Читать книгу Schmetterlingstränen - Karin Kehrer - Страница 9

07. Oban, 17. November 2013

Оглавление

Dunkelheit schließt mich ein. Ich kann nicht sehen, nicht atmen, meinen Mund nicht öffnen, um zu schreien. Aber ich muss schreien! Denn er ist wieder da, ein riesiger Schatten mit glühenden Augen. Das Gesicht eine entsetzliche, bleiche Fratze. Hände packen mich, Finger graben sich in mein Fleisch, zerren an mir. Er schleudert mich zu Boden. Ich liege da wie gelähmt, wage nicht, mich zu rühren. Geh! Bitte, bitte, geh einfach! Lass mich in Ruhe!

Er flüstert, zischt, ich möchte die Ohren zuhalten, kann die Hände nicht bewegen. Ohne Unterlass diese Stimme. Kriecht in den Kopf, setzt sich in meinem Gehirn fest, lässt sich nicht aussperren. Vergessen, ich will vergessen, lass mich …

Ich fuhr hoch, starrte in das sanfte Licht der Nachttischlampe. Mein Herz raste, der Hals schmerzte. Benommen sah ich mich um. Atmete erleichtert auf, als ich mich in der vertrauten Umgebung des Schlafzimmers fand. Kitty starrte mich mit ausdruckslosen Augen von der Kommode an, zwei schwarze Löcher in dem gespenstisch weißen Gesicht. Vielleicht war es doch keine so gute Idee gewesen, die Puppe hervorzuholen. Der Wecker zeigte halb fünf. Ich schob die durchgeschwitzte Decke zurück und stand auf. Wenigstens den klatschnassen Pyjama musste ich wechseln und einschlafen konnte ich ohnehin nicht mehr. Ich schlüpfte in meinen Jogginganzug und zog dicke Socken an. Mir war noch immer kalt, also ging ich in die Küche und setzte den Teekessel auf, dachte an Elinor. Sie hatte sich auch am Abend nicht gemeldet, weder am Festnetz noch am Handy. Vielleicht verbrachte sie die Nacht in Glasgow mit ihrem neuen Lover. Butterfly0406. Es würde ihr ähnlichsehen, dass sie sich aus purem Trotz mit ihm traf, nur um mir zu beweisen, dass ich unrecht hatte und – ihrer Meinung nach – Gespenster sah. Aber der Gedanke vertrieb meine Unruhe nicht, im Gegenteil. Am liebsten hätte ich sie noch einmal angerufen, aber das war zu dieser Tageszeit unmöglich. Am besten, ich lief noch einmal eine Runde, um diese bösen Ahnungen zu vertreiben. Bewegung in der frischen Luft würde mir bestimmt guttun, auch wenn es noch wirklich früh war. Doch dann begegnete ich wenigstens niemandem.

Um fünf Uhr verließ ich das Haus. Ich wollte zum MacCaig’s Tower hoch, dort hatten Elinor und ich uns kennen gelernt. Auch sie joggte gerne, wenn sie Zeit dazu fand.

Als ich ins Freie trat, wölbte sich über mir der sternenklare Himmel. Eine leichte Brise wehte und brachte den Geruch nach Wald und Erde mit. Ich atmete erleichtert auf, begann zu laufen. Die kalte Luft schnitt in meine Wangen, schmerzte in der Lunge, aber das machte mir nichts aus. Der Nebel war fort und hatte die Albträume mitgenommen.

Ich lief etwa eine Stunde und wandte mich zum Schluss in die Duncraggan Road. Von dort führte ein Pfad zum Tower. Eigentlich ist der MacCaig’s Tower kein Turm, wie der Name vermuten lässt. Es handelt sich um ein folly, eine architektonische Verrücktheit. Der Bankier John Stewart MacCaig hatte Ende des 19. Jahrhunderts auf einem Hügel über Oban ein Monument in Form des römischen Kolosseums errichten lassen. Angeblich, um die Arbeitslosigkeit in der Stadt zu bekämpfen. Der Bau blieb unvollendet, weil er starb und seine Erben kein Interesse mehr daran hatten. Nun thront also ein weithin sichtbarer offener Mauerring um den Hügel. Im Inneren befindet sich eine hübsche, gepflegte Parkanlage, die zum Verweilen und Ausruhen einlädt. Im Sommer eher unmöglich, weil der Tower ein markantes Wahrzeichen von Oban ist, das gerne von Touristen besucht wird.

