Читать книгу Die Angst vor dem Tod überwinden - Karim El Souessi - Страница 8
ОглавлениеVorwort |
„Da gibt es welche, die sich über das Sterben Sorgen machen. Ich sage: ‚Keine Angst – du stirbst schon!’“1
In Platons „Phaidon“ sagt Sokrates: „Wahre Philosophen machen Tod und Sterben zu ihrem Beruf.“ Sokrates meinte damit, dass wir mit jedem Atemzug und in jedem Augenblick das Sterben üben sollten.2 Aus diesem Grund tragen tibetische Mönche unter ihrer Kutte eine ‚Weste der Vergänglichkeit’ mit zwei spitz zulaufenden Streifen, die sich bei den Achselhöhlen kreuzen. Die Streifen stellen die Fänge des ‚Herrn des Todes’ dar, die Mitte der Weste ist sein Mund. Jeden Tag soll der Mönch sich beim Ankleiden bewusstmachen, dass er in jedem Augenblick dem Tod ausgesetzt ist.3 Ähnlich äußert sich die psychisch kranke italienische Dichterin Alda Merini (1931-2009): „La preparazione alla morte dura una vita intera“ – Die Vorbereitung auf den Tod dauert ein ganzes Leben.4
Als Autor dieses Buchs bitte ich meine Leser und Leserinnen um eine gewisse Offenheit dafür, den Sterbeprozess nicht nur als materiellen Vorgang zu begreifen, sondern die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass es ein Bewusstsein gibt, das nicht an körperliche Grenzen gebunden ist, das über die personenbezogene Bewusstheit, ausgedrückt in Gedanken, Erinnerungen, Bildern, Gefühlen, Körperempfindungen und Verhaltensweisen, hinausreicht. Sowohl der Philosoph G.F.W. Hegel als auch der zeitgenössische Ganzheitsphilosoph Ken Wilber bezeichnen dieses allumfassende Bewusstsein als Geist. Im Sanskrit gibt es dafür den Begriff Dharmakaya, die ursprüngliche erleuchtete Natur des Geistes selbst. Seine Natur ist ungeboren und todlos, offen und weit, ohne Zentrum und ohne Begrenzung. Der Buddhismus verwendet dafür den Begriff ‚Leerheit’, die überall ist und jede vergängliche Form durchdringt, aus der durch kosmische bzw. energetische ‚Verdichtung’ Formen entstehen. Aber auch der Begriff der Leerheit ist komplex, problematisch und kann irreführend sein.5 Auch Bezeichnungen wie Gott, Jahwe (jüdisch für ‚unaussprechlicher Name’), Wakan Tanka, Tao, Allah sind nur weitere Begrifflichkeiten, die alle auf etwas Nicht-Begriffliches, Unbegreifbares hinweisen.
Sterbemeditation soll die Kunst des Sterbens, die ars moriendi, wieder mehr ins Bewusstsein bringen, wie dies in den letzten Jahren mit der Hospizbewegung mehr und mehr geschehen ist. Auch in der Psychotherapie sind Richtungen wie die Psychoonkologie entstanden, die das Sterben bewusst mit einbeziehen. Der bekannte Psychotherapeut Irvin D. Yalom ist einer von vielen, die die Vergänglichkeit zum Gegenstand des therapeutischen Prozesses machen. „Lebe immer mit dem Tod auf der linken Schulter“ ist beispielsweise eine seiner Hinweise, um der Vergänglichkeit in der Arbeit mit seinen Patienten mehr Raum zu geben.6 Etwas ironisch behauptet der Autor Tizio Terzani7, der einen Bericht über seinen Weg hin zum Sterben verfasst hat, dass die eigentliche Krankheit – hinter den mehr als 40.000 beschreibbaren Krankheiten – die Sterblichkeit ist. Statt zu hoffen, dass im Sterbeprozess der Tod möglichst rasch kommt und alles schnell vorbei ist, wollen wir mit diesem Buch alte Wege neu beschreiten. Den Tod könnte man auch als Höhepunkt des Lebens begreifen, als kunstvolle Wende oder Übergang, als Heraustreten aus dem Irdischen oder, wie der französisch-indische Mystiker Henri Le Saux (bekannt als Abhishiktananda, 1910-1973) meinte, als eine Befreiung von irdischen Ketten. Sterbemeditation ermöglicht uns eine bessere Vorbereitung und eine positivere Haltung zum Sterben. Statt den Tod auszuklammern und zu verdrängen, beziehen wir ihn in unser Leben ein. Sind wir nicht bereits mit der Geburt Sterbende?
