Читать книгу Romanze in Schottland - Karin Firlus - Страница 3
ОглавлениеKapitel 1
Sarah bestieg in Frankfurt die Maschine nach Glasgow mit einem Lächeln auf dem Gesicht.
Sie hatte es geschafft: Das Studium lag hinter ihr, sie hatte sowohl die Übersetzerprüfung in Englisch als auch die in Französisch mit einer Zwei bestanden – angesichts der Tatsache, dass es bei diesen Prüfungen eine Durchfallquote von neunzig Prozent gab, war sie mit diesem Ergebnis sehr zufrieden.
Sie machte seit einigen Jahren Stadtführungen in diesen beiden Sprachen, auch auf Spanisch, was allerdings eher selten vorkam. Ihr Vater war Spanier gewesen, sie war zweisprachig aufgewachsen, und so schien ein Sprachenstudium von klein auf für sie optimal. Wenn sie Glück hatte, erwischte sie eine Gruppe von Touristen, die eine Flusskreuzfahrt auf dem Rhein gebucht hatten und von Mannheim aus einen Tagesausflug nach Heidelberg unternahmen.
Die wenigen Fragen der Menschen bei diesen Touren waren fast immer einfach, keiner versuchte, ihr Wissen zu testen, niemand wollte noch verweilen, wenn die Tour vorbei war. Sie drückten ihr einen Schein in die Hand, es gab von den meisten gutes Trinkgeld. Manche bedankten sich auch bei ihr.
Sarah war meist das ganze Jahr über mit ein bis zwei Führungen pro Woche ausgebucht. Nur im September, wenn sie ihren jährlichen Urlaub irgendwo in England, Frankreich oder Spanien verbracht hatte, war eine Kollegin für sie eingesprungen. Diese Führungen wollte sie jetzt, nach Beendigung ihres Studiums, weiterführen, denn sie brachten ein zwar kleines, aber stetes Einkommen. Sie wollte auf keinen Fall eine Festanstellung als Übersetzerin, aber Literatur zu übersetzen, wozu sie große Lust gehabt hätte, brachte nicht genug Geld ein.
Während sie mitten in den Vorbereitungen für die letzte Prüfung steckte, hatte ein Tourist, der mit seiner Frau eine Privattour gebucht hatte, ihr vorgeschlagen, als freie Übersetzerin für seine Immobilienfirma zu arbeiten. Er verkaufte vor allem Eigentumswohnungen und Häuser in Frankreich. Sarah hatte sofort eingewilligt. Sie würde etwa zwanzig Stunden pro Monat für ihn arbeiten. Zusammen mit den Stadtführungen und den fünfzehn Wochenstunden Unterricht, den sie ab diesem September an einer Sprachenschule hielt, würde sie fürs Erste einigermaßen zurechtkommen. Und wer weiß, wenn er mit ihrer Arbeit zufrieden wäre, würde er sie bestimmt weiterempfehlen.
Ihren Lebensunterhalt und ihr Studium hatte sie größtenteils von der Hinterbliebenenrente finanziert, die sie seit dem plötzlichen Tod ihrer Eltern sieben Jahre zuvor bekam. Diese achthundert Euro hatten ihre Miete und ihr Essen bezahlt. Alles andere bestritt sie durch die Nebenjobs, die sie hatte, und durch gelegentliche Entnahmen auf ihrem Sparbuch.
Sie hatte Glück und einen Sitzplatz in der dritten Reihe ergattert. Sie schnallte sich an und schloss die Augen.
Die Zeit nach dem Unfall ihrer Eltern war hart gewesen. Sarah hatte keine Geschwister, die Großeltern väterlicherseits lebten in Barcelona, also nicht gerade um die Ecke. Sie hatte auch keine enge Verbindung zu ihnen. Die beiden Spanier hatten es ihrem Sohn übel genommen, dass er diese Deutsche geheiratet hatte und mit ihr in ihr Heimatland gegangen war. Hätte er nicht in Barcelona bleiben und mit seiner Frau in ihrer Nähe leben können?
Die Großeltern mütterlicherseits lebten dort, wo ihre Mutter geboren worden war, bei Köln. Auf sie konnte Sarah auch nicht bauen. Sie waren beim Tod ihrer 49jährigen Tochter bereits Ende siebzig. Sie kamen zur Trauerfeier mit dem Zug nach Mannheim gefahren, zwei alte, von Kummer gebeugte Menschen, die gern ihr Leben für das ihrer Tochter und ihres Schwiegersohnes gegeben hätten. Den Verlust ihres einzigen Kindes hatten sie nicht lange überlebt. Innerhalb eines Jahres waren auch sie gestorben.
