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3Sterben als transpersonaler Prozess

Der islamische Sufi-Mystiker Jelaladdin Rumi (1207-1273) schrieb: „Der Tod ist in Wirklichkeit eine spirituelle Geburt. Dabei wird der Geist aus dem Gefängnis der Sinne in die Freiheit Gottes entlassen, genau wie man bei der leiblichen Geburt aus dem Gefängnis des Schoßes in die Freiheit der Welt hinaus gelangt. … Die meisten Menschen haben Angst vor dem Tod, aber die echten Sufis lachen nur angesichts seiner. Nichts vermag ihre Herzen zu erschüttern. Was die Austernschale zertrümmert, kann die Perle nicht einmal ankratzen.“28

In der Arbeit mit Menschen, die sich schwerkrank in Richtung Tod bewegen, aber auch mit körperlich Gesunden, die unter hypochondrischen Ängsten vor Krankheit und Tod leiden, hat sich gezeigt, dass ein transpersonaler Ansatz – neben klassischen psychotherapeutischen Behandlungsverfahren – den Umgang mit der eigenen Sterblichkeit erleichtern kann.

Sterben könnte man auch als Wandlungsprozess, als Verwandlung oder Metamorphose verstehen: Etwas vergeht, etwas anderes entsteht und das alles findet innerhalb desselben Seins statt. Das Mysterium des Seins enthüllt sich, offenbart seine Schönheit in der (körperlich verdichteten) Form und wandelt sich wieder zu etwas Unsichtbarem. Ist der Hauptsinn menschlicher Geburt, wie Goethe es ausdrückt, dass wir „zum Sehen geboren, zum Schauen [des Unwandelbaren] bestellt“ sind?

„Transpersonal“ bezieht sich auf einen Bereich jenseits der engen Grenzen des persönlichen Ich-Erlebens. Diese Perspektive ist besonders hilfreich beim Umgang mit der Vergänglichkeit. Dabei geht es nicht allein um ein ‚Erspüren’ eines unvergänglichen Seins, sondern um die Überschreitung unserer begrenzten Vorstellungen von Vergänglichkeit, indem wir uns als Teil eines Ganzen wahrnehmen.

„Wenn keine Wolke über dem Berge hängt, durchdringt das Mondlicht die Wellen des Sees“, heißt es in einem Zen-Dialog.29 Als der Mönch diese Wahrheit nicht nur mit dem Verstand begriff, sondern sie ihn im Herzen berührte, erfuhr er Erleuchtung. Das große Suchen und Zweifeln kam zum Ende.

Die Auseinandersetzung mit der Vergänglichkeit ist ein wichtiger Bestandteil aller Kulturen. Im indischen Kulturraum finden sich Unterweisungen zur Vergänglichkeit bereits in den Upanishaden (entstanden vermutlich zwischen 2000 und 100 v. u. Z.) wie in der Katha Upanishad, die einen Dialog zwischen dem jungen Naciketas und dem Tod beschreibt, den er zu seinem Guru (Lehrer) wählt.

An diese alte Tradition knüpfte Buddha an, der stets betonte, dass die Vergänglichkeit ein wichtiger Lehrmeister sei. Auf Anweisungen Buddhas bezieht sich daher eine buddhistische Form der Sterbemeditation, die der indische Meister Atisha um das Jahr 1000 u. Z. in Tibet einführte.30

Für die vorbuddhistische Praxis des Yoga Nidra besteht bereits das Grundproblem der Angst vor Vergänglichkeit in unserer Identifizierung mit unserer materiell-körperlichen Form, mit ihren Empfindungen, Gefühlen, Gedanken sowie in der Vorstellung, ein eigenständiges Ich zu besitzen. Die Übung des Yoga Nidra zielt deshalb darauf ab, allmählich einen Perspektivenwechsel zwischen Ich-Erleben und Ich-Beobachtung zu erreichen, indem man durch zahlreiche Wiederholungen lernt, sein eigenes Erleben gleichsam ‚von außen’ zu betrachten und dann als Teil des energetischen Schöpfungskörpers. Die gewonnene Distanz und Einbettung in die Energie des Ganzen soll helfen, die Verhaftung an den vergänglichen Organismus zu verringern. Zu diesem Zweck – als Hilfe zur Desidentifikation mit dem Ich und zur Vorbereitung auf den eigenen Tod – findet sich in diesem Buch eine Yoga-Nidra-Anleitung (Kap. 11) und die buddhistische Sterbemeditation (Kap. 12 und 15).

Ähnlich wie auch andere meditative Praktiken ermöglicht die Yoga-Nidra-Übung eine nicht wertende Grundhaltung gegenüber Körperempfindungen, Gefühlen, Gedanken und der Ich-Vorstellung. Loslösung und Ent-Identifikation leiten einen transpersonalen Prozess ein, der eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Verlust der körperlich-geistigen Integrität hat, wie sie der Tod von uns fordert. Denn dabei geht es letztlich um die Lösung von Dingen, die uns ohnehin nur dem Namen nach gehören, wie es der thailändische Theravada-Buddhist Ajahn Chah (1918-1992) treffend ausdrückte. Entdeckt man Vergänglichkeit um sich herum, kann sich ein innerer Frieden ausbreiten. Wenn ein welkes Blatt vom Baum fällt oder ein Insekt seine letzten Zuckungen vollzieht, kann ein Augenblick mystischer, transpersonaler Stille entstehen, ein Zur-Ruhe-Kommen im Sein. Wenn wir die alltäglichen Zeichen von Vergänglichkeit an uns selbst und um uns herum klarer beobachten, eröffnen sich uns neue Dimensionen, die über unsere Ich-Grenzen hinausführen. Der persische Mystiker Bayasid Bistami (803-875) formulierte es poetisch:

Unter meinem Gewand ist nichts als Gott;

ich streifte mein Ich ab wie eine Schlange,

die ihre Haut abstreift.

Dann sah ich mein Wesen an

und es zeigte sich, dass ich Er war.31

Daher fordert der islamische Mystiker Jelaladdin Rumi dazu auf, beim Dahinscheiden nicht zu trauern, sondern eher froh zu sein:

„An meiner Grabstätte schreit nicht: ‚Weh, du bist fort!’, denn für mich ist das die Zeit froher Begegnung. Wenn ich ins Grab gesenkt werde, ruft mir keine Abschiedsworte nach. Ich habe dann den Vorhang zur ewigen Gnade durchschritten.“32

Die Angst vor dem Tod überwinden

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