Um diese Zeit herrschte allerdings tiefe Stille. Die Sterne verblassten bereits, obwohl es immer noch dunkel war.

Ich kletterte keuchend den Hügel hoch, blieb unter einem der Torbögen stehen, um Atem zu schöpfen. Durch die gegenüberliegende Fensterreihe blinkten die Lichter des Hafens. Etwas unterhalb entdeckte ich ein schwaches rotes Flackern in einer regelmäßigen Reihe. Ich dachte zuerst an einen Fackelzug wie zu Hogmanay, denn auch in Oban wird so der Jahreswechsel gefeiert. Aber natürlich nicht im November. Außerdem waren keine Menschen in der Nähe. In dieser absoluten Stille hätte ich sie hören müssen. Ich folgte dem asphaltierten Pfad, der quer durch die Anlage führt. Die Lichter gehörten eindeutig nicht zum Hafen, sie befanden sich im Inneren des Mauerrings.

Seltsam.

Ich steuerte darauf zu, verließ den Pfad und betrat den Rasen. Nach ein paar Schritten spürte ich die Kälte des nassen Grases durch meine Schuhsohlen dringen. Ich ging näher, magisch angezogen von den roten Lichtern, stellte fest, dass es in einem großen Kreis aufgestellte Grabkerzen waren. In der Mitte des Kreises leuchtete ein heller Fleck. Fremd und unheimlich sah das Ganze aus, es gehörte nicht hierher. Unschlüssig blieb ich stehen, aber meine Neugier siegte.

Ich ging noch näher, das flackernde Licht ließ jetzt Einzelheiten erkennen. Eine lebensgroße Puppe im Gras. Glaubte ich zumindest, alles andere wäre mir unmöglich erschienen. Die Kerzen standen in einem Abstand von etwa einem Meter darum herum. Ich betrat den Lichterkreis, in mir spürte ich ein merkwürdiges Kribbeln. Was sollte das nur bedeuten?

Wie magisch angezogen, ging ich Schritt für Schritt weiter, bis ich dicht vor der Puppe stand. Ich weigerte mich, zu glauben, was meine Augen da sahen.

Da lag eine Frau. Nackt, die Beine geschlossen, die Arme weit ausgebreitet. Kreuzförmige Schnitte hoben sich dunkel von der bleichen Haut ab, auf der Stirn, dem Kinn und der Brust. Wie ein unauslöschlicher Segen. Ihr Körper mit einem weißen Tuch bedeckt. Auf ihrer Brust glitzerte etwas Silbernes. Ich bückte mich, betrachtete das Ding. Es war ein Schmetterling mit weit ausgebreiteten Flügeln, in den winzige Bernsteinsplitter eingeflochten waren.

Merkwürdig, wie mein Gedächtnis diese Einzelheiten speicherte, ohne Gefühl, ohne Regung, außer diesem heißen Kribbeln in mir. Ich streckte die Hand aus, meine Finger berührten das kalte Metall. Ich hob das Schmuckstück auf, nahm es auf die Handfläche, betrachtete es kurz und steckte es in die Jackentasche. Erst dann sah ich in das Gesicht der Puppe – denn dafür hielt ich sie immer noch. Klare blaue Augen, erstarrt in schmerzlichem Erstaunen, langes dunkles Haar, ausgebreitet wie ein Fächer. Ich starrte und starrte. Erst jetzt erkannte ich sie.

Nein – das konnte nicht sein. Nicht …

Ein unmenschliches Heulen brach aus mir heraus, ein Schrei, der durch die anbrechende Dämmerung gellte, ohne Ende, wie auch? Mein Albtraum war zurückgekehrt, deutlicher denn je. Es war nicht vorbei und würde es niemals sein. Er war zurückgekommen, aus dem Abgrund der Hölle, um sein Werk fortzusetzen. Hier lag keine Puppe.

