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III. Kontexte

1. Politische und soziale Rahmenbedingungen in Deutschland

Heterogenität der politischen und sozialen Verhältnisse

Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation stellte während des 18. Jahrhunderts nur noch eine verfassungsrechtliche Hülse dar. Es war in knapp 1800 Territorien zersplittert, die allerdings durch den Reichsdeputationshauptschluss von 1803 auf 40 Staaten reduziert wurden. Drei Jahre später legte Franz II. von Österreich die deutsche Krone nieder und führte damit die juristische Auflösung des Reichs herbei. Politisch und militärisch dominierten die großen Fürstentümer, besonders Preußen und Österreich sowie, in zweiter Reihe, Sachsen und Bayern. Diese Staaten haben im Laufe des 18. Jahrhunderts mehrere Kriege um die Vormachtstellung im Reich geführt. Von den zeitgenössischen Schriftstellern ist die politische Zerrissenheit des Reichs häufig beklagt und als einer der Ursachen für den kulturellen Rückstand namhaft gemacht worden, den Deutschland gegenüber Nationen wie Frankreich und England aufweise. Als Reaktion arbeiteten schon Aufklärer wie Lessing und Mendelssohn – nicht erst der Stürmer und Dränger Herder – an der literarischen Bildung eines kulturellen Nationalbewusstseins (vgl. Wiedemann 1989 und 1991; Kauffmann 2002, 117–124). Dem standen freilich die realen Verhältnisse entgegen. Denn die einzelnen Gebiete des Reichs unterschieden sich sowohl in politischer als auch in sozialer, ökonomischer, konfessioneller und sonstiger Hinsicht so stark voneinander, dass von einer nationalen Einheit kaum die Rede sein konnte. Aus dem gleichen Grund muss man heute als Historiker mit allgemeinen Aussagen äußerst vorsichtig sein. So sah die Herrschaftsform in den bürgerlichen Reichsstädten ganz anders aus als in den weltlichen oder geistlichen Fürstentümern. Ja, die Verhältnisse in der Reichsstadt Frankfurt, die der Patriziersohn Goethe in seiner Autobiographie Dichtung und Wahrheit beschreibt, entsprachen nur partiell denen in der Reichstadt Biberach, dem Heimatort Wielands. Und ein Vergleich zwischen dem Herzogtum Württemberg unter Karl Eugen, dessen Herrschaft sich der junge Schiller nur durch Flucht zu entziehen vermochte, und dem Herzogtum Weimar unter der Regierung von Anna Amalia und Carl August, zeigt, wie groß die Differenzen innerhalb des aufgeklärten Absolutismus sein konnten.

Ausdifferenzierung und Aufweichung der ständischen Ordnung

Allerdings ist es richtig, dass die Gesellschaftsordnung in der Zeit des Sturm und Drang und der Weimarer Klassik noch überall auf ständischen Grundsätzen basierte. Aber auch hier muss differenziert werden. Zum einen galt die aus dem Mittelalter überkommene Dreiteilung in den ersten Stand (Klerus), den zweiten Stand (Adel) und die unteren Stände (Kaufleute, Handwerker, Bauern u. a. m.) nicht für die Reichsstädte, die bei ihren Bewohnern zwischen Bürgern und Nicht-Bürgern unterschieden, wobei es innerhalb des Bürgertums eine Führungselite (Senatoren, Patrizier) zu geben pflegte. Zum anderen hatte das (wieder territorial unterschiedliche) Land- oder Stadtrecht der Neuzeit zu einer starken Ausdifferenzierung der Stände geführt, nämlich nach Rängen im Adel und nach Berufen und Ämtern im Bürgertum. Auf diese Weise war das Ständesystem äußerst vielschichtig geworden. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts sorgten sozioökonomische Prozesse, die teilweise von den Reformen des aufgeklärten Absolutismus unterstützt wurden, dafür, dass die Überwindung bestimmter Standesschranken leichter wurde. Das von Joseph II. 1785 in den österreichischen Erblanden eingeführte Bürgerliche Gesetzbuch erlaubte jedermann den Erwerb adeliger Landgüter, zu einer Zeit, als sich Friedrich II. noch gegen den auch in Preußen üblich gewordenen Verkauf an bürgerliche Kapitalbesitzer zu stemmen versuchte. „Bürgerliche drangen aber nicht nur in das Reservat der Adelsgüter, sondern zur gleichen Zeit auch in die staatliche Zivilverwaltung und das Gerichtswesen, gelegentlich sogar in das Offizierskorps ein, während sich der Adel vom bürgerlichen Erwerbsleben rechtskräftig ausgeschlossen hatte.“ (Wehler 1987, 151) Gleichzeitig wuchs die Zahl der meist von den Landesherren ausgesprochenen Nobilitierungen, für die eine nach der Ranghöhe der Adelstitel gestufte Gebührenordnung existierte. „Schiller mußte 1802, als er auf Vorschlag Carl Augusts von Weimar vom Kaiser den Adel erhielt, 228 Gulden entrichten.“ (Ebd., 152.) Auf der Seite des Adels erkannten manche Gutsbesitzer, die mit der wachsenden Konkurrenz bürgerlicher Kapitalbesitzer zu kämpfen hatten, die Notwendigkeit von wirtschaftlichen Reformen und wandelten sich ihrerseits zu Agrarunternehmern. In dieser Sphäre der ländlichen Gesellschaft wurden die bis dahin geltenden Grenzen von Angehörigen beider Stände überschritten. Dennoch darf nicht pauschal von der Auflösung des Ständesystems gesprochen werden, zumal es Gegentendenzen gab. Weil der Adel in einigen seiner rechtlichen Privilegien bedroht war, neigte er nicht selten dazu, die gesellschaftliche Distinktion gegenüber den Bürgerlichen umso stärker zu betonen. Das galt besonders für die höfische Sphäre.

