Читать книгу Einführung in die Literatur des Sturms und Drang und der Weimarer Klassik - Kai Kauffmann - Страница 11
2. Literaturwissenschaftliche Einzelstudien vom Positivismus bis zur ,Poetik des Wissens‘
ОглавлениеDaten und Studien des Positivismus
Die literaturwissenschaftliche Erforschung des Sturm und Drang und der Weimarer Klassik begann in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und stand damit im Zeichen des Positivismus. Überwiegend wurden die biographischen und bibliographischen Daten zu den einzelnen Autoren gesammelt, um dann, mit psychologischer Kausallogik, aus dem Leben des jeweiligen Dichters seine Werke zu erklären. Hinzu kamen Studien zur Entstehung einzelner Texte und zum ,Einfluss‘ von älteren Autoren auf bestimmte Dichter und Epochen. So publizierte der Wiener Germanistikprofessor Jakob Minor unter anderem über Hamann in seiner Bedeutung für die Sturm- und Drangperiode (1881), veröffentlichte zwei Bände Schiller. Sein Leben und Werk (1889/90) und ein Buch zu Goethes Faust. Entstehungsgeschichte und Erklärung (1901).
Gestalten und Ideen der Geistesgeschichte
Auf der Grundlage des vom Positivismus bereitgestellten Datenmaterials strebte Wilhelm Dilthey, der Begründer der Geistesgeschichte, nach einer Deutung großer Dichter, die Das Erlebnis und die Dichtung – so der Titel einer Sammlung von älteren Aufsätzen über Lessing, Goethe, Novalis und Hölderlin (1905) – als Momente eines persönlichen Entwicklungs- und Gestaltungsprozesses verstehen und darüber hinaus die geschichtlichen Wechselwirkungen zwischen Individuum und Epoche erhellen sollte. Eine Generation später kam es in den Monographien des Stefan George-Kreises, die Diltheys Konzept der Geistesgeschichte von den Resten des psychologischen und historischen Kausaldenkens befreiten, zu einer Monumentalisierung von heroischen, ihrer Zeit weitgehend enthobenen ,Gestalten‘. Leben und Werk wurden als eine ästhetische Einheit aufgefasst, die sich letztlich jeder begrifflichen Analyse entzieht. Auf Friedrich Gundolfs Goethe (1916) folgte Max Kommerells Werk Der Dichter als Führer der deutschen Klassik (1928), das allerdings auch die um Goethe gruppierten Gestalten Herder, Schiller, Jean Paul und Hölderlin in ihrer jeweiligen Problematik schilderte und darüber sowohl den Sturm und Drang wie die Romantik in den Blick nahm. Eine andere Richtung der Geistesgeschichte bezeichnete sich selbst als Ideengeschichte. Neben Korffs Geist der Goethezeit sei Walther Rehms Hauptwerk Griechentum und Goethezeit (1936) genannt, das die „Geschichte eines Glaubens“ verfolgte, ohne an irgendeiner Stelle dem Irrationalismus der ,deutschen Bewegung‘ zu huldigen. Denn die mit Winckelmann beginnende und in der Weimarer Klassik kulminierende Griechen-Begeisterung war für Rehm ein humanistischer Bildungsmythos, von dem aus kein Weg zu der nationalistischen Staats- und Volksideologie des späten 19. und 20. Jahrhunderts führte.
Deutungen des Sturm und Drang im Sinne der ,Deutschen Bewegung‘
Dass umgekehrt die Erforschung des Sturm und Drang besonders von Germanisten betrieben wurde, die sich für die Entwicklung der ,deutschen Bewegung‘ interessierten, versteht sich nach dem oben Gesagten von selbst. Hatte Rudolf Unger in Hamann und die Aufklärung. Studien zur Vorgeschichte des romantischen Geistes im 18. Jahrhundert (1911) noch sachlich die historischen Kontroversen nachgezeichnet und erst am Ende von einem „religiösen Irrationalismus“ gesprochen, der in der deutschen Kultur zukünftig wieder eine größere Rolle spielen müsse, so stilisierte Heinz Kindermann in J. M. R. Lenz und die deutsche Romantik seinen Autor zum Dichter der Ekstase, um schließlich der Literaturwissenschaft die „im Wesen unserer Zeit“ gelegene Pflicht aufzuerlegen, „die überragende Bedeutung des Irrationalen in deutscher Art und Kultur zu ergründen“ (Kindermann 1925b, 326). Entsprechend deutete er die gesamte Entwicklung der Sturm- und Drangbewegung (Kindermann 1925a) als Durchbruch zur Seele (Kindermann 1928). Als eigentlicher Wegbereiter der ,deutschen Bewegung‘ in Dichtung und Wissenschaft galt Herder, dem nach 1933 besonders Benno von Wiese größere Darstellungen im Einklang mit der völkischen Ideologie des Nationalsozialismus widmete (von Wiese 1938 u. 1939).
