Читать книгу Die Angst vor dem Tod überwinden - Karim El Souessi - Страница 12

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4Andere werden älter – ich nicht

Selbstironisch schreibt ein alternder Mann im Internet33: „Die Menschen meiner Altersgruppe haben sich verändert. Sie sehen alle viel älter aus als ich. Kürzlich traf ich einen Schulkameraden, der so gealtert war, dass er mich nicht mehr erkennen konnte. Vieles ist heute anders als früher. Es ist zweimal so weit zum Park und nun ist auch noch ein Berg dazwischen. Es kommt mir so vor, als würde man die Treppen heute steiler machen.

Und ich habe längst aufgegeben, zum Bus zu rennen, der fährt jetzt schneller weg als früher. Zeitung lesen fällt jetzt auch schwerer, weil sie die Schrift verkleinert haben. Es hat auch keinen Sinn, jemand zu bitten, mir etwas vorzulesen, denn sie sprechen alle so leise, dass ich sie kaum verstehe. Auch die Klamotten sind neuerdings so eng geschneidert, besonders um die Hüften herum. Es fällt mir immer schwerer, mich zu bücken, um meine Schuhe zu binden.

Die Wartezimmer beim Arzt sind mir fast so vertraut wie mein Wohnzimmer. Vor wenigen Wochen hat ein Arzt zu meinem Nachbarn, der nur zwei Jahre älter ist als ich, gesagt, in seinem Alter lohne sich die Operation nicht mehr. Aber eines freut mich und zeigt mir, dass ich doch noch nicht so alt bin: Ich bin unverändert kontaktfreudig und lerne jeden Tag neue Menschen kennen. Einige von denen sagen allerdings, sie würden mich schon lange kennen!“

Ist der Mensch erst einmal erwachsen, wiegt er sich gern in dem Glauben, dass es ewig so weitergeht. Das liegt unter anderem daran, dass die Entwicklung der Persönlichkeit bis etwa zum 35. Lebensjahr weitgehend abgeschlossen ist. Im Gehirn ist diese Ich-Funktion vor allem in den Regionen hinter den inneren Augenbrauen lokalisiert. Diese neuronalen Netzwerke machen das Erleben einer eigenständigen Person möglich. Der Mensch erfährt sich als mehr oder weniger stabile Einheit, die sich durch Lebenserfahrung weiter ausformt. Das Gehirn ist, so der Neurowissenschaftler Gerhard Hütter34, eine zeitlebens offene Struktur, die sich im Laufe des Lebens ändert, weiterentwickelt, aber wie andere Körperstrukturen auch dem Alterungsprozess unterworfen ist und Leistungseinbußen erfährt. Anders als bei genetisch determinierten Lebensformen, wie z. B. Insekten, biologisch determinierten, wie Vögel und Säugetiere, die nur in bestimmten Lebensabschnitten lernen, kann das Gehirn eines Menschen bis zum Lebensende lernen, selbst wenn es degenerative Veränderungen bis hin zur Demenz aufweist und dadurch die normale Kommunikation beeinträchtigt. Selbst ein dementer Mensch kann die Frage nach der Freude am Leben noch bejahen. Je trainierter allerdings das Gehirn, so der Neurowissenschaftler Manfred Spitzer, desto länger bleibe die Denkleistung und das Bewusstsein, ein Ich zu besitzen, erhalten.35 Stabile Ich-Funktionen stellen in gewisser Weise ein Dilemma dar: Einerseits sind sie essenziell für die geistige Entwicklung und das Funktionieren in der Gesellschaft, andererseits aber können sie auch die Verhaftung an ein Ich oder Ego verstärken und das Loslassen im Sterbeprozess erschweren.

Der Mensch erlebt den Alterungsprozess durch das Schwinden der körperlichen und geistigen Leistungsfähigkeit, der Beweglichkeit und der Kondition. Besonders im Vergleich mit anderen kann er erkennen, dass seine körperlichen und geistigen Kräfte nachlassen und sich seine Ansichten über das Leben verändern. Dem Meditationslehrer Larry Rosenberg wurde sein Alter – er war etwas über 60 Jahre alt – erstmals bewusst, als jemand ihm einen Sitz in der U-Bahn anbot, wo doch sonst immer er derjenige war, der anderen seinen Platz angeboten hatte.

Wie ist es bei Ihnen? Wann ist Ihnen zum ersten Mal wirklich aufgefallen, dass Sie zu den Älteren gehören?

Das Nachlassen unserer Energien und – langfristig betrachtet – das Sterben ist mitten unter uns, ob wir uns dessen bewusst sind oder nicht. Die Anti-Aging-Industrie will uns mit zahllosen Angeboten glauben machen, dass dem nicht so sei. In der Geschichte der Kosmetika und Medikamente wurden schon immer ‚böse’ Stoffe gefunden, die angeblich zum Altern beitragen, und neue Substanzen und ‚Therapien‘ entwickelt, die davor schützen sollten. Abgesehen von Substanzen, die nachweislich gesundheitliches Leid verringern, und solchen, die erwiesenermaßen die Gesundheit schädigen (Rauchen, Alkohol, Drogen) – wäre es nicht besser, das Altern einfach Altern sein zu lassen?

„Gäbe es den Tod nicht – man müsste ihn erfinden! Ein ewiges Leben wäre zum Sterben langweilig: Ohne irgendein Ende gäbe es keinen Anfang und keine Mitte, gäbe es keinen Rhythmus, keine Melodie, kein Motiv, weder Durchführung noch Finale. Ohne Tod wird der Sensenmann zahnlos. Dabei brauchen wir den Zahn der Zeit, der an uns nagt, mal fies an den Gelenken, aber wenn wir hinhören, auch mal liebevoll am Ohrläppchen. … Anstatt sich um lebensverlängernde Zusatzstoffe zu kümmern, ist das Radikalste, was wir tun können, es nicht in der Apotheke zu finden. Wir finden es in der Freude am Leben selbst.“36 Vom Radikalenfänger-Fresser zum bewussten Genießer zu werden, wie Eckard von Hirschhausen vorschlägt, wäre heute wirklich radikal.

Aber der Tod ist allgegenwärtig. Fast 80 Millionen Menschen sterben jährlich auf der Welt. 75 Prozent der Bevölkerung atmen ihren letzten Atemzug in einem Pflegeheim oder Krankenhaus. Alle 45 Minuten bringt sich in Deutschland ein Mensch um.37

Joan Halifax forderte in ihren Hospizkursen die Teilnehmer auf, sich zu überlegen, was das schlimmste Szenario ihres Todes wäre. Vielleicht nehmen Sie sich einmal die Zeit, sich ein solches Szenario im Detail vorzustellen, aufzuschreiben und mit anderen zu besprechen? Wenn Sie damit fertig sind, fragen Sie sich, wie Sie sich jetzt fühlen, wie sich Ihr Körper anfühlt. Was sagt Ihnen Ihr Körper bei einer solchen Vorstellung?

Und dann nehmen Sie sich ein paar Minuten Zeit dafür, sich zu fragen, wie Sie sterben wollen, und spüren nach, wie sich dabei Ihr Körper anfühlt. Vielleicht finden andere Menschen Ihre persönlichen Vorstellungen gar nicht so schrecklich wie Sie selbst, vielleicht haben andere ganz unterschiedliche Wünsche und Vorstellungen? Vielleicht haben sich aber auch Ihre eigenen Vorstellungen nach der Lektüre dieses Buchs verändert?38

Die Angst vor dem Tod überwinden

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