Читать книгу Einführung in die Literatur des Sturms und Drang und der Weimarer Klassik - Kai Kauffmann - Страница 10

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II. Forschungsbericht

1. Literaturgeschichtliche Gesamtdarstellungen des 19. und 20. Jahrhunderts

Anfänge der literaturgeschichtlichen Epochenkonstruktion im 19. Jahrhundert

Gervinus hat seine Geschichte der poetischen National-Literatur (1834) so konzipiert, dass die Entwicklung von der Aufklärung über den Sturm und Drang zur Blütezeit von Goethe und Schiller führt. Obwohl dieses Grundschema von den folgenden Literarhistorikern übernommen wurde, kam es im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts doch mehrfach zu bedeutenden Umgruppierungen und Umwertungen der genannten Perioden. Die ersten, von der national-liberalen Gesinnung des Vormärz geprägten Literarhistoriker (Gervinus, Hillebrand u. a.) sahen das gesamte 18. Jahrhundert als ,Zeitalter klassischer Literatur‘ an, in dem das rationale Denken der Aufklärung zur humanistischen Bildung der Weimaraner veredelt worden sei. Für sie war der Sturm und Drang eine kurze Phase in der Entwicklung von Goethe und Schiller, deren jugendlicher Subjektivismus durch das männliche Ideal ästhetischer Harmonie überwunden werden musste (vgl. Huyssen 1980, 22). Im Übrigen galt der mit Goethe und Schiller erreichte Höhepunkt der deutschen Literatur nur als Vorbote für die noch ausstehende politische Einigung der deutschen Nation, dem sich das eigentliche Interesse der heutigen Zeit zuwenden sollte.

Entstehung der deutschen ,Klassik-Legende‘

Bei Hettner und anderen nach 1848 schreibenden Literarhistorikern begann der allmähliche Ausschluss der westeuropäisch beeinflussten Aufklärung aus der Blütezeit der deutschen Nationalliteratur. Der dritte Band von Hettners Literaturgeschichte des 18. Jahrhunderts, 1869/70 unter dem Titel Das klassische Zeitalter der deutschen Literatur erschienen, umfasste nur noch Abschnitte über „Die Sturm- und Drang-Periode“ und „Das Ideal der Humanität“. Man konnte dort lesen:

„Es kam eine neue Epoche, deren unvergänglicher Ruhm und deren geschichtliche Bedeutung es ist, das trotz all seiner Größe noch beschränkte und einseitige Lebensideal des Zeitalters der Aufklärung zum Lebensideal des vollen und ganzen, reinen und freien Menschentums, zum Ideal vollendeter und in sich harmonischer Humanität vertieft und verklärt zu haben.“ (Hettner 1913, 1)

In dem Maße, wie das klassische Zeitalter der deutschen Literatur auf Goethe und Schiller verengt wurde, gewann der Sturm und Drang an Bedeutung. Als Jugendphase von Dichtern, die einen Neubeginn gewagt hatten, wuchs er mit der Reifezeit in Weimar zu einem Gebilde zusammen. So wurde der Sturm und Drang zum integralen, wenn auch überwiegend kritisch beurteilten Teil eines literaturgeschichtlichen Epochenkonzepts, das die Entwicklung von der Genieästhetik zu den Kunst- und Menschheitsidealen der Weimaraner als einen Weg der kulturellen Sublimierung beschrieb. Dieses mit starken Wertungen verbundene Epochenkonzept ist, nach der ideologiekritischen Wende der Germanistik, treffend als ,Klassik-Legende‘ bezeichnet worden (vgl. Grimm/Hermand 1971).

Die im 19. Jahrhundert geborene ,Klassik-Legende‘, an die im 20. Jahrhundert mehrfach wieder angeknüpft wurde, übernahm zu unterschiedlichen Zeiten der deutschen Geschichte auch unterschiedliche ideologische Funktionen. Nach der niedergeschlagenen 1848-Revolution diente sie dazu, über die gescheiterten Hoffnungen des national-liberalen Bürgertums hinwegzutrösten. Im Anschluss an die Reichsgründung von 1871 wurde sie mit der ,Hohenzollern-Legende‘ der politischen Geschichtsschreibung verknüpft. In Wilhelm Scherers Geschichte der deutschen Litteratur (1883) geht die deutsche Klassik direkt aus dem Zeitalter Friedrichs des Großen heraus, da dieser – trotz seiner öffentlich erklärten Verachtung der ,littérature allemande‘ – als nationaler Held den Aufschwung der modernen deutschen Literatur inspiriert habe.