Sarah war in dem Sommer vor dem Unfall achtzehn geworden und das letzte Schuljahr vor dem Abitur hatte vier Wochen zuvor begonnen. Sie konnte einfach nicht begreifen, dass ihre Eltern vor der Steilküste der kleinen griechischen Insel Lefkada in einem Sturm gekentert und mitsamt Segelboot untergegangen waren. Irgendwo im östlichen Mittelmeer waren ihre Körper von aufgewühlten Wassermassen nach unten gezogen worden.
Gab es in dieser Gegend Haie? Von der Sorte, die Menschen fraßen? „Nein“, sagte ihr Vertrauenslehrer, „da gibt es nur kleine Haie, die Pflanzenfresser sind.“ Aber die Vorstellung, dass sie elend erstickt waren, machte die Sache auch nicht besser.
Sarah lag nachts im Bett und hielt die Luft an, bis sie den Druck nicht mehr aushalten konnte. Dann öffnete sie weit den Mund und atmete tief ein. Tränen liefen ihr über die Wangen bei der Vorstellung, dass sie anstatt Luft Wasser einatmen würde.
Eine Woche später wurden die Leichen bei Lefkada angespült. Ihre Großeltern aus Barcelona nahmen ihr die Identifizierung der Leichen ab; Sarah hätte das nicht gekonnt.
Sie brauchte drei Wochen, bis sie die Kraft hatte, in das Schlafzimmer ihrer Eltern zu gehen. Der ihnen eigene Geruch hing in den Vorhängen, in der Bettwäsche. Die Decken waren hastig zurückgeschlagen, die Schlafanzüge unordentlich hingeworfen, weil sie nachts hatten aus den Federn kriechen und zum Flughafen fahren müssen. Ihr Flug war um sieben Uhr morgens gestartet. Sarah hatte sich abends zuvor, nicht ahnend, dass sie ihre Eltern nie wiedersehen würde, von ihnen verabschiedet.
Über dem Stuhl neben dem Bett ihrer Mutter hing noch das blaue Seidenkleid mit den hellblauen Streifen, das sie in letzter Minute wieder ausgepackt hatte.
„Wenn wir segeln, brauchst du nur Shorts und Shirts!“, hatte ihr Vater gesagt.
„Aber wenn wir abends irgendwo anlegen und schön essen gehen, will ich mich hübsch anziehen“, hatte ihre Mutter trotzig erwidert.
„Dann nimm einen Rock und zwei Tops mit, das reicht völlig. Wir haben auf dem Boot nicht viel Platz.“
Also war das feine Kleid praktischen Überlegungen zum Opfer gefallen.
In ihrem Bad lagen die benutzten Duschtücher über dem Rand der Wanne. Der Spiegelschrank über dem Waschbecken war offen, die kleine Schale, in der ihre Mutter ihre Schminksachen aufbewahrte, stand auf dem Beckenrand. Nur der rote Lippenstift fehlte.
Es wirkte alles so, als kämen sie gleich zurück, seien nur für kurze Zeit weggewesen, um danach ihr gewohntes Leben wieder aufzunehmen. Eine Flasche Olivenöl im Gepäck, braun gebrannt, entspannt und überquellend von schönen Erinnerungen an die herrliche Landschaft, die Küsten, die Strände; begierig, die Bilder zu bearbeiten und dann ein weiteres Fotobuch anzulegen.
Sarah stand so unter Schock, dass ihre Eltern von einem Tag auf den anderen nicht mehr da waren, sie sie nicht mehr sehen, nicht in den Arm nehmen, mit ihnen reden und streiten, sie nichts fragen konnte, dass sie psychologische Betreuung brauchte.
Sie war quasi allein auf der Welt. Sie war nicht mehr fähig, ihr ganz normales Leben zu führen, in den Unterricht zu gehen und sich auf das bevorstehende Abitur vorzubereiten, so, als sei nichts geschehen.
Der Hausarzt ihrer Mutter verordnete ihr eine Kur, die nicht viel half. Man konnte nicht innerhalb von drei Wochen solch einen plötzlichen Verlust verarbeiten und danach da weitermachen, wo man aufgehört hatte. Sie ging zwar wieder zur Schule, aber sie konnte sich nicht konzentrieren, ihre Gedanken schweiften ständig ab.
