Читать книгу Ist das Alter noch zu retten?! - Karin Dietl-Wichmann - Страница 7

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Wer bin ich?

Die Zeit ist immer reif, es fragt sich nur wofür.

François Mauriac (1885–1970), französischer Schriftsteller

Das erste graue Haar entdeckte ich, als ich 59 Jahre alt wurde. Es war ein Schamhaar. Ich riss es empört aus. Darüber nachzugrübeln, ob jetzt ein Abschnitt meines Lebens enden würde – dazu hatte ich wenig Lust! Aber dieses blöde Haar ging mir nicht mehr aus dem Kopf. Was dann begann, war zumindest für mich ziemlich ungewöhnlich.

Ich war immer eine sehr selbstbewusste, durch wenig zu irritierende Person. Ich habe nie gezögert, notwendige Entscheidungen zu treffen. Plötzlich stellte sich da etwas quer. Ich stellte mich quer. Was verunsicherte mich so? Ein einzelnes Haar? Wollte mir das Schicksal ein Zeichen geben? Mich an das Ende heranführen? Um es kurz zu machen: Ich geriet in eine Krise.

Zum ersten Mal dachte ich über mein Alter nach. Bisher waren es nur die anderen, die alt waren, alt aussahen, sich alt gebärdeten. Ich selbst befand mich irgendwo im Nirgendwo. Das war im Grunde keine sehr komfortable Position, wenn man noch einige Jahre gut und zufrieden leben wollte.

Ehrlichkeit ist angesagt

Ich begann, mir die folgenden Fragen zu stellen. Sie zu beantworten ist nicht unbedingt leicht gewesen.

Wer bin ich?

1 Wie sehe ich mich? Habe ich ein viel zu positives Bild von mir?

2 Welche Macken habe ich und woran hindern mich diese?

3 Welche Fehler der Vergangenheit kann ich noch ausmerzen?

4 Habe ich eine Vorstellung, wie ich altern möchte?

5 Habe ich Angst vor dem, was mich in den nächsten Jahren erwartet?

6 Ist meine augenblickliche Lebensgestaltung die richtige?

7 Gibt es Vorbilder?

8 Ertrage ich mein Spiegelbild?

9 Was passiert mit meinem Körper? Wie gehe ich damit um?

10 Wo sind meine »alten« Freunde und schließe ich noch neue Freundschaften?

Diese Fragen offen und ohne Ausflüchte zu beantworten ist eine Herausforderung. Aber es ist absolut notwendig! Ich habe es nach vielen Ausflüchten getan. Sich Schwächen einzugestehen ist mehr als schwierig. Aber, so habe ich es empfunden, es befreit auch. Vieles wird leichter. Was nicht mehr zu korrigieren ist, muss man abhaken und vergessen. Das Paket der Unzulänglichkeiten zu ordnen, wegzulegen und seinen Frieden mit den jahrelang begütigend betrachteten Fehlern zu machen erleichtert es, den kommenden Ballast der letzten Jahre zu ertragen.

Der Philosoph Wilhelm Schmid meint, dass der Schlüssel zu einer erfolgreichen Bewältigung des Alters in einer gelassenen Haltung liegt. Er empfiehlt, Gelassenheit in kleinen Schritten zu üben. Die Belohnung, so Schmid, sei ein unaufgeregtes, positives Annehmen dieser vierten Lebensphase.

Ich habe zehn Frauen meinen kleinen Fragebogen gegeben. Einige haben sich, angeregt von den Fragen, ihre eigenen Gedanken dazu gemacht.

Christa K. (68), Schneiderin

»Ich habe die Fragen erst einmal zur Seite gelegt. Alt werden und alt sein ist für mich ein schwieriges Thema. Mein Mann hat mich vor einem Jahr verlassen und sich eine Jüngere genommen. Ich war total am Boden. Habe alles und besonders mich selbst nur noch negativ gesehen. Inzwischen geht es mir etwas besser. Ich war in der Vergangenheit viel zu gutgläubig. Habe selten Dinge hinterfragt. Mich immer unterbuttern lassen. Wahrscheinlich war ich einfach zu feige. Vor jedem Nein hatte ich Angst.

Wie ich mir mein Alter vorstelle, damit habe ich mich nie beschäftigt. Mein Spiegelbild ertrage ich schlecht. Nach dem Schock über die Trennung von meinem Mann habe ich mich sehr gehen lassen. Damit ist jetzt Schluss. Ich erwäge sogar, mir die Falten mit Botox glätten zu lassen. Meine Tochter bestärkt mich sogar darin. Das tut mir gut. Vorbilder, wie ich altern möchte, habe ich nicht.«

Margot R. (70) hat eine Modeboutique und steht auch noch täglich in ihrem Laden

»Du lieber Himmel – derartige Fragen habe ich bewusst vermieden. Das Alter gestalten? Gestaltet das Alter nicht uns? Falten, Knochenbrüche, Hüften, die mürbe wurden, Brüste, die hängen, und Oberarme, die wie Chickenwings aussehen, und vieles andere mehr. Altwerden und dann Altsein sind eine ziemliche Herausforderung.

