Читать книгу Schmetterlingstränen - Karin Kehrer - Страница 3

01. Highgate Wood, London, 14. November 2012

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At the mid hour of night, when stars are weepingI fly to the lone vale we loved, when life shone warm in thine eye;

Thomas Moore (1779-1852) At the Mid Hour of Night

Der Zeitpunkt war perfekt, von einer zauberhaften Intensität. Er hielt inne und genoss einfach den Moment. Mondlicht überflutete die mächtigen, dicht belaubten Eichen, welche schon die Farbe des Herbstes trugen. Die Bäume am Rand der weiten Rasenfläche waren dem gleißenden Silberlicht ausgesetzt, sodass ihre Blätter wie ziseliert wirkten. Das naturbelassene Gestrüpp junger Hainbuchen und Stechpalmen trennte ihn von der schützenden Dunkelheit.

Er ließ seine Last vorsichtig von den Schultern gleiten. Die schwarze Plastikfolie raschelte. Ein Geräusch, das nicht hierher passte, in diesen Rest urtümlichen Waldes in der britischen Metropole.

Wenn er genau hinhörte, konnte er den Verkehrslärm auf der A1 wahrnehmen, der trotz der mitternächtlichen Stunde ungebrochen rauschte. Aber das brauchte ihn nicht kümmern. Er befand sich in einer anderen Welt.

Er lauschte in die Nacht und spähte auf den von Bäumen umgebenen Sportplatz. Herbstbraunes Gras, von unzähligen Füßen niedergetreten, breitete sich vor ihm aus. Er musste die günstigste Stelle finden, jene, die exakt seinen Vorstellungen entsprach. Am besten einfach dem Gefühl folgen. Das hatte ihn bis jetzt noch nie getrogen.

Er hob das große, fest mit Klebeband umwickelte Bündel wieder auf die Schultern. Mit schwerem Schritt stapfte er über den Platz. Die Plane knisterte rhythmisch bei jeder seiner Bewegungen und das Geräusch störte ihn mit einem Mal doch. Es gab der ganzen Aktion etwas Billiges. Nächstes Mal musste er sich anderes Material besorgen. Eine Decke? Nein – zu gefährlich. Auf Decken blieben Rückstände haften, die ihn verraten konnten. Die Plane war genau richtig.

Er verharrte, hob den Kopf und sah zum Vollmond hoch. Tatsächlich perfekt - eine klare Nacht, kein Regen und für November erstaunlich mild.

Wenn ihn sein Gefühl nicht täuschte, stand er nun genau in der Mitte der Rasenfläche. Sachte ließ er das Bündel von der Schulter gleiten. Jetzt kam der Teil der Mission, den er am meisten nach dem genoss, der die Verwandlung brachte.

Die Verwandlung. Das war gut, bei weitem besser als der Tod. Er durfte stolz auf sich sein, denn mit jedem Mal perfektionierte er seinen Auftrag. Dieses Vorhaben heute kam einem Höhepunkt gleich, auch wenn es noch nicht vollkommen sein würde.

Er holte das Messer aus der Hosentasche, zerschnitt die Klebebänder, mit denen das Bündel umwickelt war und schlug vorsichtig die Plane auseinander, um Cynthias toten Körper zu enthüllen.

Cynthia. So hatte sie sich genannt. Eigentlich spielte ihr Name keine Rolle. Es genügte, zu wissen, dass sie eine von ihnen gewesen war. Eine dieser Frauen, die Schuld in sich trugen und vernichtet werden mussten.

Er zog die Folie unter der Leiche weg, faltete sie sorgfältig und legte sie zur Seite. Er würde sie später mitnehmen und in einen der Abfalleimer des Parks werfen. Es war egal, wenn sie gefunden wurde. Billige Meterware aus dem Baufachhandel, von tausenden Menschen gekauft, die einfachste Möglichkeit, sich unauffällig Verpackungsmaterial zu besorgen.

Er drehte die Leiche auf den Rücken. Sie war nackt und das war wichtig. Denn sonst konnte man die Zeichen nicht sehen. Er hockte sich auf den Boden und strich mit den behandschuhten Fingern das lange Haar aus ihrem Gesicht, fächerte es auf wie einen Schleier. Die Totenstarre war gewichen, also konnte er ihre Beine parallel zueinander legen. Sie mussten geschlossen sein, alles andere hätte obszön gewirkt. Die Arme streckte er seitlich aus, machte sie bereit, den Himmel zu umarmen.

Den Himmel umarmen.

Der Gedanke gefiel ihm und ein Lächeln huschte über sein Gesicht, das unter der Kapuze verborgen war. Vielleicht sollte er ein Buch über seine Arbeit schreiben, über die Poesie, die darin lag. Natürlich so, dass niemand seine Taten ahnen konnte. Eine verschlüsselte Hymne an das Werk der Vergeltung. Ja, das war tatsächlich eine gute Idee!

Er nahm das Messer. Cynthias makellose Haut strahlte hell im Licht des Mondes. So würde die Botschaft gut zur Geltung kommen!

Vorsichtig ritzte er mit der Messerspitze ein Kreuz in die Stirn der Toten. Und noch eines auf das Kinn und eines auf die Brust.