Werkinterpretationen und Gattungsgeschichten im Sinne der Klassik-Legende
Das neue Programm der werkimmanenten Interpretation begründete Emil Staiger im Vorwort zu seinem Buch Goethe (1952), wenn er – im Gegenzug zur Geistesgeschichte mit ihren „Hauptideen und Leitgedanken“ und ihrer Ausrichtung auf die Lebensbedürfnisse der Gegenwart – die Konzentration des Historikers auf die einzelnen Dichtungen in ihrer sprachlichen Form forderte. Sein Verfahren, die Autormonographie als eine Folge von Werkinterpretationen aufzubauen – die dann allerdings doch wieder auf eine vorbildliche „Gesinnung“, nämlich die Humanität der Weimarer Klassik, hinführten – machte in den 1950er und 1960er Jahren Schule. Ähnlich gingen die zahlreichen, bis in die 1970er Jahre hinein erscheinenden Gattungsgeschichten vor, z. B. zur Ballade (Hinck 1968), zum Bildungsroman (Jacobs 1972) und zur Autobiographie (Müller 1976). Diese Arbeiten pflegten eine Entwicklungskurve zu zeichnen, die von den Anfängen im 18. Jahrhundert zum Höhepunkt, der klassischen Vollendung der jeweiligen Gattung bei Goethe und Schiller, aufstieg, um dann im 19. und 20. Jahrhundert wieder abzufallen. In ihrer werkimmanent begründeten, nicht als historische Konstruktion ausgewiesenen Teleologie konnten die Texte des Sturm und Drang nur den Status von Vorstufen zur Klassik erreichen.
Sozialgeschichtliche und psychoanalytische Forschungen
Nach der sozialgeschichtlichen Wende widmete sich ein Teil der germanistischen Forschung den Strukturen der ,literarischen Öffentlichkeit‘ im 18. und 19. Jahrhundert, wobei allerdings die Aufklärung, das Biedermeier und der Vormärz im Fokus standen. Für die Perioden des Sturm und Drang und der Weimarer Klassik wurden keine umfassenden Arbeiten zur Autorsoziologie, zum Lesepublikum, zum Buch-, Bibliotheks- und Zeitschriftenwesen geschrieben (kleinere Skizzen finden sich u. a. in Glaser 1980 u. Grimminger 1980). Währenddessen konzentrierte sich eine andere sozialgeschichtliche Richtung der Literaturwissenschaft, die Wirkungs- und Rezeptionsforschung, wieder auf die Klassiker. In mehreren Bänden dokumentierte Karl Robert Mandelkow die Wirkungsgeschichte Goethes (Mandelkow 1975–84), Norbert Oellers die Wirkungsgeschichte Schillers (Oellers 1976) bis zur Gegenwart. Ein Überblick über die Rezeption von Lenz kam aus der (französischen) Auslandsgermanistik (Genton 1966). Bei den Autormonographien der 1960er und 1970er Jahre waren psychoanalytische Zugangsweisen beliebt, die zum größeren Teil – nach dem Vorbild einer frühen Studie über Goethe (Eissler 1963) – die Freudschen Theorien verwendeten und diese, wo es sinnvoll erschien, mit sozialgeschichtlicher Forschung verbanden. Hingegen knüpften die psychoanalytischen Arbeiten der 1980er Jahre häufiger an Lacans Schriften an und schufen so einen Übergang zu poststrukturalistischen Zeichen-, Diskurs- und Medientheorien. Zu den Wegbereitern gehörte Friedrich A. Kittler mit seinem viel diskutierten Buch über die Aufschreibesysteme um 1800 und 1900 (Kittler 1985).
Aktuelle Forschungsrichtungen
In der neuesten Sekundärliteratur zum Sturm und Drang und zur Weimarer Klassik kreuzen sich mehrere Forschungsrichtungen, denen das Interesse an der literarischen Produktion, Transformation und Archivierung von Wissen gemeinsam ist. Werkbezogene Untersuchungen, die etwa Goethes Verfahren der Bildbeschreibung analysieren (Osterkamp 1991), berühren sich mit diskursgeschichtlichen Untersuchungen, z. B. zum Verhältnis von Literatur und Philologie in der Goethezeit (Buschmeier 2008a und 2008b). Fragen zur ,literarischen Anthropologie‘ des 18. Jahrhunderts, welche unter anderem die zeitgenössischen Diskurse der Physiologie (Pfotenhauer 1987) und der Physiognomik (Saltzwedel 1993) betreffen, werden in Richtung einer ,Mediologie‘ des Körpers und der Schriftlichkeit weiterentwickelt (Koschorke 1999). Und auch die Vertreter einer ,Poetik des Wissens‘ spüren den thematischen und strukturellen Wechselbeziehungen zwischen literarischen Texten und nicht-literarischen Diskursen des Wissens nach (vgl. Vogl 1999; Brandstetter/Neumann 2004). So hat Joseph Vogl (2004) eine Monographie zur ,Poetik des ökonomischen Menschen‘ vorgelegt, in der Goethes Werke eine zentrale Rolle spielen.