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Die Macht der Gedanken

Sie stellen die Weichen

Nicht das Alter ist das Problem, sondern unsere Einstellung dazu.

Marcus Tullius Cicero (106–43 v. Chr.), römischer Redner und Staatsmann

Wann ist ein Mensch alt? Ist Alter nur eine Zahl? Die Summe der gelebten Jahre? Bedeutet Alter immer Krankheit, Einsamkeit und Demenz? Woher kommt diese Angst, dieses Unbehagen, wenn wir uns dem 70. Geburtstag nähern? Müssen wir jetzt auf vieles, was uns im Laufe der Jahre lieb geworden ist, verzichten? Uns ins Unumgängliche fügen und altersgemäß den Rest unserer Tage verbringen? Und, was bedeutet eigentlich »altersgemäß«? Heißt das: nur nicht auffallen, bescheiden und möglichst wohltätig im Hintergrund bleiben? – Wer will das schon!

Kann man an seinen Einstellungen und Sichtweisen, die uns von der Gesellschaft und der eigenen Familie vorgelebt wurden, die seit Jahrzehnten fest zementiert in uns stecken, auch noch mit 70 oder 80 Jahren etwas ändern? Die tröstliche Botschaft ist: Man kann!

Die Zeit zurückgedreht

Die Sozialpsychologin Professor Ellen Langer von der Harvard Universität hat vor 35 Jahren ein viel beachtetes Experiment gestartet, das sie »Counterclockwise« (Die Uhr zurückdrehen) nannte. Mit Hilfe ihrer Studenten hatte sie ein abgelegenes Kloster gefunden, das für ihr Vorhaben ideal war. Aus einer Gruppe von Männern zwischen 70 und Anfang 80 wählte sie 16 Teilnehmer aus. Sie wurden in zwei Gruppen zu je acht Personen aufgeteilt, die getrennt eine Woche in dem Kloster verbringen sollten. Dort wurde alles so hergerichtet, wie es Ende der 50er, Anfang der 60er-Jahre gewesen war: Der Fernsehapparat war ein klotziger Kasten, in dem man nur Schwarz-Weiß sehen konnte. Langer ließ die entsprechenden Filme besorgen wie »Ben Hur«, »Psycho« oder »Odysee im Weltraum« von Stanley Kubrick. Die Musik war ebenfalls aus diesen Jahren, ebenso wie die Abspielgeräte: Plattenspieler, keine CD-Player. Die Männer der ersten Gruppe, die in ihrem Alltagsleben alle in sehr umsorgten Verhältnissen lebten, waren außerdem für ihre Mahlzeiten selbst verantwortlich. Sie mussten kochen, abwaschen und ihre Betten machen. Herausforderungen, die in den letzten Jahrzehnten kaum an sie gestellt worden waren. Diese experimentelle Gruppe wurde aufgefordert, sich vorzustellen, es sei tatsächlich das Jahr 1959. Alles, was in ihrem Leben nach dieser Zeit geschehen war, sollten die Teilnehmer total ausblenden.

Ganz anders waren die Bedingungen der Kontrollgruppe. Dort erhielten die Teilnehmer die Aufgabe, sich lediglich rückblickend mit dem auseinanderzusetzen, was sie 1959 persönlich und politisch beschäftigt hatte. Ansonsten waren sowohl die Zeitungen als auch das Fernsehen aus dem Jahr 1979. Nach Beendigung des Experiments wurden die Teilnehmer beider Gruppen gründlich untersucht und interviewt.

Bei den acht Männern, die sich 20 Jahre zurückversetzt hatten, waren stärkere Veränderungen messbar. Die Beweglichkeit ihrer Gelenke hatte sich verbessert. Sie wirkten fröhlicher und betrachteten ihre Zukunft positiver. Selbst bei den Intelligenztests schnitten sie besser ab als vor dem Experiment. Die zweite Gruppe fühlte sich ebenfalls verjüngt. Allerdings wirkten sie nicht ganz so positiv gestimmt wie die Teilnehmer der ersten Gruppe.

Ellen Langer hatte die Teilnehmer zu Beginn und nach Beendigung des Experiments fotografieren lassen. Auffällig war, dass neutrale Betrachter der Fotos alle Teilnehmer auf den neueren Fotos wesentlich jünger schätzten.

