Читать книгу Einführung in die Literatur des Sturms und Drang und der Weimarer Klassik - Kai Kauffmann - Страница 8

2. ,Klassik‘ – ,Deutsche Klassik‘ – ,Weimarer Klassik‘

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Genese des Epochenbegriffs der Klassik

Im Gegensatz zu ,Sturm und Drang‘ lässt sich der Begriff der ,Klassik‘ nicht direkt aus den zeitgenössischen Diskussionen herleiten. Weder die Freunde noch die Gegner von Goethe und Schiller sind auf die Idee gekommen, diese oder andere Weimaraner als Vertreter einer ,Klassik‘ zu titulieren. Zwar kam es in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts häufiger vor, dass einzelne Dichter als ,klassisch‘ bezeichnet wurden, doch war damit ihre individuelle Eignung als Vorbild gemeint, sei es – im traditionellen Verständnis des Wortes – für den Grammatik- und Rhetorikunterricht, sei es – so die modernere Bedeutung – für die Entwicklung einer deutschen Nationalliteratur. Vor dem inflationären Gebrauch von ,klassisch‘ in dem einen oder dem anderen Sinn warnte Johann Gottfried Herder 1768 in seiner Schrift Über die neuere deutsche Literatur:

„Überall höre ich klassisch nennen: was ist denn klassisch? klassisch für wen? klassisch in welcher Materie? Himmel! kann man denn alle diese Fragen übergehen? Und übergeht man sie nicht, wo wird man mit den meisten kanonisierten Schriftstellers bleiben?“ (FAH 1, 595)

Auch die von Friedrich Schlegel entwickelte Antithese ,klassisch‘ vs. ,romantisch‘, die um 1800 in die literarischen Debatten einging, zielte noch nicht auf den Epochengegensatz von ,Klassik‘ und ,Romantik‘.

Ein Konstrukt von Literaturhistorikern

Bei dem Epochenbegriff der ,Klassik‘ handelt es sich vielmehr um ein nachträgliches Konstrukt von Literarhistorikern, die seit etwa 1830 die Geschichte der deutschen Literatur als eine in Stufen verlaufende Entwicklung schematisierten. Diese Entwicklung sollte, analog zu den goldenen Zeitaltern der italienischen, spanischen, englischen und französischen Literatur, eine nationalkulturelle Blütezeit hervorgebracht haben. Schon bald legte man sich auf die Periode von Goethe und Schiller fest, doch die Bezeichnung als ,Klassik‘ setzte sich erst allmählich durch. Georg Gottfried Gervinus, der in seiner Geschichte der poetischen National-Literatur (1834) ein umfassendes Periodisierungsschema vorschlug, überschrieb das entsprechende Kapitel mit „Goethe und Schiller“, während in Heinrich Laubes Geschichte der deutschen Literatur (1839) die Phase von Hagedorn bis Klopstock und Lessing als „Übergang zur Klassik“ und die anschließende Periode von Goethe und Schiller als „Das Klassisch-Deutsche“ betitelt wurde. Wieder einige Jahre später, nämlich in Joseph Hillebrands Werk Die deutsche Nationalliteratur seit dem Anfange des 18. Jahrhunderts (1845), erschien dieselbe Periode unter der Überschrift „Die nationalliterarische Klassik“. Obwohl in manchen Literaturgeschichten aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ähnliche Bezeichnungen verwendet wurden (vgl. Becker 1970, 360; Schulz/Doering 2003, 67–80), stieg ,Klassik‘ erst nach der Jahrhundertwende zum allgemein gebräuchlichen Epochenbegriff auf. Die Rolle des Wegbereiters scheint Otto Harnacks Buch Goethe in der Epoche seiner Vollendung (1897) gespielt zu haben (vgl. Wellek 1965, 163 f.).

,Deutsche Klassik‘

Der jüngere Terminus ,Deutsche Klassik‘ wurde von Germanisten geprägt ,die im Sinne des kulturnationalen Denkens ihrer Zeit auf eine Stiltypologie des ,deutschen Geistes‘ zielten. Die beiden von Fritz Strich mit dem Titel seines Buches Deutsche Klassik und Romantik (Strich 1922) eingeführten Stilbegriffe, die von Hermann August Korff in das mehrbändige Werk Geist der Goethezeit (Korff 1923 ff.) übernommen wurden, sollten dort zwei gegenläufige Geistesbewegungen innerhalb der Gesamtentwicklung der deutschen Nationalliteratur zwischen 1770 und 1830 charakterisieren. Gegen das Korffsche Integrationsmodell der ,Goethezeit‘ setzten sich die Begriffe ,Deutsche Klassik‘ und ,Deutsche Romantik‘ im Laufe der zwanziger und dreißiger Jahre als Bezeichnungen für einzelne Literaturepochen durch. Während des Dritten Reichs wurde besonders die ,Deutsche Romantik‘ in Richtung auf die völkische Ideologie des Nationalsozialismus umgedeutet.

