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Kapitel 2

Ella lehnte sich zurück, schloss die Augen und lockerte die verspannten Schultern, so gut es auf die Schnelle ging. Für heute hatte sie wahrlich genug geschrieben. Außerdem musste sie dringend eine Maschine Wäsche waschen, sie hatte kaum noch Shirts und Blusen zum Anziehen. Ihre Bügelwäsche wartete auch geduldig darauf, dass irgendjemand sich ihrer erbarmte, und die Unterlagen vom ganzen letzten Jahr musste sie auch dringend einsortieren.

Ella hasste diese Augenblicke, wenn sie wusste, dass sie sich von ihrem Schreiben lösen, von ihren erdachten Charakteren abwenden musste, um ihre Pflichten zu erledigen. Die Personen in ihren Romanen waren für sie so real wie für andere liebe Bekannte oder Freunde. Sie lebte mit ihnen und in ihren Gedanken. Sie waren ihr vertrauter als manch anderer, den sie schon ihr Leben lang kannte. Sie hätte gern gleich weitergeschrieben und erzählt, wie das erste Wiedersehen von Sarah und Erin verlaufen würde.

Und es floss gerade so gut. Nach dem Anruf vom heutigen Vormittag waren ihr Flügel gewachsen. Sie hatte schon länger wieder einen Schottlandroman schreiben wollen. Jetzt war es endlich soweit, und sie hätte sich am liebsten eingeigelt und sich nur noch ihrer Geschichte gewidmet.

Als sie zum Anfang des Kapitels zurückscrollte, um wenigstens ein erstes Mal das Geschriebene zu überarbeiten, hörte sie, wie die Wohnungstür geöffnet wurde. Ein überraschter Blick zur Uhr zeigte ihr, dass es fast sechs war. Wo war denn die Zeit hingekommen? Sie hatte doch vor kurzem, als sie sich einen Kaffee gemacht hatte, noch auf die Uhr gesehen. Da war es vier.

Rasch speicherte sie die Datei ab und klappte ihren Laptop zu, als auch schon ihr Mann ins Arbeitszimmer kam.

„Ach, DA bist du! Ich dachte, das Essen sei so gut wie fertig.“

Innerlich total genervt, weil sie weiterschreiben anstatt kochen wollte, sagte sie: „Ich lege gleich los, aber ich musste zuerst noch dieses Kapitel beenden.“

Während sie an ihm vorbei zur Tür ging, murmelte er: „Pseudoarbeit.“

Sie drehte sich um. „Wie bitte?“ Ihr Blick war streng.

„Naja, ich mein ja nur, du solltest besser etwas Sinnvolles mit deiner Zeit anfangen, als diesen Mist da zu schreiben, den eh keiner lesen will.“

Sie ging in die Küche, holte den Eisbergsalat aus dem Kühlschrank und attackierte die harten Blätter verbissen mit einem scharfen Messer. „Erstens schreibe ich keinen Mist, sondern romantische Geschichten, die vielen Leuten gefallen. Und zweitens hat mich heute Morgen meine Literaturagentin angerufen, um mir zu sagen, dass ein mittelgroßer Verlag meinen dritten Roman angenommen hat. Ich werde zwar einiges ändern müssen, aber das ist doch eine gute Nachricht, oder?“

Klaus hatte sich ein Bier aus dem Kühlschrank geholt, dann war er damit zum Sofa geschlurft, hatte es sich liegend bequem gemacht und den Fernsehapparat, der den ganzen Tag lang ohne ihn hatte auskommen müssen, zum Leben erweckt. Eine schlanke, junge Moderatorin mit dem ewig gleichen gekünstelten Lächeln kündigte den neuesten Klatsch von B- und C-Promis an, während Klaus den Videotext aktivierte. „Mm“ brummte er nur. Und Ella wusste, dass er ihr mal wieder nicht zugehört hatte. So wie fast immer.

Sie legte das Schneidemesser zur Seite, ging zur Couch und pflanzte sich neben ihm auf. „Und was soll ich stattdessen Sinnvolles tun? Mich durch den Videotext lesen, die Nachrichten und danach irgendeinen Krimi oder eine Sportsendung anschauen, bei der ich dann einpenne und laut schnarche?“

„Mein Gott, ist ja schon gut!“ ereiferte sich ihr Göttergatte. „Da kommt man müde gearbeitet nach Hause, hat Hunger und will etwas Leckeres essen, bevor man sich ein bisschen entspannt. Stattdessen wird man angepflaumt!“

„Damit hast ja wohl du angefangen!“ verteidigte sich Ella, während sie in die Küche zurückging, um den Salat zu waschen.

