zwischen Massenmedien und Wirtschaft weitgehend von den Medien abhängig (Werbung usw.); andererseits aber ist es der jeweilige Kampf der einzelnen Systeme um Autonomie, der eine symmetrische „Interdependenz“ erzeugt und das Individuum Vertrauen in die Medien entwickeln lässt, das, wie wir vor allem aus autoritären Systemen wissen, wo die Balance gestört ist, auch verloren gehen kann (ebenda, S.491ff.).
So wie die Art der Interdependenz zwischen Medien und anderen Sozialsystemen – zum Beispiel die enge Beziehung zwischen Außenpolitik und Auslandsberichterstattung – für die Stellung in der Gesellschaft wichtig ist, verfügt das Individuum trotz der strukturellen Einbindung über verschiedene Möglichkeiten, die Dependenz von den Medien selbst zu prägen, und zwar abhängig von interpersonalen und soziostrukturellen Einbindungen des Menschen (ebenda, S.497ff.). Intervenierende Variablen, die die Dependenz des Individuums beeinflussen können, sind aus der Perspektive des Mediendependenz-Ansatzes unter anderem Veränderungen in der sozialen Umwelt, die Aktivität interpersonaler Netzwerke und Gruppenmitgliedschaften. Die Abhängigkeit des Menschen von den Massenmedien wächst zum Beispiel, wo diese als beste Informationsquelle wahrgenommen werden und keine alternativen Informationen zur Verfügung stehen. Das Internet kann hier im Prinzip zu einer „Neuverhandlung“ von Dependenzstrukturen beitragen, auch wenn Massenmedien auch im Internetzeitalter ihre starke Stellung vielfach erhalten haben (Ognyanova/Ball-Rokeach 2015, S.4).
Eine Überführung der Dependenz-Idee in die Lebenswelttheorie ist schwierig, da individuelle Akteure keine einheitliche Systemfunktionalität besitzen. Zwar gibt es Momente, in denen Individuen in ihren systemischen Rollen Funktionsziele von Organisationen in strategischer Kommunikation erfüllen beziehungsweise anstreben. Das kommunikative Handeln des Alltags ist aber zu großen Teilen idealtypisch verständigungsorientiert und verfolgt eben keine isolierbaren funktionalen Ziele (Habermas 1995). Das Medienhandeln lässt sich nicht einfach in strategischen Beziehungen mit Medien auflösen, in denen allein das funktionale Interesse an Information entscheidet. Die Prozesse der Medienaneignung sind vielfältig und schließen auch habituelle Positionierungen gegenüber Angeboten der Unterhaltung oder unbewusstes Gewohnheitshandeln mit ein. Hinzu kommt, dass sich in heutigen Medienumwelten die grundsätzlichere Frage nach der Kohärenz des Mediensystems stellt, also danach, ob sich individuelle Rezipienten tatsächlich in einer Dependenz zu einem homogenen System befinden. Die Medienrepertoires des Publikums neigen zu einer wachsenden Diversität und können dementsprechend auch ganz unterschiedliche Individuum-Medien-Verhältnisse stiften, ebenso wie soziokulturelle Prägungen der Lebenswelten auch unterschiedliche Individuum-Gesellschaft-Verhältnisse erzeugen. Das Dependenzverhältnis des Einen muss also nicht zwangsläufig auch das Dependenzverhältnis des Anderen sein. Es handelt sich somit nur um ein analytisches, nicht um ein empirisch generalisierbares Verhältnis.