Ihre Eltern hatten Jahre zuvor schon eine Lebensversicherung abgeschlossen. Zum Glück für Sarah konnten Totenscheine ausgestellt werden, da die Leichen aufgetaucht waren. Und so zahlte die Versicherung, so dass Sarah überhaupt Geld zum Leben hatte.
Kurz vor Weihnachten erzählte ihr eine Mitschülerin, dass eine Studenten-WG ein freies Zimmer hatte. Die ältere Schwester ihrer Freundin wohnte auch dort. Da kam sie unter. Das Haus ihrer Eltern bot sie zum Verkauf an. Der Vater ihrer Freundin Tanja wollte sich darum kümmern. Er arbeitete in der Immobilienabteilung einer Bank und nahm sich dieser Sache an. Sarah war dankbar darum.
Das erste Weihnachtsfest ohne ihre Eltern verbrachte sie bei Tanja und deren Familie. Sie überstand diese Tage irgendwie, wenigstens war sie nicht allein.
Aber sobald im Februar die Vorbereitung für das schriftliche Abitur anstand, bekam Sarah Angstzustände und konnte nicht mehr aus dem Haus gehen. Ihr Arzt wies sie in die geschlossene Psychiatrie ein, wo sie einige Monate bleiben musste.
Allerdings hatte sie Glück; sie hatte einen guten Mediziner erwischt, der sie nicht vollpumpte mit Psychopharmaka, sondern mittels Gesprächen, Workshops und täglichen Sportübungen ermöglichte, dass Sarah nach und nach endlich ihre Trauer verarbeiten konnte. Als sie entlassen wurde, war es Ende Mai und das Abitur ihres Jahrgangs fast vorbei. Sie würde die Dreizehnte wiederholen müssen.
In diesem Sommer machte sie ihre Ausbildung zur Stadtführerin und im Herbst, als die Schule wieder anfing, begleitete sie am Wochenende Touristen auf ihren Gängen durch Heidelberg. Im Oktober hatte der Vater von Tanja endlich Käufer für das Haus gefunden.
Zu dieser Zeit herrschte ein sogenannter Käufermarkt. Die Menschen wollten ein Eigenheim besitzen, doch sie wollten möglichst wenig dafür bezahlen. Bis die Schulden beglichen waren, blieb Sarah nicht allzu viel übrig. Aber zusammen mit der Lebensversicherung konnte sie etwas mehr als einhundertfünfzigtausend Euro ihr Eigen nennen – eine solide Basis für ihr Studium und die ersten Berufsjahre.
Bevor die neuen Besitzer ihr Haus entgegenahmen, musste Sarah es räumen. Sie hatte die Möbel aus ihrem Zimmer ein knappes Jahr zuvor, als sie in die WG gezogen war, mitgenommen. Auch den Fernsehapparat und einige Gebrauchsgegenstände aus der Küche, Handtücher und Bettwäsche hatte sie gut gebrauchen können. Den Keller hatte sie, zusammen mit einigen Mitschülern, in den Sommerferien ausgeräumt, die Wohnzimmermöbel von einem Sozialkaufhaus abholen lassen.
Aber im Schlafzimmer ihrer Eltern sah es noch genauso aus wie ein Jahr zuvor, als sie in den Urlaub aufgebrochen waren, aus dem sie nie wieder zurückkehren sollten. Sarah hatte das Gefühl, wenn sie ihre Kleidung aussortierte und weggab, waren ihre Eltern endgültig tot.
Aber es half nichts, jetzt musste es sein. Sie hatte Hilfe von ihrer Freundin Tanja, die pragmatisch zuerst Unterwäsche und Schuhe in einem blauen Müllsack verschwinden ließ. Sarah machte sich an die Kleidung ihres Vaters. Seinen Lieblingspullover, dunkelbraun, mit Flusen vom häufigen Tragen, am Bund ausgeleiert, und die Hausschuhe von beiden packte sie in eine Einkaufstüte. Auch das blaue Seidenkleid ihrer Mutter legte sie dort hinein. In der WG stellte sie sie später in die Ecke neben ihrem Bett. Sie würde sie immer aufbewahren. Einen letzten Rest Lebendigsein ihrer Eltern musste sie haben.
Als zwei große Mülltüten randvoll waren, fuhr Tanja damit zum Container drei Straßen weiter. Sarah wandte sich dem Teil des Schrankes zu, in dem die Kleidung ihrer Mutter hing. Als eine beige Seidenbluse vom Bügel rutschte, bückte Sarah sich und hob sie auf. Unter der Bluse lag etwas Hartes. Sie zog es hervor und hielt das dunkelrote Schmuckkästchen ihrer Tante in der Hand. Nach deren Tod hatte sie Sarahs Mutter ihren Schmuck und einiges an Bargeld vererbt, da sie selbst keine Kinder gehabt hatte.