Da ich meine Boutique selbst führe, stelle ich mich jeden Morgen meinem Spiegelbild. Angenehm ist das nicht. Manchmal glaube ich, über Nacht um Jahre gealtert zu sein. Dann wieder, an ›guten Tagen‹, gefalle ich mir. Ich gehe beschwingt in die Boutique. Und, Wunder, oh Wunder, verkaufe und berate, als hätte ich ein Glückshormon entdeckt.

Ich lebe allein und mag es so. Ich war verheiratet, wir harmonierten nicht, ein ekelhafter Scheidungskrieg machte ein freundliches Danach nicht mehr möglich. In den anschließenden Beziehungen sprach ich über Freiheiten, die man sich gegenseitig lassen müsse, und wollte eigentlich nur jemanden, der mich in den Arm nahm und sagte: Ich will nur dich und das für immer!

Ich bin nicht mutig. Mein Spiegelbild ertrage ich kaum. Ich sehe mich anscheinend durch eine völlig andere Brille. Aber ich habe einen Entschluss gefasst: Dieses Davonrennen hört auf. Ich stelle mich – mir und meiner angeborenen Feigheit. Ja – ich habe Angst vor diesen letzten Jahren. Davor, dement zu werden. Hilflos in einem Rollstuhl zu sitzen und nicht mehr am Leben teilnehmen zu können. Meine Kinder leben weit weg von mir. Unser Kontakt ist nicht sehr eng. Wer wird sich um mich kümmern?«

Uschi L. (72), Lehrerin, war aktiv in der feministischen Szene der 60er-Jahre

»Wir haben gekämpft. Waren auf der Straße, egal wie ekelhaft das Wetter war. Abtreibung, Schwulenrechte, Rechte für Frauen, wir kämpften und gewannen einiges. Feminismus war angesagt. Alice Schwarzer, Gloria Steinem, Betty Friedan – das waren unsere Vorbilder. Leider hat uns damals und auch später niemand auf das Alter vorbereitet.

Von einer aufregenden Jugend sind wir in unseren späten Jahren in eine nach allen Seiten gleichgültige Gesellschaft hineingeschlittert. Feministinnen der ersten Stunde sind heute schlecht gelitten. Die jungen Frauen von heute profitieren von den Freiheiten, die wir für sie erstritten hatten. Heutige Vorbilder sind so leere Hülsen und Gesichter wie Heidi Klum oder Verona Pooth. Die gehen nicht auf Barrikaden und proben nicht den Ungehorsam. Sie proben lieber ein verführerisches Lächeln oder einen sexy Hüftschwung.

Wie ich mich fühle in diesem Klima der absoluten Teilnahmslosigkeit? Mies, und ich kann schlecht damit umgehen. Wenn ich in den Spiegel schaue, sehe ich ein müdes, altes Gesicht. Ich habe Kontakte schleifen lassen. Mich nicht gekümmert um Freunde, die ich einmal sehr wichtig fand. Das muss ich ändern. Und ich will es auch ändern. So ganz allein vor sich hin zu leben, ist nicht wirklich erfüllend.«

Frieda O. (72) war Landschaftsarchitektin und hat viele Jahre in Südfrankreich gelebt

»Durch mein ewiges Hin und Her zwischen Frankreich und Deutschland sind viele Freundschaften auf der Strecke geblieben. Ich bemühe mich gerade, die Fäden neu zu knüpfen.

Vor zwei Jahren wurde bei mir Brustkrebs festgestellt. Meine Kinder waren außer sich. ›Wird Mutter daran sterben?‹, war ihre Frage und Sorge. Zwei meiner Mädchen lebten inzwischen mit eigenen Familien in San Franscisco und Los Angeles. Ihre Ehemänner waren Amerikaner. Tochter Solveig lebte mit ihrer lesbischen Freundin in Paris. Mein Exmann, ein Deutscher, lehrte an der Harvard University. Also, alles war zerstreut und vogelwild durcheinandergeraten.

Wir trafen uns bei größeren Festen in meinem Haus in den Bergen über St. Raphael. Das waren in Stein gemeißelte Termine. Für das Jahr, in dem der Krebs bei mir entdeckt wurde, hatten alle Kinder dieses Treffen aus den unterschiedlichsten Gründen abgesagt. ›Wir holen das nach!‹, hieß es in ihren Entschuldigungen. Doch plötzlich war alles unsicher. Ich war krank. In einem Moment der Schwäche und Rührseligkeit habe ich damals einem meiner Mädchen von meinem lebenslangen Traum erzählt: ›Mein größter Wunsch war es immer, mit all meinen Kindern, deren Männern, den Enkelkindern und den engsten Freunden in meinem Haus in Frankreich, um den großen Esstisch zu sitzen und meinen 70. Geburtstag zu feiern.‹

Das ist jetzt zwei Jahre her. Ich hatte gerade meine erste Chemo hinter mir und eine Pause von sechs Wochen war mir gestattet worden. Solveig kam mit ihrer Freundin aus Paris nach Berlin. Sie packten mich in den Flieger nach Nizza und wir fuhren zu meinem Haus in den Bergen. Ich dachte: Wie rührend, sie wollen meinen letzten, den 70. Geburtstag mit mir feiern. Als wir oben ankamen, standen alle Kinder, deren Ehemänner und die Enkel und auch mein Ex und fünf uralte Freunde von mir vor dem Haus. Ich habe nur noch geheult!