,Weimarer Klassik‘

Nach dem Ende des Dritten Reichs vermied man in der Bundesrepublik Deutschland die ideologisch belastete Bezeichnung ,Deutsche Klassik‘ und ersetzte sie überwiegend durch ,Weimarer Klassik‘ (vgl. Borchmeyer 1998, 39). In der DDR fand man andere, kulturpolitisch abgesegnete Sprachregelungen (vgl. Ehrlich/Mai 2000 u. 2001). Eine von Hans Jürgen Geerdts herausgegebene und erstmals 1965 erschienene Deutsche Literaturgeschichte in einem Band verwendete den ebenso umfassenden wie umständlichen Epochenbegriff „Die deutsche Nationalliteratur in der Epoche ihrer klassischen Ausprägung“, umfassend insofern, als damit die gesamte Zeit von 1700 (Beginn der Aufklärung) bis 1848 (Ausbruch der März-Revolution) gemeint war (vgl. Geerdts 1968). 1981 erschien die Kurze Geschichte der deutschen Literatur, in der – anders als noch 1965 – Geerdts nun als zuständiger Autor für die Zeit von 1789 bis 1830 den auch im Westen gängigen Titel „Klassik und Romantik“ wählte, in einem Unterkapitel titelte er sogar „Die deutsche Klassik“ (Böttcher/Geerdts 1981, 271 und 293). Wahrscheinlich hängt es mit der deutschen Wiedervereinigung von 1990 und der geringeren Scheu vor nationalen Identitätskonstrukten zusammen, dass in letzter Zeit die Bezeichnung ,Deutsche Klassik‘ wieder häufiger gebraucht wird (vgl. Selbmann 2005a; Selbmann 2005b; Greif 2008).

Dennoch gibt es gute Gründe, am Begriff ,Weimarer Klassik‘ festzuhalten. So bietet er den Vorteil, die im literaturgeschichtlichen Konzept der ,Klassik‘ immer schon vorhandene Fokussierung auf Goethe, Schiller, Herder, Wieland und einige andere Weimaraner explizit zu machen. Allerdings wird dadurch der Anspruch, mit dem Begriff eine ganze Epoche der deutschen Literatur zu erfassen, noch problematischer. Nun muss man nicht nur fragen, warum die Zeit um 1800 als Epoche der Klassik betitelt wird, wenn es in denselben Jahren auch die Spätaufklärung und die Frühromantik gab, sondern auch, ob man von einer Klassik allein in Weimar sprechen kann. Wäre es nicht sinnvoll, nach gleichzeitig existierenden Varianten der Klassik an anderen Orten zu suchen und diese gegebenenfalls in das Epochenkonzept einzubeziehen? So gibt es inzwischen eine von Conrad Wiedemann initiierte Arbeitsgruppe „Berliner Klassik“ an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Die im Titel unserer Einführung verwendete Bezeichnung ,Weimarer Klassik‘ soll den Gegenstandsbereich und damit auch den Geltungsanspruch tatsächlich auf Weimarer Autoren beschränken.

Periodisierung der Weimarer Klassik

Im Vergleich zum Sturm und Drang gibt es bei der Periodisierung der Klassik deutlich weniger Einigkeit. Die unterschiedlichen Konzepte der deutschen Literaturgeschichte haben gerade im Fall dieser Epoche zu stark differierenden Grenzziehungen geführt. Die Heterogenität der Ansätze verurteilt sogar eine graphische Synopse zur Unübersichtlichkeit (vgl. Selbmann 2005a, 19). Selbst wenn man sich am Leben und Werk Goethes orientiert – und das ist immer noch der häufigste Lösungsversuch – gibt es mindestens fünf, auch mit geistes- oder diskursgeschichtlichen Argumenten gut zu begründende Möglichkeiten, um die Epoche zeitlich zu umreißen:

 Wenn man die Klassik mit Goethes Übersiedlung nach Weimar beginnen und mit seinem Tod enden lässt, so dauert die Epoche von 1775 bis 1832 (1).

 Setzt man stattdessen Goethes Reise nach Italien als Anfangspunkt, so erstreckt sie sich von 1786 bis 1832 (2).

 Wählt man Schillers Tod als Schlusspunkt, so verkürzt sie sich auf die Jahre von 1775 bis 1805 bzw. von 1786 bis 1805 (3 u. 4).

 Macht man die Zusammenarbeit von Goethe und Schiller zum Kriterium, so ist sie auf die Jahre von 1794 bis 1805 beschränkt (5).