Allerdings lassen sich wiederum Tendenzen in der allgemeinen Beziehung zwischen Lebenswelten und Systemen definieren, die Habermas in seiner These der „Kolonisierung“ der Lebenswelt durch die Systeme postuliert hat (1990). Es geht hier schließlich um die Frage der Eigenleistung der Lebenswelten. Sind es Themen und Strukturen der Systeme, die die lebensweltlichen Erfahrungen beeinflussen? Wie und wann prägt hingegen die kommunikative Leistung der Lebenswelt die Systeme? In totalitären Systemen regieren die autoritären Regimes oftmals bis tief in die private Erfahrungswelt hinein, weil sie dort bestimmte Formen des Handelns verhindern und Sinn- und Glaubenssysteme vorschreiben wollen. Zunächst scheint dann der lebensweltliche Kommunikationsraum stark eingeschränkt zu sein. Auf der anderen Seite ist es aber gerade das Prinzip der kommunikativen Konstruktion der Alltagsrealität, das einen Freiraum aufrechterhält. Denn theoretisch sind jederzeit kollektive Umdeutungen vorgegebener Interpretationsschemata möglich, die dann entweder subversiv (etwa in geschlossenen Räumen der Subkulturen) oder öffentlich (in Revolutionen auf der „Straße“) Systeme herausfordern. Ohne diese Eigenständigkeit wären viele Wandlungsprozesse in Diktaturen nicht denkbar. Die kommunikative Eigenleistung ist dann gerade unter Bedingungen der Einschränkungen individueller Handlungsspielräume und der Gleichschaltung der Medien besonders hoch zu werten.
In demokratischen Systemen hingegen lässt sich andersherum argumentieren. Denn hier ist das Individuum aus traditionellen Bindungszusammenhängen entlassen und Medien sollten im besten Falle kritische Beobachtungsleistungen der Sozialsysteme übernehmen. Aber es gibt auch in Demokratien Momente, in denen die Systeme einen Schulterschluss vollziehen. Das sogenannte „Fließgleichgewicht“ der System-Umwelt-Beziehungen tendiert dann zur Anpassung und Vereinheitlichung. So kann es auch in Demokratien in Momenten der patriotischen oder populistischen Mobilisierung zu einer Marginalisierung und Sanktionierung abweichender Meinungen kommen (Grüne 2019a).
Wichtiger noch als die besonderen Bedingungen von Krisensituationen ist aber die Konventionalisierung der lebensweltlichen Kommunikation. Während in Diktaturen die produktive Kreativität immer auch Selbstermächtigung bedeutet, ist diese in Demokratien oft nicht mehr stark herausgefordert. Wie Hubert Knoblauch beschrieben hat, ist aber auch in differenzierten Lebenswelten die Herausbildung von kommunikativen Konventionen und Routinen zu beobachten (1996). Die Lebenswelt erzeugt in diesem Fall „träge Strukturen“, die nicht geeignet sind, in die Systeme zurückzuwirken. Hierin liegt möglicherweise eine Erklärung für den langsamen kosmopolitischen Wandel moderner Gesellschaften. Stereotype und Fremdbilder halten sich hier erstaunlich konstant und die Trägheit, die der Reproduktion falsch typisierter Bilder innewohnt, setzt sich in den Reise- und Dialogrouten vieler Menschen fort.
Das Verhältnis von Lebenswelt und System ist also unter den Bedingungen globaler Entwicklungen noch einmal ganz neu zu bewerten. Sozialsysteme haben gegenüber lebensweltlichen Akteuren den Vorteil, dass ihnen deutlich mehr Ressourcen für eine organisierte Beobachtung der Welt zur Verfügung stehen – unabhängig davon, wie gut oder umfangreich dieser Vorteil umgesetzt wird. Sowohl Individuen als auch Kleingruppen können die Welt jeweils nur selektiv beobachten und bereisen, während sich beispielsweise die Außenpolitik ein umfängliches Bild erarbeiten kann. Das Wissenschaftssystem kann wiederum detailreiches Faktenwissen erzeugen, wo Einzelne hauptsächlich Erfahrungswissen sammeln. In den meisten Fällen sind die Menschen in ihren privaten Alltagsexistenzen daher abhängig von den Wissenssystemen der Systeme, wenn es um ihre Globalisierungskompetenz geht.
Allerdings wäre es zu einfach, von einer einheitlichen Dominanz der Systeme über Lebenswelten auszugehen. Denn globale Entwicklungen sind gerade auch von den räumlichen Grenzüberschreitungen lebensweltlicher Akteure abhängig. Diese können für Einzelne erzwungene biografische Herausforderung darstellen (z.B. Arbeitsmigration), sie können aber auch emanzipatorischen Charakter haben, wenn private Auslandsreisen möglich werden oder die Referenzen alltagskultureller Orientierungen nicht mehr nur an den Nahraum des alltäglichen Wirkens gekoppelt sind (z.B. globale Fankulturen).
