Читать книгу Romanze in Schottland - Karin Firlus - Страница 6
ОглавлениеKapitel 4
Ella hatte endlich die Kurve gekriegt und sich ihrer Bügelwäsche angenommen. Verbissen schob sie das Eisen über das schwarze Herrenhemd, das Klaus am nächsten Abend anziehen wollte.
Er arbeitete als Filialleiter eines großen Drogeriemarktes und am nächsten Abend würde ein neuer Markt in Seckenheim eröffnet werden. Man erwartete von ihm, dass er dort erschien.
Ella fragte sich, ob ihm sein dunkelgrauer Anzug nicht zu eng war. Er hatte ihn seit Jahren nicht mehr getragen und sie war sich ziemlich sicher, dass er den Blazer nicht würde schließen können, die Hose erst recht nicht. Als sie ihm zwei Wochen zuvor vorgeschlagen hatte, beides vorsichtshalber anzuprobieren, hatte er abgewunken. „Das passt schon.“
„Wenn nicht, hast du ein Problem. Jetzt hättest du noch Zeit, dir einen neuen Anzug zu kaufen und vor allem die Hosenbeine kürzen zu lassen.“
„Du immer mit deiner Besserwisserei!“
Ella hatte zunächst vernünftig mit ihm reden wollen, aber dann sagte sie sich: Bin ich seine Mutter? Nö. Alt genug ist er auch, soll er sehen, wie er mit der Situation zurechtkommt.
Sie bügelte vorsichtig den Kragen und überlegte sich, wie es nach der Szene im Pub weitergehen würde mit Sarah. Sie könnte sich zusammen mit Erin einige Sehenswürdigkeiten in Dingwall ansehen. Dazu muss ich einiges recherchieren, dachte sie. Aber zum Glück konnte man heutzutage relativ schnell und unproblematisch im Internet fast alles nachlesen. Wikipedia war immer eine gute Möglichkeit, sich zu informieren. Und bei Google Earth konnte sie sich alles genau ansehen.
Sobald sie das Nötigste gebügelt hatte, kochte sie sich einen Kaffee, nahm ihn mit in ihr Arbeitszimmer und informierte sich über den alten Ort im Norden Schottlands. In der folgenden Stunde scrollte sie durch die diversen Informationen, schrieb sich einiges heraus und wollte gerade an ihrem Roman, den sie Schottische Romanze genannt hatte, weiterschreiben, als das Telefon klingelte.
„Mist, verfluchter!“ Wer riss sie denn jetzt aus ihrer Konzentration?
Ihre Mutter. „Hallo, ich wollte nur mal fragen, wie’s dir geht.“
„Mir geht’s gut, Mama. Und dir?“
„Naja …“ Stille am anderen Ende. Und Ella wusste, was als nächstes käme. „Ich bin halt so allein. Immer sitze ich den ganzen Tag nur herum. Und mir ist langweilig.“
„Mama, ich kann heute nicht schon wieder kommen.“
„Du warst ja schon eeewig nicht mehr bei mir!“
Ella sah auf die Uhr. „Es ist etwas mehr als zwanzig Stunden her, seit ich bei dir war. Erinnerst du dich – gestern war ich für dich einkaufen, habe deinen Müll rausgebracht, dir die Tabletten für die kommende Woche gerichtet und die gewaschene Wäsche mitgebracht.“
„Ach so, ja, hab ich vergessen. Wann kommst du?“
„Mama, heute nicht, ich muss auch mal meine Arbeit erledigen.“
Ella brauchte nur zehn Minuten mit dem Auto bis zur Wohnung ihrer Mutter. Sie war 84 und baute in letzter Zeit geistig ab. Sie vergaß vieles, konnte nicht mehr so gut sehen wie früher, und wenn sie las, musste sie nach knapp einer Stunde aufhören, weil ihre Augen tränten oder juckten. Dann saß sie in ihrem Sessel und langweilte sich. Nachmittags schaute sie zwei Soaps nacheinander, dann löste sie Rätsel. Aber nach fünf Uhr kam noch nichts im Fernsehen, was sie interessierte, also rief sie dann meist bei Ella an, wenn die nicht gerade bei ihr war, was jeden zweiten Tag der Fall war.
Für die alte Frau waren die Besuche ihrer Tochter nicht lang und nicht häufig genug. Für Ella waren sie Stress pur. Ihre Mutter hatte zwar eine Putzfrau, die alle zwei Wochen saubermachte und jedes zweite Mal ihr Bett frisch bezog, aber den ganzen Rest, einschließlich Arzttermine und den gesamten anfallenden Schriftverkehr, erledigte Ella. Sie tat es vom Prinzip her gern, aber in letzter Zeit wurde ihr dieses ständige Zur-Verfügung-Stehen und Präsent-sein-müssen manchmal zu viel.
Außerdem fand sie es nicht in Ordnung, dass ihr Bruder sich aus der Betreuung ihrer Mutter komplett heraushielt. Er ging zwar arbeiten, und Ella hatte vollstes Verständnis dafür, dass er unter der Woche keine Zeit hatte. Aber am Wochenende hätte er durchaus an einem Tag seine Mutter besuchen können, und Ella hätte somit nicht die ganze Verantwortung für ihr Wohlergehen allein tragen müssen.