Sarah setzte sich aufs Bett und öffnete die rote Lederschatulle. Zuoberst war ein niedriges Fach, in dem eine Bernsteinkette lag. Daneben steckten zwei Ringe: einer mit einem Amethysten und ein Perlenring, beide in Gold gefasst. Darunter in den beiden Fächern lagen diverse Armreifen, Ohrringe und weitere Ketten.
Es waren Schmuckstücke, die ihrer Tante wahrscheinlich wichtig gewesen waren. Aber ihre Mutter hatte keines davon getragen, sie hatte einen völlig anderen Geschmack gehabt. Sarah vermutete, dass sie die Schatulle bekommen und so, wie sie war, unten auf den Schrankboden gestellt hatte.
Sie zog eine Korallenkette aus dem unteren Fach heraus, die sie ganz hübsch fand. Dabei verhakte sich eines der unebenen Glieder und die Kette blieb stecken. Sarah fasste sie vorsichtig, damit sie nicht kaputtging, mit beiden Händen und ließ dabei den Schmuckkasten los. Ehe sie reagieren konnte, rutschte er über ihre Knie und fiel zu Boden, natürlich mit der Oberseite zuunterst.
Sarah bückte sich und hob sie auf. Dabei fielen die Fächer heraus, Ketten verhakten sich in Ohrringen, Ringe purzelten über das Parkett im Schlafzimmer und unter dem letzten Fach fielen Geldscheine heraus.
Sarah starrte sie an, dann hob sie sie auf: Es waren zwanzig Scheine zu je hundert Pfund. Sie nahm sie und steckte sie spontan in die obere Schublade des Nachttisches, weil sie hörte, wie Tanja unten die Haustür aufschloss. Ohne weiter darüber nachzudenken, wollte sie nicht, dass ihre Freundin von dem Geld erfuhr.
Sie bat Tanja, die Schuhe ihrer Mutter auch zu entsorgen, während sie die Kleidung aussortierte. Leider hatte sie Schuhgröße 39 gehabt und Kleidergröße 42. Sarah hatte eine Schuhgröße weniger und trug Größe 38. Dennoch schlüpfte sie in die hellbraune Jacke aus weichem Nappaleder hinein, die ihre Mutter vier Jahre zuvor auf einem Trödelmarkt in Lloret de Mar für wenig Geld erstanden hatte. Die Jacke war relativ eng geschnitten und ihre Mutter hatte sie nicht schließen können.
Tanja zuckte die Schultern. „Wenn du eine Bluse und darüber noch einen warmen Pulli trägst, dann passt sie dir.“
Sarah war erleichtert. Sie hob den Kragen an ihre Nase und schnüffelte. Das Parfüm ihrer Mutter war immer noch leicht auszumachen. Sie legte die Jacke zu den wenigen Dingen, die sie behalten wollte. Dann wandte sie sich wieder dem Kleiderschrank zu.
Plötzlich stutzte sie. In der linken Ecke, hinter einem marineblauen Blazer versteckt, hing ein langes schwarzes Kleid. Sarah nahm es heraus und hörte hinter sich Tanjas „Woah!“
Es war ein schlichtes Abendkleid, eng geschnitten, die Spaghettiträger waren Strass-Steine. Und es war definitiv nicht Größe 42. Darüber hing ein schwarzes kurzes Jäckchen, dessen einer Knopf oben auch aus kleinen Strass-Steinen bestand.
„Das passt dir! Probier’s doch mal an.“ Tanja beäugte das Kleid neidisch. „Sowas Schönes hätte ich auch gerne mal. Und vor allem die Figur, es tragen zu können.“ Ihre Freundin war eher etwas füllig und kämpfte ständig mit irgendwelchen Diäten gegen ihr Übergewicht.
Sarah zog Shirt und Jeans aus und den weichen Stoff über den Kopf – das Kleid passte wie angegossen. „Das muss Mama bei ihrem Abschlussball vom Tanzkurs getragen haben. Ich meine, ich hätte mal ein Foto davon gesehen.“ Sie betrachtete sich im Spiegel des Kleiderschrankes.
„Toll siehst du aus!“ Tanja strahlte. „Und jetzt zieh noch das Bolero drüber.“ Sie reichte es Sarah. Auch das passte und der Strassknopf funkelte im Nachmittagslicht.