Elinor – es war Elinor! Und sie war tot!

***

„April? Kann ich Sie kurz sprechen?“

Ich blickte hoch, sah in das Gesicht von Chief Constable Joseph Wilkins. Ich kannte ihn, er trank manchmal nach Feierabend ein Bier in Elinors Café. Das jetzt wohl geschlossen werden musste. Ich sollte mich darum kümmern. Da war bestimmt noch Kuchen im Kühlraum, die ganzen Lebensmittel, ich musste ein Schild an die Tür hängen Wegen Todesfall geschlossen, ich musste … Das Zittern in mir hörte einfach nicht auf. Meine Zähne klapperten, obwohl mir jemand eine Decke um die Schultern gelegt hatte. Ich saß in einem Auto, durch die geöffnete Wagentür strömte die morgendliche Kälte. Ich wusste nicht, wie ich dorthin gelangt war.

„Es tut mir leid, April. Aber ich muss Ihnen einige Fragen stellen …“ CC Wilkins drückte mir einen Becher Tee in die Hand und ich klammerte mich dankbar daran.

Um mich herum herrschte rege Betriebsamkeit. Das Flackern von Blaulicht auf Polizeiautos, Uniformierte, der Notarztwagen, ein paar Anrainer, zusammengedrängt zu einem frierenden Grüppchen, das am Fuß des Hügels stand und neugierige Blicke auf das Folly warf. Es war abgesperrt worden, niemand durfte hinauf zu Elinor, die da wahrscheinlich immer noch im nassen Gras lag, nackt, den Blicken der Polizisten ausgesetzt. Vielleicht war auch die Spurensicherung schon gekommen. Ich glaubte, Männer in weißen Overalls gesehen zu haben.

Ich nippte an dem heißen Tee, verbrannte mir die Lippen, spürte den Schmerz kaum, weil mein Hals beim Schlucken so wehtat. CC Wilkins stand noch immer da, mit einem Ausdruck tiefen Bedauerns in seinem runden Gesicht. Ein gemütlicher, untersetzter Mann mit einer angenehmen Bassstimme.

„Sie waren also laufen?“, fragte er behutsam mit einem Blick auf meine Turnschuhe.

Ich nickte.

„So früh?“

„Ja.“ Ich musste mich räuspern. „Ich – ich konnte nicht mehr einschlafen. Albträume.“ Die Worte quälten sich durch meinen entzündeten Hals.

Er nickte wieder, als würde er mich verstehen. Natürlich konnte er das nicht, aber er schien sich zu bemühen.

„Wann haben Sie Elinor zum letzten Mal gesehen?“

Ich schloss die Augen. „Donnerstag am Abend. Sie … sie hat mich besucht. Ich war krank. Migräne“, erklärte ich auf seinen fragenden Blick. „Der Nebel – er tut mir nicht gut.“

„Dann waren Sie also am Freitag nicht im Laden?“

„Sie hat mir freigegeben. Weil ich krank war.“ Ein Klumpen bildete sich in meinem Magen, stieg in die Kehle hoch. Ich schluckte, hätte beinahe vor Schmerz aufgeschrien, aber ich blieb stumm. Keine Tränen. Jetzt nicht.

Seine hellen grauen Augen musterten mich aufmerksam. „Brauchen Sie Hilfe? Ich könnte Ihnen psychologische Betreuung …“

Mein vehementes Kopfschütteln unterbrach ihn. „Nein, vielen Dank.“ Es hilft nichts, gar nichts. Ich kenne das.

„Vielleicht ist es besser, wenn Sie sich ein wenig ausruhen. Haben Sie jemanden, den Sie anrufen können, der sich um Sie kümmern kann?“

Nein. Ich habe niemanden. Ich bin ganz allein. Ich habe meine einzige Freundin verloren.

„Ich komme zurecht, es geht schon“, flüsterte ich.