Das Gegenkonzept der ,Deutschen Bewegung‘

Während die Vertreter der sogenannten ,Klassik-Legende‘ am Sturm und Drang die Maßlosigkeit des subjektiven Ausdrucks und die Formlosigkeit der ästhetischen Gestaltung kritisierten, kam nach der Wende zum 20. Jahrhundert eine andere Auffassung auf, die an ihm gerade die irrationalen Tendenzen als Charakterzüge des deutschen Wesens schätzte und diese Tendenzen mit der Herderschen Entdeckung der nationalen Traditionen in Zusammenhang brachte. Herman Nohl, ein Schüler von Wilhelm Dilthey, arbeitete seit seinem Buch Die deutsche Bewegung und die idealistischen Systeme (1911) an dem Mythos einer ,deutschen Bewegung‘, die, beginnend mit dem Sturm und Drang, den Rationalismus und Kosmopolitismus der westeuropäischen Aufklärung überwunden habe. An Nohl schlossen sich Germanisten wie z. B. Heinz Kindermann und Paul Kluckhohn an (vgl. Gretz 2007). Sie sahen im Sturm und Drang weniger die Vorstufe der Klassik – die ihrerseits in den Verdacht eines wieder erstarkten Rationalismus und Kosmopolitismus geriet –, vielmehr betrachteten sie ihn als eine Antizipation der deutschen Romantik. Deshalb ist später in Analogie zur ,Klassik-Legende‘ auch von einer ,Romantik-Legende‘ gesprochen worden (vgl. Huyssen 1980, 21–25). Seit den 1920er Jahren ließ sich eine zunehmende Polarisierung zwischen den Befürwortern der Klassik und den Anhängern der Romantik beobachten, wobei letztere die Oberhand gewannen. Sogar Korffs Versuch, die Gegensätze von Rationalismus (Aufklärung) und Irrationalismus (Sturm und Drang), Humanismus (Klassik) und Metaphysik (Romantik) im ,Geist der Goethezeit‘ miteinander zu vermitteln, tendierte zum irrationalen Pol. Der Mythos der ,deutschen Bewegung‘ wurde im Dritten Reich völkisch gedeutet und auf Hitlers Nationalsozialismus als Ziel ausgerichtet.

Renaissance und Kritik der ,Klassik-Legende‘

Nachdem die Deutung des Sturm und Drang und der Romantik im Sinne der ,deutschen Bewegung‘ mit dem Ende des Dritten Reichs völlig diskreditiert war, erlebte die ,Klassik-Legende‘ in den 1950er Jahren eine Renaissance in der literaturwissenschaftlichen Forschungsrichtung der werkimmanenten Interpretation. Westliche Germanisten, namentlich Wolfgang Kayser, Benno von Wiese und Emil Staiger, feierten erneut die Kunst- und Menschheitsideale, die sie in den Dichtungen der Weimaraner verkörpert sahen. Ihr Klassik-Bild wurde nicht zuletzt von Goethes Maxime der ,Entsagung‘ geprägt, die gut in die restaurative Geisteshaltung der Adenauer-Ära passte. Von daher ist es verständlich, dass Ende der 1960er Jahre nicht nur die irrationalistische ,Romantik-Legende‘, sondern auch die idealistische, nun als restaurativ wahrgenommene ,Klassik-Legende‘ zum Ziel von politisch links eingestellten Ideologie- und Gesellschaftskritikern wurde (vgl. Grimm/Hermand 1971).