Lebensbedingungen der Landbewohner

An der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert lebten rund 80% der deutschen Bevölkerung auf dem Land. Zwei Drittel arbeiteten in der Landwirtschaft. Die rechtlichen und sozialen Unterschiede innerhalb des Bauerntums waren groß, die Spanne reichte von freien und reichen Großbauern bis zu abhängigen Kleinbauern, die als Hörige, Leibeigene oder in der Form der Erbuntertänigkeit Dienste und Abgaben an die Gutsherrschaft zu leisten hatten. Hinzu kam das auf dem Hof lebende Gesinde. Zwar unternahm die Reformpolitik des aufgeklärten Absolutismus erste Schritte zur Aufhebung der Leibeigenschaft und der Erbuntertänigkeit, doch blieben die Lebensverhältnisse der meisten Landbewohner ärmlich. Von anderen Maßnahmen der sozialen Verbesserung, etwa der Einführung der Schulpflicht, wurden sie noch kaum erreicht. So war die Bevölkerung weitgehend analphabetisch.

Idealisierung des einfachen Volks im Sturm und Drang

Obwohl nicht wenige der Autoren der Zeit vom Lande stammten – ihre Herkunft aus dem ländlichen Pfarrhaus ist zurecht ein Topos der deutschen Literaturgeschichte geworden –, haben sie die dortigen Verhältnisse fast nie realistisch beschrieben. Die Stürmer und Dränger idealisierten das Leben des einfachen ,Volks‘. Wenn Werther, auf dem Dorfplatz in Wahlheim eine Tasse Kaffee trinkend und seinen Homer lesend, den Bewohnern des Orts zuschaut, dann nimmt er die Szenerie als Idylle wahr. Maler Müllers Erzählungen – von denen Die Schaf-Schur (1775) am bekanntesten geworden ist – entwerfen ein ähnliches Bild vom ursprünglichen, in Natur und Tradition verwurzelten Hirten- und Bauerntum der eigenen, pfälzischen Heimat (vgl. IV.4). In den Werken der Weimarer Klassik spielen die ländlichen Unterschichten kaum eine Rolle mehr. Die Ideale der Humanität werden nicht vom einfachen ,Volk‘, sondern vom gebildeten Adel und Bürgertum verkörpert.

Es wäre an dieser Stelle nicht sinnvoll, auf die soziale Lage städtischer Unterschichten einzugehen, weil diese weder im Sturm und Drang noch in der Weimarer Klassik zu einem eigenen Gegenstand der Darstellung werden. Sogar jene Dramen des Sturm und Drang, die soziale Konflikte in den Mittelpunkt stellen, machen beim Kleinbürgertum halt. So konfrontiert das Stück Die Soldaten (1776) von Lenz adelige Offiziere und bürgerliche Mädchen aus bescheidenen Verhältnissen und bleibt damit im Rahmen des bürgerlichen Trauerspiels – der Unterschied zu Büchners Woyzeck ist deutlich. Eine gewisse Ausnahme stellt Die Kindermörderin (1777) von Heinrich Leopold Wagner dar, insofern dort zwei Mägde und eine Lohnwäscherin als weibliche Nebenfiguren vorkommen.

Die deutschen Auswirkungen der Französischen Revolution

Die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse, wie sie in Deutschland bestanden, wurden durch die Auswirkungen der Französischen Revolution nicht wesentlich verändert. Direkt griff die Revolution nur auf einige linksrheinische Gebiete Deutschlands über. Nach der militärischen Okkupation durch die französische Revolutionsarmee wurde 1792 die Mainzer Republik ausgerufen, welche aber weniger als ein Jahr darauf der Belagerung durch ein deutsches Koalitionsheer zum Opfer fiel. Zu einer länger andauernden Umwälzung kam es an keinem Ort. Freilich wurden die Ideen (Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit) und die Ereignisse der Französischen Revolution in Deutschland intensiv diskutiert. Dabei vertraten die Schriftsteller unterschiedliche, im Verlauf der Revolution häufig wechselnde Meinungen. Ihre individuelle Haltung lässt sich selten auf einen Nenner bringen. Unter den Autoren der Weimarer Klassik (vgl. Fink u. a. 1974; Chiarini/Dietze 1978; Wilson 2004) bekannte sich Herder am deutlichsten zur Französischen Revolution, deren Ideen er auch dann noch verteidigte, als die Phase des ,Terreur‘ einsetzte. Wieland war von Anfang an ein nüchtern abwägender Realist, der die politischen Entwicklungen in Frankreich teils positiv, teils negativ beurteilte, unabhängig davon aber ihre Übertragung auf Deutschland für falsch hielt. Währenddessen gehörten Goethe und Schiller spätestens seit der ,Terreur‘ zu den politischen Gegnern der Französischen Revolution, ohne damit umgekehrt zu Lobsängern des Ancien Régime zu werden. Sie verarbeiteten die Revolutionsthematik in philosophischen und literarischen Werken, die einen großen Deutungsspielraum lassen.

Einführung in die Literatur des Sturms und Drang und der Weimarer Klassik

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