Hans besuchte seine Mutter, wenn überhaupt, höchstens einmal im Monat. Dann kam er sonntags am Nachmittag für eine knappe Stunde vorbei, aß den Kuchen, den Ella gebacken oder gekauft, und trank den Kaffee, den seine Mutter gekocht hatte. Er erzählte von seinem Alltag, dann sah er gehetzt auf die Uhr, sagte, er müsse dringend noch einiges erledigen, und weg war er. Dennoch ließ die alte Dame nichts auf ihren Sohn kommen.
Es hätte vom Prinzip her eine Lösung für das Problem der Langeweile gegeben, aber ihre Mutter wollte davon nichts wissen. Ella beschloss spontan, sie zu überrumpeln.
„Weißt du was, Mama, morgen komme ich schon um neun zu dir und dann machen wir einen kleinen Ausflug.“
Ihre Mutter konnte zwar kaum noch gehen, und das auch nur langsam und mithilfe ihres Rollators, weil sie seit Jahren von schwerer Arthritis geplagt wurde, aber etwas unternehmen wollte sie dennoch immer. Da war der Kopf mobiler als der Körper.
„Oh schön. Und wohin?“
„Das ist eine Überraschung. Wie gesagt, morgen früh um neun bin ich bei dir.“
Ella hatte vier Wochen zuvor den Prospekt einer Seniorentagesstätte im Briefkasten vorgefunden. Sie war im Januar eröffnet worden und was in dem Prospekt von Haus Sonnenschein stand, klang gut. Es handelte sich um eine Tagesbetreuung für ältere Menschen.
Sie bekamen Frühstück, Mittagessen und Nachmittagstee mit Kuchen. Für ihre Siesta waren sogar Liegen mit Decken vorhanden. Aber was das Wichtigste wäre: Ihre Mutter wäre endlich nicht mehr allein. Sie hätte Ansprache, würde beschäftigt werden. Von Zeitung vorlesen, Rätsel lösen und einfache Spiele machen bis zu gelegentlich basteln war die Rede. Und die so nötige Mobilität käme auch nicht zu kurz. ‚Wir gehen bei trockenem Wetter jeden Tag zu einem kleinen Spaziergang raus‘ stand da.
Ella fand, dass dies ideal wäre für ihre Mutter. Sie könnte ja zunächst an einem Tag pro Woche dort hingehen, und wenn es ihr gefiele, auch öfter. Finanziell wäre es kein Problem. Ihre Mutter hatte eine gute Rente von Ellas Vater.
Am nächsten Tag wollte sie endlich ausprobieren, wie es ihrer Mutter dort gefallen würde. Es wurde ein kostenloser Schnuppertag angeboten, und da ihre Mutter sich bisher kategorisch geweigert hatte, ihn wahrzunehmen, würde Ella sie jetzt eben quasi zu ihrem Glück zwingen.
~
Am nächsten Tag schien eine kräftige Märzsonne. Ella war pünktlich um neun bei ihrer Mutter, die sie verwundert ansah. „Was machst du denn um diese Zeit schon hier? Du kommst doch immer erst mittags.“
Ella erinnerte sie an ihren Plan. Es lag ihr auf der Zunge zu sagen: „Aber Mama, hast du denn seit gestern Nachmittag schon vergessen, dass wir heute einen Ausflug machen?“ Doch das hatte keinen Sinn, denn ihre Mutter konnte ja nichts dafür, dass sie zunehmend die einfachsten Dinge vergaß.
Nach einigem Hin-und-Her verfrachtete sie die alte Dame schließlich auf dem Vordersitz ihres Autos, den Rollator klappte sie zusammen und schob ihn in den Kofferraum. Sie hatte dafür den Rücksitz ihres Kleinwagens seit Monaten auf einer Seite nach vorne geklappt, denn für die regelmäßigen Fahrten zum Arzt oder zum Essen gehen brauchte Hannelore Schmitz ihre Gehhilfe immer.
Sie fuhren ein Viertelstündchen, dann hielt Ella vor einem weiß getünchten Haus mit roten Balkons an der Vorderseite. Sie schnallte ihre Mutter ab, sagte: „Komm!“ und stieg aus. Sie holte den Rollator aus dem Kofferraum und schob ihn ihrer Mutter vor die geöffnete Autotür.
Sie brauchte zwei Anläufe, bis sie mit Ellas Hilfe endlich stand. Verunsichert sah sie ihre Tochter an. „Was wollen wir denn hier? Ich dachte, wir machen einen Ausflug.“
„Genau. Und der fängt hier an!“
Sie gingen langsam nebeneinander her. Ella öffnete die breite Glastür und hielt sie ihrer Mutter auf. Sie hatte das Ehepaar, das die Tagesstätte betrieb, am Nachmittag zuvor darüber informiert, dass sie ihre Mutter bringen würde und die wahrscheinlich nicht nur überrascht, sondern auch abweisend wäre.