Integration des Sturm und Drang in die Aufklärung

Die Literaturgeschichtsschreibung zog aus der Infragestellung ihrer Epochenkonzepte zweierlei Konsequenzen: Erstens löste sie den Sturm und Drang aus der Umklammerung durch die ,Klassik‘- und die ,Romantik-Legende‘, indem sie ihn als eine von mehreren ,Strömungen‘ in die Großepoche der Aufklärung (statt in die der Goethezeit) integrierte. Seit Gerhard Kaisers Einführung Aufklärung, Empfindsamkeit, Sturm und Drang ist diese Zuordnung üblich geworden. Die Aufklärung mit ihren vernünftigen Prinzipien der Reflexion, der Kritik und der Moral erscheint als „epochale Grundschicht“ (Kaiser 1976, 12), auf der noch die Stürmer und Dränger operierten, wenn sie gegen die bestehenden Normen der Dichtung und der Gesellschaft aufbegehrten und für die Rechte genialer Individuen eintraten. So lässt sich auch ihre Betonung leidenschaftlicher Gefühle als eine Selbstkritik und Selbstkorrektur aufklärerischer Vernunft beschreiben und damit vor der bis dahin herrschenden Deutung als Irrationalismus bewahren. Zugleich gestattet dieses mit der Aufklärung verbundene Konzept des Sturm und Drang die sozialkritischen Züge, etwa bei Jakob Michael Reinhold Lenz, stärker in den Blick zu nehmen.

Deutsche Klassik im Zeitalter der Französischen Revolution

Zweitens rückten einige der neueren Literarhistoriker die Klassik in einen anderen, nämlich in einen sozialgeschichtlichen und gesellschaftspolitischen Problemzusammenhang, und machten dies durch die Titelwahl ihrer Werke deutlich. In Horst Albert Glasers Sozialgeschichte der deutschen Literatur hieß der entsprechende Band Zwischen Revolution und Restauration: Klassik und Romantik 1786–1815 (Glaser 1980). Gerhard Schulz nannte seine Epochendarstellung Die deutsche Literatur zwischen französischer Revolution und Restauration und definierte Aufklärung, Klassik und Romantik als „literarische Kraftfelder und Tendenzen“ innerhalb der gesellschaftspolitischen Konfliktzeit zwischen 1789 und 1830 (Schulz 1983). Auffällig ist die Parallele zu der in der DDR erschienenen Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart, dessen siebenter Band schlicht 1798–1830 titelt und die Kapitel „Literatur von 1789–1794“ und „Literatur von 1794–1806“ enthält, deren Periodisierung von politischen Entwicklungen abgeleitet wurde (Dahnke 1978). Schon bald distanzierte sich allerdings Gert Ueding mit seinem Werk Klassik und Romantik. Deutsche Literatur im Zeitalter der Französischen Revolution 1789–1815 vom Primat der Sozialgeschichte und betonte wieder die Eigengesetzlichkeit der Literaturgeschichte mit ihren Gattungstendenzen (Ueding 1987).

Klassik und Romantik im Zusammenhang von Modernisierungsprozessen um 1800

Die sozialgeschichtliche Wende der 1980er Jahre hat jedoch die literarhistorische Perspektive dauerhaft verändert, und zwar dergestalt, dass seitdem die literarischen Entwicklungen um 1800 als Teil von Modernisierungsprozessen gesehen werden, die sich etwa gleichzeitig in allen Bereichen der Gesellschaft – etwa der Ökonomie, der Politik und der Wissenschaften – beobachten lassen. Aus dieser Perspektive erscheinen die Klassik und die Romantik nicht mehr als eine Abfolge gegensätzlicher Epochen, sondern als eine Konstellation von unterschiedlichen Diskursen, die auf dieselbe Problemlage der so genannten ,Sattelzeit‘ (Reinhart Koselleck) um 1800 reagierten. Die neueren Forschungsansätze in der Literaturwissenschaft (Systemtheorie, Diskursanalyse, Literarische Anthropologie, Poetik des Wissens) haben keinen anderen Epochenzuschnitt vorgenommen. So erklärt sich, dass Klassik und Romantik in vielen Literaturgeschichten der letzten drei Jahrzehnte zusammen dargestellt werden.

Einführung in die Literatur des Sturms und Drang und der Weimarer Klassik

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