Die damals 34-jährige Professorin Ellen Langer und ihre Studenten waren begeistert. So viel Aufmerksamkeit ihr Experiment weltweit hatte, so ungehalten reagierten Langers konservative Kollegen. Die Tatsache aber, dass ein positiver und starker Wille ein Leben verändern und verbessern kann, war nicht mehr aus der Welt zu schaffen.

Jahre später wurde das Experiment mit Frauen zwischen 65 und 80 Jahren wiederholt. 16 Teilnehmerinnen, zwei Gruppen. Die Aufgabe war, sich im Jahr 2000 in die 80er-Jahre zurückzubeamen beziehungsweise sich an diese Zeit zu erinnern. Die Frauen wurden gebeten, falls sie noch Klamotten aus den 80ern hätten, diese zu tragen. Schulterpolster, Strass und Neonfarben hatten ihr Revival. Die Songs der Bee Gees, Phil Collins’ »Against all odds« und Abbas »The winner takes it all« wurden aufgelegt und es wurde begeistert dazu gesungen und getanzt. Die Ladys hatten viel Spaß und sie drehten die Uhr tatsächlich um. Die zweite Gruppe, die sich nur über diese Zeit unterhielt, ohne Mode, Musik und Bücher aus den 80ern, fühlte sich zwar auch angeregt und um einiges jünger, aber das Ergebnis war weniger spektakulär.

Die Zeiten hatten sich inzwischen geändert und Professor Langers Forschung interessierte jetzt auch die zuvor unbelehrbaren Kollegen. Es war inzwischen klar, dass der Satz »Wir sind so jung, wie wir uns fühlen«, keine bloße Wunschvorstellung und keine leere Floskel ist.

Altern – eine Frage der Einstellung

Wie wir alt werden, wird stark von unseren Vorstellungen vom Altern beeinflusst. Davon, welche Bilder wir vor Augen haben, wenn wir an alte Menschen denken, behauptet Langer. »Die Macht der Gedanken« wurde zu Professor Langers Lebensthema. In Hunderten von Untersuchungen erforschte sie, wie Informationen, die wir empfangen und interpretieren, unser Leben beeinflussen.

Wir übernehmen Klischees, ohne sie zu hinterfragen: »Alte Menschen sind gebrechlich, dement und haben kaum noch eine selbst zu gestaltende Zukunft.« Das wirkt fast wie eine »Selffulfilling Prophecy«. Unser Bild vom Altern ist auch geprägt durch das Elternhaus, Schule und Freunde oder alte Menschen, mit denen wir in der Jugend Kontakt hatten. Alles, was wir übernehmen, ohne zu versuchen, es neu und anders zu denken, wird im Klischee enden. Sorgfältiger zu prüfen und neu zu denken fordert Ellen Langer deshalb. »Was wir sehen, hängt davon ab, worauf zu achten wir gelernt haben! Wir müssen unser altes Leben mit neuen Augen betrachten. Uns von Regeln verabschieden und neue erfinden!« »Reframing«, dem Leben einen neuen Rahmen geben, nennt Langer das.

Niemand glaubt, zu altern wäre eine besonders leichte Übung. Dennoch birgt dieser Satz eine tröstliche Botschaft: Wie wir altern, ist nicht nur eine biologische Frage, sondern wird wesentlich durch unsere Vorstellungen vom Älterwerden beeinflusst.

Nach allem, was man heute weiß, sind rund 30 Prozent der Einflüsse, wie wir altern, genetisch vorbestimmt. Aber die Mehrzahl der Faktoren ist bedingt durch den Lebensstil: Wie wir mit Herausforderungen umgehen, welche Einstellung wir zu unserem Körper haben, wie wir die Balance zwischen Ruhe und Anspannung finden und soziale Kontakte pflegen.

Wenn ein älterer Mensch sich zutraut, bestimmte Dinge machen zu können, wenn er Ziele und einen Lebensentwurf hat, dann ist das entscheidend dafür, dass er es auch schafft. »Selbstwirksamkeit« nennen Experten dieses Vertrauen darauf, selbst etwas tun und bewirken zu können. Doch um wählen zu können, muss man auch Ungewissheit ertragen, meint Professor Ellen Langer. Denn, wo kein Zweifel sei, gebe es auch keine Wahl. »Es ist die Unsicherheit, die wir im Auge behalten müssen. Nicht jede neue medizinische Mode übernehmen. Nicht jedes Vorurteil ungeprüft gelten lassen. Wenn wir aufmerksamer sind, ist der Lohn, dass wir Wahlmöglichkeiten schaffen können. Dann haben wir die Möglichkeit, Kontrolle über unser Leben auszuüben.«

Das kann auch dazu beitragen, sich weniger ausgeliefert zu fühlen, wenn man an das Alter denkt, eine positivere Haltung einzunehmen – und vielleicht sogar länger zu leben – in diese Richtung weist zumindest eine andere Studie von Professor Langer.