„Ich übernehme das“, hörte ich plötzlich eine tiefe Männerstimme. Der Chief Constable drehte sich um und ich sah einen Mann, der gemessenen Schrittes auf uns zukam. Im ersten Moment wusste ich nicht, wer er war, dann fiel es mir ein. Mr. Holden. Benedict Holden. Was hatte der hier zu suchen? Der Polizist musterte ihn scharf und ziemlich erstaunt. Auch mir musste die Überraschung ins Gesicht geschrieben sein, denn der großgewachsene Mann aus London lächelte flüchtig. Er reichte Wilkins seine Karte. Der zog die Brauen hoch. „Kennen Sie Miss Gallagher?“

„Ja, wir kennen uns“, meinte Holden seelenruhig.

Ich starrte ihn an. Seine jetzt wieder ausdruckslose Miene verriet nichts. Ich zuckte mit den Schultern. Plötzlich war mir alles egal, selbst wenn er Elinors Mörder sein sollte – eine irgendwie absurde aber gleichzeitig vielleicht mögliche Schlussfolgerung, denn was machte er plötzlich hier? – kümmerte es mich nicht. „Es ist in Ordnung.“

„Also gut.“ Wilkins ließ seinen Blick zwischen Holden und mir schweifen, schien aber dann überzeugt, dass ich in guten Händen war und wandte sich an mich. „Ich werde Sie später anrufen, wäre schön, wenn Sie sich in den nächsten Tagen zur Verfügung halten könnten.“

„Ja, natürlich.“ Ich raffte die Decke vor der Brust zusammen und stand auf.

Holden musterte mich besorgt. „Geht es?“

Ich nickte stumm, versuchte, gegen die Lähmung in meinem Inneren anzukämpfen, schaffte es nicht. „Was tun Sie hier? Was wollen Sie?“ Die Worte quälten sich mühsam über meine Lippen.

„Ich war besorgt. Sie hatten sich nicht gemeldet.“

Ich brachte ein Schnauben zustande. „Warum sollte ich?“

Er blieb stehen, sah mich durchdringend an. „Sie haben den Umschlag nicht geöffnet.“ Es war eine Feststellung, keine Frage.

„Noch einmal: Warum sollte ich?“

Er hob den Kopf, sah zum Folly hoch. „Deswegen.“

„Ich weiß nicht, was Sie meinen.“

„Wenn Sie verstehen wollen, müssten Sie mich anhören. Aber vielleicht ist jetzt nicht gerade der günstigste Zeitpunkt. Sie stehen unter Schock.“

Die Taubheit in meinem Inneren wurde von einem raschen, schneidenden Schmerz durchbrochen. Ich biss mir auf die Lippen. „Sagen Sie, was Sie zu sagen haben und dann verschwinden Sie.“

„Ich fürchte, so einfach ist es nicht.“ Sein Gesichtsausdruck wechselte von Trauer zu Zorn. Aber er hatte sich sofort wieder in der Gewalt. „Ich bringe Sie nach Hause. Sie sollten sich ausruhen.“

„Ach ja? Und warum sollte ich Ihnen vertrauen?“ Ich starrte ihn herausfordernd an.

Er lächelte verhalten und hielt meinem Blick stand. „Das müssen Sie selbst entscheiden.“

Er sah nicht aus wie ein Mörder. Gut, das musste nichts heißen. Aber so wagemutig – oder dumm – wäre er wohl nicht, mich vor den Augen der Polizei mitzunehmen und dann umzubringen. „Na schön. Gehen wir.“ Ich warf noch einen verstohlenen Blick auf die Mauern des MacCaig’s Tower. Dieser malerische Ort hatte für immer seine Unschuld verloren.

Holden führte mich schweigend ein Stück den Weg hinunter zu einem großen schwarzen Wagen, einem Bentley Continental. Einige davon hatte ich damals in London gesehen. Er öffnete die Wagentür. Der Duft nach Leder und exotischem Holz empfing mich. Ich starrte auf meine schmutzigen Turnschuhe, aber Holden bedeutete mir mit einer Handbewegung, einzusteigen. Ich ließ mich auf den weichen Ledersitz fallen, hob die Beine und stellte sie vorsichtig ab.

Er startete den Motor und wir fuhren immer noch schweigend das kurze Stück zum Laurel Crescent.