Die vorliegende Einführung entscheidet sich nicht zuletzt aus pragmatischen Gründen für die Zeitspanne 1775–1805. Bei dieser Variante lässt sich ein fließender Übergang von der Periode des Sturm und Drang zur Periode der Weimarer Klassik herstellen, der auch genügend Flexibilität bietet, um divergierende Verläufe in der Entwicklung von Autoren oder Gattungen zu beschreiben. Außerdem wird so die Fixierung auf die beiden ,Dioskuren‘ Goethe und Schiller abgeschwächt, die bei der Variante 1786–1805 am stärksten ist. So kann Wieland mit einigen seiner für die Herausbildung der Weimarer Klassik wichtigen Hauptwerke besser einbezogen werden. Bei der Variante 1775–1805 sieht man sich im Gegensatz zum Zeitraum 1775–1832 nicht genötigt, eine Vielzahl von unterschiedlichen Autoren und widersprüchlichen Tendenzen über mehrere Jahrzehnte hinweg zu verfolgen und sie in das Gesamtbild einer Großepoche zu integrieren, wie das in Korffs Monumentalwerk Geist der Goethezeit versucht worden ist. Die hier dargestellte Periode der Weimarer Klassik umfasst also in Weimar ansässige Autoren und ihre Texte zwischen 1775 und 1805.

Gruppierungen im literarischen Feld

Sowohl beim Sturm und Drang als auch bei der – so umrissenen – Weimarer Klassik lässt sich bezweifeln, dass es sich überhaupt um Epochen handelt. Der Begriff suggeriert a) einen längeren Zeitraum, b) charakteristische Gemeinsamkeiten der in diesem Zeitraum erschienenen Literatur und c) signifikante Unterschiede gegenüber anderen Perioden. Epochen müssten eigentlich größere Einheiten der Geschichte sein. Nun dauerte der Sturm und Drang nicht viel mehr als zehn Jahre und beschränkte sich im Kern auf einige Autoren, die sich vorübergehend an Orten wie Straßburg, Darmstadt, Frankfurt und Göttingen versammelten und ihre neuen Ideen in kurzlebigen Zeitungen und Zeitschriften propagierten. Deshalb hat die ältere Literaturgeschichtsschreibung den Sturm und Drang häufig als eine ,Bewegung‘ bezeichnet, die sich einerseits gegen die vorangegangene Epoche der Aufklärung gewendet und andererseits die kommenden Epochen der Klassik und der Romantik vorbereitet habe. So betrachtet, war der Sturm und Drang eine Übergangsperiode. Die neueren Literarhistoriker sehen in ihm eher eine von mehreren Strömungen innerhalb des Zeitalters der Aufklärung, das für sie das gesamte 18. Jahrhundert umspannt. Von einem literatursoziologischen Standpunkt aus erscheint es aber sinnvoller, den Sturm und Drang als ein Generations- und Gruppenphänomen im literarischen Feld (Bourdieu 1999) der sechziger und siebziger Jahre zu begreifen. Aus dieser Perspektive waren die Stürmer und Dränger junge Schriftsteller, die, kleine Freundeskreise bildend, mit dem Programm einer radikalen Genieästhetik gegen die etablierten Autoren und Konventionen der Aufklärung revoltierten (vgl. Luserke 1997; Wolf 2001). Man könnte die Stürmer und Dränger als eine Gruppierung nach Art der späteren Avantgarden verstehen, die sich auflöste, als einzelne Mitglieder – besonders Goethe – in der literarischen Öffentlichkeit anerkannt worden waren. Von daher fällt auch ein neues Licht auf die anschließende Klassik. Waren die Weimaraner doch ebenfalls eine Autorengruppe, eine Gruppe, deren Angehörige ähnliche Kunst- und Menschheitsideale vertraten und sich mit ihren hohen Ansprüchen von den gewöhnlichen Literaten abhoben. Freilich: Goethe, Schiller, Wieland und Herder hatten es nicht mehr nötig, sich in der literarischen Öffentlichkeit zu etablieren, sondern mussten nun umgekehrt ihre führende Position gegen alte und neue Konkurrenten sichern. Der ,Xenienstreit‘ des Jahres 1797, in dem Goethe und Schiller gegen Schriftsteller unterschiedlicher Richtungen, von der Aufklärung bis zur Frühromantik, persönlich polemisierten, war ein literaturpolitischer Machtkampf, der aus dem Gesamtbild der Weimarer Klassik nicht ausgeblendet werden darf, auch wenn sich dieses Autorverhalten mit dem hehren Programm der Autonomieästhetik und des Humanitätsdenkens schlecht zu vertragen scheint.

Einführung in die Literatur des Sturms und Drang und der Weimarer Klassik

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