Das Buch beinhaltet nicht nur Reflexionen über den Tod und das Sterben, sondern auch praktische Hilfestellung im Umgang mit Sterbenden für ihre Angehörigen und Freunde. Sich in die Rolle eines Sterbenden zu versetzen und zu überlegen, wie man selbst behandelt werden möchte, kann helfen, eine bessere Sterbebegleitung anzubieten.
Wann steht es für uns an, im Einklang mit dem Sein den Übergang, den Wandel, den ‚Heimgang’ zu erkennen, dem es zu folgen gilt? Geht es um das Sterben der Persönlichkeit, dann gehört zum Sterbeprozess, sich von den Anhaftungen an dieses Ich zu lösen und ich-bezogene, personale, vielleicht auch konfessionelle Grenzen zu überschreiten.
Die Frage, die sich stellt, ist: Wer stirbt in Wirklichkeit? Die kleinsten, elektromagnetischen Teilchen, aus denen die Welt besteht, verschwinden ebenso wieder im Raum, wie sie daraus entstehen, verdichten sich zu Formen und lösen sich wieder auf. Sind nicht alle Erscheinungen, wie es Rudolph Steiner ausdrückte, nichts anderes als geronnenes Licht; unausdenkbares Licht, wie es Torei Zenji in seinem Bodhisattva-Gelübde bezeichnet? Gibt es daher Sterben überhaupt? Gibt es einen Seelenkörper, der sich im Verlauf unzähliger Kreisläufe des Werdens und Vergehens letztendlich im Ozean des Seins auflöst?
Was ist Leben? Was ist Schöpfung? Mit welcher Vorstellung kann ich mich ihr nähern? Welche Bedeutung hat die Glaubensvorstellung? Behindern Religionen und Glaubensvorstellungen den Blick auf die wahre Schöpfung? Verdecken die Formen das Ungeformte, das Ungeborene?8 Gibt es etwas Unwandelbares, was trotz aller Vergänglichkeit bleibt?
Ein Zen-Meister sagte einst sinngemäß: „Religionen sind wie Finger an der Hand. Sie können nur zum Mond zeigen.“ Die islamische Mystikerin und als Heilige verehrte Rabi’a al Adawiyya (717-801) soll ausgerufen haben: „Gebt mir einen Eimer Wasser, um die Feuer der Hölle zu löschen, und Feuer, um den Himmel zu verbrennen, damit die Verblendungen der Menschen verschwinden.“9 Der Sufi-Meister und Baumwollkämmer Husain ibn Mansur al-Hallâj (Halladsch, 857-922), der kühnste Vertreter der frühen islamischen Mystik, wurde hingerichtet für seine Aussage: „Ich bin der, den ich liebe, und der, den ich liebe, ist.“10 Wäre das auch heute noch Blasphemie?
Dazu zwei Verse aus dem 16. Jahrhundert von Johann Gottfried Scheffler, genannt Angelus Silesius, Arzt, Priester und zuletzt Mystiker:
Im Eins ist alles eins;
kehrt Zwei zurück hinein,
so ist es wesentlich
mit ihm ein einges Ein. (V, 6)
Wer hätte das vermeint!
Aus Finsternis kommt Licht,
das Leben aus dem Tod,
das Etwas aus dem Nicht. (IV, 140)11
Dieses Buch versteht sich als Fragment im Sinne des Arztes und Philosophen Julien Offray de la Mettrie: „Wie es keine fertigen Wahrheiten gibt, gibt es auch keine abgeschlossenen Texte. So dürfen noch die falschesten Hypothesen als glückliche Irrtümer gelten.“12
Mein Dank gilt den vielen Lehrern auf meinem Weg, darunter den Zen-Meistern und Lehrern, Pater AMA Samy, Pater Lassalle, Pater Victor, Pater Lutze, der Sanbo-Zen-Schule mit Yamada Ryoun Roshi und Kubota Roshi, den Lehrern der koreanischen Zen-Tradition und den tibetischen Lehrern für die jahrelange Schulung.13
Für die kritische Hilfe und Unterstützung bei der Durchsicht und Fertigstellung des Manuskripts möchte ich mich herzlich bedanken bei: Helga Braun (Lektorat), Holmer Becker, Klemens Jackisch, Ralf-Peter Lösche (Lektorat/Gestaltung).