„Das sieht wirklich schön aus, aber zu welcher Gelegenheit soll ich so etwas Feines denn tragen?“ Sarah drehte sich vor dem Spiegel hin und her.
„Wart’s ab. Irgendwann wirst du vielleicht dankbar sein, dass du es hast.“
Nach dem Hausverkauf konzentrierte sie sich auf ihr Abitur, büffelte und schloss ihre Schulausbildung mit 1,3 ab. Ihre Eltern wären stolz auf sie gewesen.
Bei der offiziellen Abiturfeier kam dieser Augenblick, wo die Eltern der anderen Schüler stolz die Zeugnisse ihrer Sprösslinge begutachteten, während Sarah bei der Familie ihrer Freundin stand. Was hätte sie darum gegeben, das glückliche Strahlen ihrer Mutter und den Stolz im Gesicht ihres Vaters zu sehen! Sobald sie ihr Zeugnis entgegengenommen hatte, fuhr sie in die WG zurück, vergrub sich unter ihrer Bettdecke und gab sich einem ausgewachsenen Heulkrampf hin.
Am nächsten Morgen beschloss sie, dass es so nicht weitergehen konnte. Sie hatte keine Pläne wegzufahren, aber bis zum Studienanfang im Oktober musste sie irgendwie die drei vor ihr liegenden Monate überstehen. In dieser ganzen Zeit arbeiten wollte sie nicht, sie brauchte eine Pause von allem.
Ein längerer Auslandsaufenthalt steckte ihr in der Nase – nur wo? Alleine wegzufahren stellte sie sich nicht besonders amüsant vor. Und Tanja ging mit ihrem Freund auf Tour.
Sie fuhr in die Leihbücherei und gab die drei Wälzer zurück, die ihr bei der Vorbereitung aufs mündliche Abitur geholfen hatten. Danach streifte sie durch die Gänge und besah sich hie und da Romane und Biografien, fand aber nichts, was sie gereizt hätte. Sie ging gerade am Empfang vorbei, als eine Frau ein Buch zurückgab: Ich bin dann mal weg.
Sarah hatte von dem Buch gehört, es aber bisher nicht gelesen. Jetzt zog sie etwas Magisches zu ihm hin. Sie nahm es in die Hand, las den Klappentext und sagte: „Ich möchte das Buch leihen.“
In der WG kochte sie sich eine Kanne Tee und schälte sich ein paar Karotten. Dann kuschelte sie sich in ihren Lesesessel und tauchte ab. Als sie wieder auftauchte, war es drei Uhr morgens. Sie hatte das gesamte Buch gelesen und beschlossen, dass auch sie diesen Pilgerweg nach Santiago de Compostela gehen wollte. Es musste etwas Außergewöhnliches her, etwas, das sie aus dem bisherigen Einerlei herausreißen würde.
Und wer weiß, dachte sie, vielleicht habe auch ich das Glück und erfahre irgendetwas Spirituelles auf dem Weg. Wenn nicht, habe ich meinem Körper etwas Gutes getan, mein Spanisch aufgefrischt und bestimmt einige interessante Menschen kennengelernt.
Sarah öffnete die Augen, sah auf ihre Uhr und stellte fest, dass sie bereits eine Viertelstunde später in Glasgow landen würde. Sie war unterwegs zu einem dieser interessanten Menschen: Erin, die sie auf dem „Camino“ bei Inca getroffen hatte.
Die Schottin hatte sie drei Jahre zuvor in Heidelberg besucht und seither bekniete sie Sarah, doch zu ihr nach Schottland zu kommen. „Ich vermiete in Dingwall, wo ich lebe, einige Cottages. Ich mache dir als meine Jakobswegschwester einen guten Preis, und du kannst solange dort bleiben, wie du willst.“
Aber Sarah hatte bisher nicht die Ruhe gehabt, dieser Einladung zu folgen. Studieren und nebenher arbeiten war recht zeitintensiv gewesen. Doch jetzt, bevor sie ihr Berufsleben anging, wollte sie vier Wochen in diesem Schottland verbringen, von dem Bekannte ihr gesagt hatten, dass „wenn du einmal dort warst, dich die Sehnsucht packt und du immer wieder hin willst bzw. gar nicht mehr von dort weg“.
Von Glasgow aus würde sie den Zug in den Norden nehmen, bis Inverness, wo Erin sie abholen wollte. Sarah streckte sich. Sie war gespannt, was sie erwartete, und sie freute sich, endlich die Frau wieder zu sehen, mit der sie sich auf Anhieb so gut verstanden hatte.