„Ach, lass mich doch in Ruhe! Du bist heute wohl mit dem falschen Fuß aufgestanden. Weiber!“

Ella stand vor dem Spülbecken und presste die Lippen zusammen. So lief es in letzter Zeit meist zwischen ihnen. Kaum war Klaus zuhause, gab es irgendeinen Grund zum Streiten. So war das früher nie gewesen. Sie hatten eine gute Ehe geführt, hatten Respekt voreinander gehabt und sich geliebt. Wann hatte sich das geändert?

Sie füllte den großen Topf mit Wasser, gab etwas Olivenöl und Salz hinein, dann stellte sie die Herdplatte auf Stufe 12. Im Vorratsschrank holte sie drei Dosen mit stückigen Tomaten, schnitt zwei große Zwiebeln in Würfel, hackte zwei Zehen Knoblauch, den rohen Schinken schnitt sie in dünne Streifen und die Oliven halbierte sie. Dann gab sie Olivenöl in die Pfanne, erhitzte sie, holte die Linguine aus dem Schrank und begann, den Parmesankäse oder das, was man als Parmesan hierzulande verkaufte, zu hobeln.

Sie hatten sich einmal geliebt, aber das war lange her. Seit über zwei Jahren hatte Klaus sie nicht mehr angerührt. Okay, sie hatte einiges an Gewicht zugelegt in den letzten Jahren. Dann kam noch diese OP am rechten Sprunggelenk. Nach der Physiotherapie hatte sie es versäumt, wieder ihre Joggingrunden zu drehen, die sie schon in den Jahren zuvor meist vernachlässigt hatte. Es hatte geschmerzt, sobald sie es versuchte. Und einfach so spazieren gehen brachte ihr keine Freude. Sie gehörte nicht zu den Frauen, die im Februar die ersten Schneeglöckchen am Wegesrand entdeckten und darüber in Freudentränen ausbrachen.

Also hatten sich über die Jahre einige unerwünschte Fettpolster an ihren Hüften breitgemacht. Und sie hatten sich dort offensichtlich so wohl gefühlt, dass sie ihre Kameraden riefen, die dann die Oberschenkel, den Bauch und den Hintern besetzten. Ihre Brüste hatten daraufhin den jahrelangen Kampf, mehr oder minder stehen zu sollen, endgültig aufgegeben und sich gesetzt. Oder eher gesenkt.

Sie holte die große Salatschüssel und bereitete eine Vinaigrette zu, in die sie Kräuter, Käsewürfel und Mandarinenstücke gab.

Aber Klaus’ Bauch war auch nicht waschbrettmäßig. Im Gegenteil. Er hätte locker im neunten Monat sein können. Anstatt wie früher zweimal die Woche Tischtennisspielen zu gehen, hatte er es sich nach und nach auf der heimischen Couch bequem gemacht und Sport nur aus zweiter Hand, nämlich als Zuschauer, genossen.

Mit der Zeit war er immer träger und dicker geworden. Seine Freizeitgestaltung rotierte um das endlose Fernsehprogramm, und er hatte zu nichts anderem mehr Lust. Anfangs hatte sie gedacht, die Abstände, in denen wir Sex haben, werden eben größer. Das ist wohl so, wenn man älter wird. Aber nach ein paar Wochen, in denen Klaus immer öfter abends später ins Bett ging als sie und an den Wochenenden länger schlief, wurde sie ungeduldig.

Sie blieb an den Sonntagen nach dem Aufwachen extra im Bett, bis er allmählich wach wurde. Dann robbte sie zu ihm hinüber und kuschelte sich an ihn. Sie war mit den Händen seinen Oberkörper entlang gefahren, ein anderes Mal hatte sie ihn am Rücken gekrault. Das hatte ihn früher immer auf Touren gebracht. Und meist dauerte es nicht lange, bis er sich ihr zuwandte und sie Sex hatten.