Er stieg vor mir aus und öffnete die Beifahrertür. „Ich komme mit hinein.“

Als ich leicht den Kopf schüttelte, hob er die Augenbrauen. „Ich habe versprochen, mich um Sie zu kümmern. Keine Widerrede.“

Meine Hände zitterten so sehr, dass ich den Schlüssel nicht ins Schloss stecken konnte. Er nahm ihn mir behutsam ab und sperrte auf. Er musste den Kopf einziehen, um ihn sich nicht am Türrahmen anzustoßen.

„Hübsch haben Sie es hier. Klein und überschaubar.“

Mir wurde bewusst, wie schäbig mein winziges Zuhause auf ihn wirken musste. Er hatte bestimmt eine tolle, große Wohnung in London, womöglich mit Blick auf die Themse.

„Sie sehen aus, als könnten Sie etwas Stärkeres als Tee brauchen.“ Damit ging er voran in die Küche. Er füllte den kleinen Raum mit seiner Präsenz. Ich roch sein After Shave, einen unaufdringlichen, sehr maskulinen Duft.

„Es müsste noch irgendwo Whisky sein. Im Schrank neben der Spüle.“

Er bückte sich und holte die Flasche heraus.

„Gläser sind hier.“ Ich machte eine matte Handbewegung in Richtung Geschirrschrank und sah ihm zu, wie er ein Glas herausholte und gut zwei Fingerbreit der bernsteingelben Flüssigkeit eingoss. Er drückte es mir in die Hand.

Der Whisky, ein Oban 14, war ein Geschenk von Elinor gewesen, erinnerte ich mich. Wieder spürte ich den Kloß in meinem Magen, und ich kippte den Inhalt des Glases in zwei großen Schlucken hinunter. Die scharfe Flüssigkeit brannte in der wunden Kehle und Tränen traten in meine Augen. Gleich darauf sammelte sich angenehme Wärme im Magen und löste den Kloß auf. Der salzige Nachgeschmack des Whiskys im Mund ließ mich glauben, ich hätte gerade ein Glas Tränen geschluckt.

Ich zuckte zusammen, als Holden nach meinem Arm fasste und mich sanft auf einen der Küchenstühle drückte. Er setzte sich mir gegenüber auf den zweiten Stuhl. Sein Blick fiel auf den Tisch. „Ach, hier ist ja mein Kuvert.“ Er machte keine Anstalten, es aufzunehmen und ich starrte es an. Es erschien mir wie das manifestierte Zeichen des Unheils, das ich versucht hatte, zurückzudrängen. Ein Fehler, wie ich einsehen musste. Die Vergangenheit hatte mich auf brutale Weise wieder eingeholt.

Stille breitete sich zwischen uns aus. Der Whisky dämpfte meine Empfindungen. Ich fühlte mich losgelöst und leicht, gleichzeitig nah und unendlich fern. Das hier geschah alles nicht wirklich. Ich saß nicht mit einem mir völlig Fremden in meiner Küche und Elinor war nicht tot.

Nach einer Weile brach Holden das Schweigen. „Wenn Sie sich ausruhen möchten, sagen Sie Bescheid. Ich werde hierbleiben, ich lasse Sie nicht allein.“

„Ich will mich nicht ausruhen. Ich bin nicht müde. Sagen Sie einfach, was Sie von mir wollen.“

Wieder bemerkte ich die Spuren von tiefer Trauer, die sich in sein Gesicht gegraben hatten. Es war schmal, mit einem markanten Kinn und einer langen Nase. Er sah auf eine herbe Art gut aus und man merkte ihm jeden Zoll den Stadtmenschen an. Elinor hätte ihn interessant gefunden …

Ich stand auf, um mich abzulenken und schenkte mir ein Glas Wasser ein, stellte auch eines für Holden auf den Tisch.

Er nahm einen Schluck. „Ich bin Anwalt, arbeite in der Kanzlei meines Vaters und seiner Partner in Mayfair.“

Ich nickte. Natürlich, das stand auf seiner Visitenkarte.