Benedicta tu in mulieribus … Gesegnet bist du unter den Weibern

Nein, das war sie nicht. Er hatte dafür gesorgt, dass dieser Schoß niemals ein Kind empfangen würde und das war gut so. Der Sünde musste Einhalt geboten werden. Deshalb sollten auch ihre Brüste und ihre Scham bedeckt werden. Er zog das sorgfältig gefaltete weiße Tuch aus der Jackentasche, befreite es von der Plastikhülle und breitete es über die Tote. Ein vollkommenes Bild.

Er runzelte die Stirn. Ganz stimmte das nicht. Ihr Hals wies hässliche Striemen auf, dort, wo der Riemen seines Gürtels ihr die Luft genommen hatte. Das Gefühl, das ihn durchflutet hatte, als sie zusammen vor dem Spiegel standen und zusahen, wie das Leben aus ihr wich! Ihre beiden Gesichter, nah beieinander, ein intimer Augenblick ohnegleichen.

Aber leider einer, der Spuren hinterließ, die seinen Sinn für Schönheit störten. Er musste es hinnehmen, bis jetzt hatte er keine bessere Möglichkeit gefunden, die Verwandlung herbeizuführen.

Mit spitzen Fingern zog er das Tuch hoch bis unter ihr Kinn. Nun konnte man allerdings das Kreuz auf ihrer Brust nicht mehr sehen. Unwillig schüttelte er den Kopf. Jedes Mal wieder das gleiche Dilemma! Er schob das Tuch zurück. Die Botschaft war wichtiger.

Er blieb noch kurz hocken, um sein Werk zu betrachten. Die blauen Augen der Frau, die den Glanz verloren hatten, die wächserne Bleiche des Gesichts. Wie eine Puppe, ein großes Spielzeug, das ausgedient hatte. Nur eine Hülle. Sie hatte nicht gelitten, zumindest nicht sehr. Er hatte inzwischen gelernt, ihre Qualen auf ein Mindestmaß zu reduzieren und sie nicht zu lange zu behalten. Es wäre natürlich besser gewesen, wenn er ihren Körper unbemerkt der Verwesung hätte überlassen können, aber dann wäre seine Mission unbeachtet geblieben. Man musste sie finden. Eine Mahnung sollte sie sein, umzukehren, von der Sünde abzulassen.

Sünde.

Er selbst bemühte sich, in Reinheit zu leben. Aber auch ihn überfielen manchmal Gedanken, die ihn von seiner wahren Bestimmung ablenkten. Er seufzte und schlug sich auf die Brust. Mea culpa, mea culpa.

Nicht jetzt, nicht in diesem Moment. Er schloss die Augen, verharrte still, genoss die angenehme Leere in ihm. So war es immer, wenn er dem Willen des Herrn gefolgt war. Der Ruf, der ihn dazu zwang, die Seelen der Unreinen zu befreien, würde wiederkommen. So lange, bis er endlich sie gefunden hatte. Sein Gegenstück, seine Gefährtin, die ihn verstehen und unterstützen würde im Kampf gegen das Böse. Die er verloren hatte durch die harte Fügung des Schicksals.

Er fröstelte. Kälte drang durch seine Kleidung. Langsam erhob er sich. Es gab nur noch eines zu tun. Er musste Cynthia sein Geschenk geben, sein Wahrzeichen, damit die Welt erkannte, warum sie sterben musste. Seine Hand fuhr in die Jackentasche, holte eine kleine Schachtel heraus. Er befingerte den Deckel. Es war mühsam mit den Handschuhen, es gelang ihm erst nach mehreren Versuchen, ihn abzunehmen. Der filigrane Silberdraht, zu Schmetterlingsflügeln geformt, schimmerte im Mondlicht. Die darin eingearbeiteten Granatsplitter wirkten wie hin gespritzte Blutstropfen.

Er legte das Schmuckstück behutsam zwischen die Brüste der Toten auf das weiße Tuch und schlug das Kreuzzeichen.

Möge deine Seele Frieden finden und frei von jeglicher Schuld dem Schöpfer entgegentreten. Gott verzeihe dir deine Sünden und schenke dir ewige Ruhe.

Ein leichtes Gefühl von Verlust und Trauer berührte ihn am Rand seines Bewusstseins, aber er unterdrückte es sofort. Es erinnerte ihn an eine Vergangenheit, die er vergessen musste.

Er erhob sich, trat einen Schritt zurück und begutachtete noch einmal sein Werk. Für einen Moment wünschte er, es aus der Luft betrachten zu können. Die vom Mondlicht beschienene Rasenfläche, in der Mitte die schöne tote Frau, die Arme weit ausgebreitet.

Nun, vielleicht gelang es ihm beim nächsten Mal. Es würde ein Weg zu finden sein, wenn es so bestimmt war. Er holte das Handy heraus und fotografierte sein Kunstwerk aus verschiedenen Blickwinkeln.

Mit einem leichten Gefühl des Bedauerns wandte er sich ab, hob die gefaltete Folie auf und ging auf das Café zu, das sich als dunkler Klotz gegen das Mondlicht abzeichnete. Er warf das Paket in einen der Müllkörbe, drehte sich noch einmal um. Der Leichnam schimmerte als heller Fleck in der Finsternis. Cynthia würde morgen früh gefunden werden, aber da war er schon wieder im Norden der Insel. Seine Aufgabe war damit zu Ende – für diesmal.

Mit raschen Schritten betrat er den Pfad, der zur Muswell Hill Road führte, wo er sein Auto geparkt hatte. Seine schwarz gekleidete Gestalt wurde vom Dunkel des Waldes verschluckt.

Schmetterlingstränen

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