Doch diese Zeiten waren jetzt wohl vorbei. Ein einziges Mal hatte er sich danach brummend zu ihr rüber gedreht, für ein paar Sekunden lustlos an einer Brustwarze herumgespielt und war dann über sie gestiegen und in sie eingedrungen. Nach kurzer Zeit, in der sie sich fragte, ob sie so tun solle, als gefiele ihr das Hin- und Hergeschiebe, obwohl sie nicht das leiseste Lustgefühl empfand, hatte er aufgekeucht, war von ihr heruntergerutscht, hatte auf seine Uhr auf dem Nachttisch gesehen und ausgerufen: „Oh Gott, jetzt hab ich den Anfang vom Autorennen verpasst!“ Danach war er sofort ins Bad geeilt, hatte sich notdürftig sein Teil gewaschen und war im Schlafanzug nach unten zu seinem geliebten Fernsehapparat gehastet.

Ella lag unbefriedigt im Bett und musste an die Bemerkung einer früheren Kollegin denken, die an ihrem Stammtisch letztens gesagt hatte: „Wenn du als Frau guten Sex haben willst, benutzt du am besten deine beiden gesunden Hände!“

Nein, sagte Ella sich, auf diese Art von Quickie konnte sie locker verzichten. Und das musste sie seitdem auch. Als sie Klaus in ihrem Italienurlaub in einer romantischen Vollmondnacht einmal darauf angesprochen hatte, wieso sie keinen Sex mehr hatten, hatte er gemeint, ihm sei nicht mehr danach. Jegliche weiterführende Diskussion hatte er abgeblockt, sie hätten ja früher oft genug miteinander geschlafen.

Früher, ja, da hatten sie guten Sex gehabt. Und wieso hatte er jetzt, mit gerade mal fünfundfünfzig Jahren, keine Lust mehr dazu? War das normal? Ella wusste es nicht. Aber sie vermisste es. Sie sehnte sich danach, wieder richtig erobert und begehrt zu werden.

Während das Nudelwasser überkochte, stellte sie sich vor, dass einer ihrer Romanhelden lebendig wäre und er sie mit diesem bestimmten Blick ansehen würde - diesem Blick aus „Ich-will-dich-und-zwar-hier-und-jetzt“, der ihr bei dem Gedanken allein weiche Knie bescherte. Sie wischte die kochende Brühe von der Herdplatte und gab die Linguine ins sprudelnde Wasser, während ihr heißer Lover aus ihrem Tagtraum sie stürmisch an sich zog und ihre Lippen küsste, bevor sein Mund ihren Hals hinunter wanderte.

Unwillkürlich stieß sie einen Seufzer aus. Vielleicht waren es ihre erotischen Träume, die nicht normal waren. Und sie konnte nun wirklich nicht erwarten, dass ihr seit über zwanzig Jahren angetrauter Ehemann sie noch begehrte. Er war schon immer sehr bodenständig gewesen und hatte jegliches romantische Gefühl, das er vielleicht irgendwann gehabt hatte, in dem Moment abgeschüttelt, in dem sie ihre gemeinsame Wohnung zum ersten Mal als Mann und Frau betreten hatten. Einer, der zu sehr ein Kerl war, um Blumen für sie zu kaufen, mit ihr tanzen zu gehen oder sie zu einem gemütlichen Abendessen bei Kerzenschein einzuladen. Geschweige denn, sie in den Arm zu nehmen und ihr zu sagen, dass er sie liebte. Lächerlicher Blödsinn!

Dennoch sehnte sie sich nach Zärtlichkeit und gelebtem Sex, das war nun einmal so. Und dass sie darauf für den Rest ihres Lebens verzichten sollte, tat einfach weh.

Darüber reden konnte sie mit niemandem. So etwas Intimes vertraute man nicht seiner über achtzigjährigen Mutter an. Und ihren Freundinnen auch nicht, das wäre ihr peinlich gewesen. Es half nichts, sie musste ihre romantischen Wunschträume den wehrlosen Seiten in ihren Romanen anvertrauen und sie quasi aus zweiter Hand leben.

Dass Klaus ihre Sehnsüchte je erfahren würde, war höchst unwahrscheinlich. Er hatte, sehr zum Verdruss ihrer besten Freundin, noch keine einzige Zeile von den drei Romanen, die sie bis jetzt geschrieben hatte, gelesen.

Während die Zwiebel-Schinken-Oliven-Tomatensauce vor sich hin blubberte und die Linguine dem Al-Dente-Zeitpunkt entgegensimmerten, nahm Ella sich das Fernsehprogramm vor.

Oh, dachte sie, die -zigste Wiederholung von Pretty Woman läuft um viertel nach acht. Die könnte ich mir mal wieder anschauen. Dabei kann man so schön träumen. Ich bin zwar kein Richard-Gere-Fan, aber he, von der Bettkante stoßen würde ich ihn nicht.

Romanze in Schottland

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