„Das kennen wir schon!“, hatte die freundliche Frau gesagt. „Die alten Leute wollen zunächst alle nicht zu uns kommen, weil sie denken, ihre Angehörigen wollen sie abschieben. Aber wenn sie bemerken, dass sie nicht mehr allein sind und beschäftigt werden, gefällt es ihnen bei uns.“
Ella hoffte, dass dies bei ihrer Mutter auch der Fall wäre.
Nun kam die Leiterin der Tagesstätte in den Vorraum hinaus. „Hab ich doch richtig gehört, wir bekommen Besuch!“ Sie lächelte der alten Dame freundlich entgegen. „Guten Tag, ich bin Brigitte Metzger. Kommen Sie herein!“
Hannelore Schmitz war so überrascht, dass sie der Aufforderung folgte. Als Ella hinter ihr den großen Raum betrat, sah sie weiter vorne vor dem breiten Fenster einen langen Tisch, an dem sieben alte Menschen saßen. Zur Linken stand ein breiter Schrank, der als Raumteiler diente und allerlei Utensilien enthielt, wie sie später erfuhr: Spiele, Scheren, Klebstoff und andere Dinge, die sich zum Basteln eigneten.
Die Leiterin bugsierte ihre Mutter samt Rollator zu dem Tisch, wo auch eine junge Frau mit einem Baby auf dem Arm saß. Sie lächelte Hannelore Schmitz freundlich entgegen, und die setzte sich auch prompt neben sie. Ella schien sie vergessen zu haben.
Die blieb unschlüssig nahe der Tür stehen. In dem Moment kam ein etwa fünfzigjähriger Mann aus der Küche neben dem Eingang. Er verbeugte sich lächelnd und reichte ihr die Hand. „Guten Morgen. Ich bin Herbert Metzger und leite hier zusammen mit meiner Frau die Tagesstätte.“
Ella schüttelte seine Hand und ließ sich von dem freundlichen Mann über einiges informieren. Zwischendurch warf sie immer wieder bange Blicke zu dem Tisch hinüber, wo Brigitte Metzger ihre Mutter gerade den anderen alten Leutchen vorstellte.
Hannelore Schmitz saß mit zusammengepressten Lippen auf einem Stuhl in der Mitte und sagte kein Wort.
Ella hatte ein schlechtes Gewissen, weil sie sie nicht vorgewarnt hatte. Sie kam sich wie eine Rabenmutter vor, die ihr Kind am ersten Tag im Kindergarten ablieferte, obwohl es eigentlich nicht hin wollte.
„Wann ist die Betreuung zu Ende?“, fragte sie den Mann.
„Um halb fünf werden die Leute wieder abgeholt oder wir bringen sie heim, je nachdem, ob ein Familienmitglied sie fahren kann oder nicht.“
Ella nickte zögernd. Ob ihre Mutter freiwillig so lange hier bleiben würde? Sie nahm einen Zettel aus ihrer Handtasche und kritzelte ihre Festnetz- sowie ihre Handynummer darauf. „Für den Fall, dass sie zuvor heim möchte“, sagte sie und gab dem Mann den Zettel.
Er nahm ihn, sagte aber: „Ich glaube nicht, dass dies nötig sein wird. Sehen Sie mal!“ Er wies zu dem Tisch. Ella sah, wie ihre Mutter dem Baby auf dem Arm der jungen Frau liebevoll über die Wange strich. Und sie strahlte dabei!
„Die Frau kommt ab und zu mit ihrem Kind hier vorbei. Eine andere hat einen kleinen Terrier, mit dem sie uns besucht. Den Leuten gefällt das.“
Das konnte Ella sehen. Die Alten sahen alle das Baby an, ein Lächeln auf ihren Gesichtern. Und ihre Mutter schien vergessen zu haben, dass sie da war. Sie grinste den Mann an. „Ich glaube, das ist der perfekte Moment für meinen Abgang! Um halb fünf bin ich wieder da.“ Sie winkte ihm kurz zu und ging.
Da sie schon einmal unterwegs war, besorgte sie in einer nahen Apotheke gleich Medikamente für ihre Mutter, kaufte sich ein Paar dringend benötigte Frühjahrsschuhe und ging ganz spontan in ein Café in der Altstadt, wo sie einen Kaffee trank und ein Croissant aß, während sie sich Notizen für das nächste Kapitel machte.
Gegen Mittag kam sie entspannt nach Hause, sah auf ihrem Anrufbeantworter nach, ob in ihrer Abwesenheit jemand angerufen hatte – nein. Dann startete sie die Waschmaschine, nahm sich eine Flasche Wasser und setzte sich vor ihren Laptop. Erleichtert stellte sie fest, dass sie noch einen halben Tag vor sich und fast alles erledigt hatte, was dringend gewesen war.
Während sie die Datei mit ihrem angefangenen Roman aufrief, dachte sie, wie hilfreich es wäre, wenn ihre Mutter für ein bis zwei Tage pro Woche in diese Tagesstätte ginge. Sie hätte jemanden zum Reden, wäre beschäftigt, und Ella müsste nicht jeden Tag für sie mitkochen.