Der Hamburger Altersforscher Wolfgang von Renteln-Kruse bestätigt diese Erkenntnis: Das Entscheidende spiele sich im Kopf ab. Wir bräuchten ein anderes Bild vom Altern. Viele Menschen ließen nur deshalb in ihren Leistungen nach, weil sie den Glauben an sich verlören. Gedanken könnten Bäume versetzen, meint von Renteln-Kruse. Er kennt auch die negativen Beispiele vorgefasster Einstellungen aus seiner Arbeit. Als ein Beispiel führt er das sogenannte Post-Fall-Syndrom an, das bei älteren Frauen häufiger zu beobachten sei als bei älteren Männern. Wenn im Alltag noch völlig mobile Menschen stürzen und sich einen Knochenbruch zuziehen, kann das ein gravierender Einschnitt sein und möglicherweise fatale Folgen haben: Die Angst, das Gleiche könnte wieder passieren, würde dazu führen, dass man nicht nur vorsichtiger gehen, sondern auch Dinge, die einem bis dahin selbstverständlich gewesen seien, einschränken würde. Der Aktionsradius schränkt sich mehr und mehr ein, man ist körperlich weniger aktiv und gerät in einen Teufelskreis. Die Furcht untergräbt den Glauben an die eigenen Fähigkeiten und man traut sich immer weniger zu. Und so verliere man im Lauf der Zeit tatsächlich die Fähigkeit, aktiv zu sein.

Super Ager und Couch-Potatoes

Die Neurologen Lisa Feldman Barrett und Marsel Mesulam vom Massachusetts General Hospital (USA) wollten es genau wissen: Was macht den Unterschied zwischen lebensfrohen und agilen alten Menschen und ihren trübsinnigen desinteressierten Altersgenossen aus? Warum sind die einen noch fit und voller Zukunftsplänen und die anderen siechen quasi vor sich hin?

Sie suchten sich 17 »Super Ager« zwischen 65 und 80 Jahren, die voller Zukunftspläne und geistig auf der Höhe der Zeit waren. Die acht Männer und neun Frauen wurden für ein Gehirnscreening in einen Magnetresonanztomographen (MRT) gesteckt, um die Dicke der einzelnen Schichten (Lappen) zu messen. Danach wurde das Gehirnscreening an Personen zwischen 25 und 32 Jahren durchgeführt. Bei beiden war die Dicke der Gehirnlappen nahezu gleich.

Ein drittes Screening untersuchte nicht so fitte Senioren. Das Ergebnis verblüffte die Neurologen. Die Gehirnschichten waren durch Arthrose oder andere Beschwerden wesentlich dünner. Diese Gruppe empfand das Alter als beschwerlich und wenig lebenswert. Sie hatte auch in den vergangenen Jahrzehnten, im Gegensatz zu den »Super-Alten«, wenige Anstrengungen unternommen, um ihr Gedächtnis zu schulen oder sich geistig fit zu halten.

Das Fazit der Ärzte war: Je mehr man sein Gehirn trainiert und auch physisch bis an die eigenen Grenzen geht, desto fitter und lebensfroher kann man sein Alter genießen.

Noch vor 100 Jahren galt ein erreichtes Alter von 70 Jahren als steinalt. Inzwischen werden die Menschen 90 und auch 100 Jahre. Heute 70 Jahre alt zu sein, bedeutet nicht, schon mit einem Fuß im Grab zu stehen. Es kann sogar befreiend sein, sich endlich ganz auf die eigene Person zu konzentrieren. Sich Wünsche zu erfüllen, mit verschollenen Freunden wieder Kontakt aufzunehmen. Voraussetzung dafür ist allerdings, dass wir die bestehenden Klischees aus unseren Köpfen verbannen! Dass wir neu denken und uns nicht in der Herde der Ewiggestrigen verstecken.

Was aber unabdingbar zur mutigen Bewältigung des letzten Lebensdrittels zählt, sind: Neugierde, Offenheit, Humor und der Mut zu unbequemen Meinungen. Wer – wenn nicht die Alten dürften sich das leisten!

Ist das Alter noch zu retten?!

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