Die Töchter kochten, die Männer sorgten für Wein und Champagner und die Enkel fanden, dass Großmutter doch noch zu gebrauchen war. Wir saßen um diesen Esstisch. Drei Tage lang. Ich war glücklich. Mein Traum war in Erfüllung gegangen. Was sollte jetzt noch passieren?

Ich habe den Krebs überstanden. Und die Kinder kommen jetzt jedes Jahr ohne die üblichen Ausreden. Wir feiern zusammen und ich finde mein Leben wunderbar. Alt zu sein kann auch schöne Seiten haben!«

Clara K. (75), Bäuerin, lebt in einem großen Gehöft in der Nähe von Kitzbühel

»So viele Fragen, auf die ich gar nicht antworten kann. Sie betreffen mich nicht. Mein Aussehen war mir noch nie so wichtig gewesen. Ich habe ein Leben lang hart gearbeitet. Große Katastrophen hat es bei uns nie gegeben. Mein Mann, der Georg, hat immer alles mit mir besprochen. Wir haben gemeinsam entschieden, auf welche Schulen unsere fünf Kinder gehen sollten. Das war in den 50er- und 60er-Jahren hier auf dem Land schon sehr modern. Meistens hatten die Frauen nichts zu sagen. Nächstes Jahr wird der Georg 80 Jahre alt. Dann müssen wir einen neuen Knecht einstellen. Er soll nicht mehr so schwer arbeiten. Sein Rücken ist kaputt. Ich selbst kann noch gut schaffen. Ich bin zufrieden, so wie es ist.«

Ingrid O. (66), Krankenschwester

»Mir graut davor, 80 oder noch älter zu werden. Meine Mutter starb mit 76 und war schwer dement. Aber vielleicht hat man ja in ein paar Jahren ein Medikament gegen Alzheimer & Co. gefunden. Ich bin seit fast 40 Jahren in diesem Beruf, das schlaucht. Ein fröhlicher Hüpfer bin ich nicht mehr. Eigentlich bin ich Rentnerin – aber das Geld reicht nicht. Ich arbeite noch drei Tage in der Woche bei einem privaten Pflegedienst. Ich war nie verheiratet. Habe einen unehelichen Sohn, der nur von sich hören lässt, wenn er etwas braucht. Eines habe ich in meinem Leben richtig gemacht: Ich habe meine Freundschaften gepflegt. Das gibt mir Halt. Vorbilder habe ich keine. Trotz meines Berufes bin ich keine Mutter Theresa.«

Gesa V. (78), Professorin für Gesellschaftswissenschaften an der Universität in Genf

»Komischerweise habe ich mich immer jünger gesehen. Mein wahres Alter, das sind für mich nur Zahlen. Nicht mehr! Wahrscheinlich lag es auch an den vielen jungen Leuten, die mich haben jung fühlen lassen. Ich habe auch neben der Uni immer viel mit jungen Menschen zu tun gehabt. Die Diskussionen mit ihnen haben mir Spaß gemacht. Eigene Kinder habe ich nie gewollt. Ich war für meine Nichten und Neffen die perfekte Tante.

In den letzten zehn Jahren aber hat sich einiges auch bei meinen Studenten verändert: Die Jungen werden immer konservativer. Wir Alten immer moderner und wagemutiger. Ängste, die mein Alter angehen, habe ich nicht. Ich bin gesund und sehe auch noch ganz passabel aus. Mein langjähriger Lebensgefährte ist 20 Jahre jünger. Das spornt mich an, mich nicht gehen zu lassen. Ich finde mein Leben optimal.«

Margot D. (67), Galeristin

»Der Fragebogen hat mich deprimiert. Mir sind zum ersten Mal meine vielen Versäumnisse aufgefallen. Ich habe ihn weggelegt. Ob ich ihn später beantworte – ich weiß es nicht!«

Katja Sch. (73), Buchhalterin

»Ein ganzes Jahr lang habe ich mit der Welt und meinem Alter gehadert. Dann kamen die Flüchtlinge. Ich habe mich spontan entschlossen zu helfen. Gemeinsam mit drei Freunden haben wir in einer Garage Kleidung gesammelt und sie einmal im Monat in die diversen Flüchtlingsunterkünfte gebracht. Inzwischen ist Spielzeug für die Kinder dazugekommen. Ich habe keine Zeit mehr, über meine Befindlichkeit nachzudenken. Warum engagieren sich andere Frauen nicht auch? Das vertreibt die Ängste!«

Marianne M. (76), Wirtin einer Gaststätte in Oberaudorf, hat auf meine Bitte nicht geantwortet.

Ist das Alter noch zu retten?!

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