Lebensweltliche Akteure können gerade im Kontext ihrer je eigenen Welterfahrung ebenso Globalisierungsleistungen vollbringen. Mobile Gesellschaftseliten sind beispielsweise in der Lage, neue Balancen zwischen ihrer Eigenbeobachtung globaler Realitäten und jenen Beobachtungs-Beobachtungen der Massenmedien zu stiften. Ihr Spezialwissen kann für eine Gesellschaft in bestimmten Momenten globaler Konfliktpotenziale sogar ganz entscheidend sein (z.B. Länderexperten). Auch neue Kontakterfahrungen durch kurzfristige private globale Interaktionsmomente können stereotype öffentliche Diskurse zumindest im Privaten irritieren und zu Normkonflikten als Teil kultureller Transformationen beitragen. Schließlich erlauben die netzbasierten Medienumwelten vielen Menschen heute auch, sich selbst auf die individuelle Suche nach digitalen globalen Kontakten und globalem Wissen zu begeben, was nicht zuletzt wieder Einfluss auf die Dynamik globaler Netzwerke haben kann, wenn sich Menschen grenzüberschreitend sozial formieren.
Je nachdem, wie ausgeprägt die jeweiligen globalen Beobachtungs- und Interaktionsleistungen der unterschiedlichen lokalen Akteure sind, haben sie also auch einen variierenden Einfluss auf horizontale Interdependenzverhältnisse zu Lebenswelten jenseits der Grenzen wie auch anderen Sozialsystemen innerhalb wie außerhalb der eigenen staatlichen Grenzen. So kann die Weltbeobachtung des einen lokalen Akteurs mit der globalen Interaktionserfahrung des anderen Akteurs in Konflikt stehen. Es ist insofern nicht nur die Differenzierung der kommunikativen Modi, die uns helfen wird, die globale Verstehensleistung einzelner gesellschaftlicher Akteure zu charakterisieren, sondern es ist auch der jeweilige kommunikative Vermittlungsprozess zwischen gesellschaftlichen Akteuren, der uns die oft ambivalenten globalen Entwicklungen erklären kann.
Fazit: Horizontale und vertikale Interdependenzen im dominanten und akzidentellen Modus
Als Problem der Interdependenz erweist sich, dass die Theorie nicht international eingebunden ist. In der globalen Kommunikation werden die potenziellen Interdependenzen vervielfältigt, da zu den nationalen noch beliebig viele internationale Einflussgrößen kommen (vgl. Abbildung 1.4).
Abb. 1.4:
Globale kommunikative Interdependenzen
Am Ende lassen sich in der Vielfalt der sich überlappenden Interdependenzverhältnisse, die für die Analyse globaler Kommunikation wichtig sind, zwei zentrale Dimensionen ausmachen, die es im Blick zu behalten gilt:
Horizontale globale Interdependenzen zwischen gleichen System-/Lebenswelttypen (z.B. Politik-Politik in der Diplomatie) stehen in einem dynamischen Wechselverhältnis zu vertikalen (lokalen und globalen) Interdependenzen zwischen ungleichen Systemen/Lebenswelten (z.B. Politik-Medien-Lebenswelten). Als Leitfrage kann hier gelten, ob die Prägung durch lokale Umwelten dort abnimmt, wo sich die globalen Beziehungen zwischen gleichen Systemen oder gleichen Lebenswelten intensivieren (siehe oben zum Beispiel Win-Win-Situationen der Außenpolitik im Unterschied zur lokalen Prägung der Massenmedien).
Globale Distanzbeziehungen verleihen den Systemen durch ihre gesteigerten Mobilitätsressourcen eine dominante Stellung, wobei traditionell die Abhängigkeit der Medien von der Politik und der Menschen von den Medien hervorgehoben wird. Zugleich gibt es aber zahlreiche akzidentelle Mechanismen, mit denen sich vermeintlich schwächere Systeme (z.B. Massenmedien) und Lebenswelten (z.B. Gruppen und Gemeinschaften) unter Ausnutzung neuer horizontaler globaler Bindungen neue lokale Autonomiefreiräume und sogar einen inversen gesellschaftlichen Einfluss auf die Globalisierung verschaffen können.