„Seit sechs Monaten bin ich beurlaubt. Ich habe beschlossen, Nachforschungen anzustellen.“

„Worüber?“

Seine Miene verfinsterte sich. „Am 14. November im vorigen Jahr wurde meine Schwester Cynthia im Highgate Wood in London gefunden. Erwürgt. Der Mörder hat sie mitten auf dem Sportplatz abgelegt. Nackt, bedeckt mit einem weißen Tuch, mit ausgebreiteten Armen …“ Seine Stimme verlor sich. Er musste nicht weitersprechen. Ich wusste, was kam.

Er griff in die Brusttasche seines Sakkos, zog ein Foto heraus, reichte es mir. Ich wollte das nicht sehen.

„Das war Cynthia“, sagte er mit rauer Stimme.

Das Bild war ziemlich zerknittert, sah aus, als wäre es bereits oft zur Hand genommen worden. Es zeigte zu meiner Erleichterung keine Tote, sondern ein Mädchen mit langem schwarzem Haar und strahlend blauen Augen. Es lachte unbeschwert in die Kamera. Der Anblick traf mich umso mehr. Noch ein Leben, das grausam zerstört worden war.

„Auf ihrer Brust lag eine Schmetterlingsbrosche.“

Die Brosche.

Ich fuhr mit der Hand in die Tasche meiner Jacke, holte das Schmuckstück heraus, das auf Elinors Brust gelegen hatte. Holden sah mich erstaunt an. „Sie haben sie einfach mitgenommen? Sie hätten sie der Polizei geben sollen.“

„Ich weiß. Ich … ich habe es vergessen. Es war so … keine Ahnung. Ich wollte einfach nicht…“ Ich atmete tief durch. „Wahrscheinlich wollte ich einfach nicht, dass alles wieder von vorne beginnt.“

Er betrachtete das Schmuckstück. „Ich habe das Stück, das bei Cynthia gefunden wurde, nur auf Fotos gesehen. Aber es könnte die gleiche Arbeit sein.“

Ich sah mir die Brosche widerwillig an. Bernstein und Silberdraht, zu einem filigranen Kunstwerk geformt. Ich spürte das Gewicht auf meiner Handfläche. Dieses Ding hatte auch Elinors Mörder in der Hand gehalten, bevor er es auf ihrer Brust platzierte. Ein Frösteln überlief mich und ich legte es schnell auf den Tisch. Das Schmuckstück funkelte beinahe obszön.

Irgendetwas stimmte damit nicht, aber ich konnte beim besten Willen nicht sagen, was es war.

Holden holte das Handy heraus und fotografierte die Brosche, auch ihre Rückseite. „Damit wir etwas in der Hand haben, wenn Sie sie morgen der Polizei übergeben.“

Er griff jetzt nach dem Umschlag, der noch immer auf dem Tisch lag. „Wenn Sie tatsächlich nicht zu erschöpft sind, möchte ich Ihnen etwas zeigen.“ Er öffnete ihn und entnahm einen Stapel Papier. „Wie gesagt, ich stelle seit einem halben Jahr Nachforschungen zum Tod meiner Schwester an.“ Der sachliche Tonfall verriet den Anwalt, aber ich bemerkte sehr wohl das leichte Zittern in seiner Stimme. „Und ich habe das hier gefunden.“

Ich nippte an meinem Wasserglas. „Was ist das?“

„Mordfälle.“ Er hob das erste Blatt hoch.

„Marsha Kendall, aufgefunden am 10. November 2011 in Manchester im Heaton Park. Betäubt, die Schamlippen zugenäht, erwürgt, drei Kreuze post mortem in die Haut geschnitten, abgelegt mit weit ausgebreiteten Armen und offenen Augen, der Körper mit einem weißen Tuch bedeckt. Auf der Brust eine Schmetterlingsbrosche.“

Er nahm das nächste Blatt.

„Susan Dorsley, 5. November 2006, Cardiff, Wales, Sophia Gardens. Erwürgt. Gleiche Vorgehensweise.

Patricia Silver, 17. November 2005, Edinburgh, Dean Gardens. Wieder das gleiche Szenario.“

Mich fröstelte plötzlich. „Hören Sie auf! Wie viele?“

Er sah mich so intensiv an, dass ich seinem Blick ausweichen musste.

„Dreizehn, wenn man jetzt Ihre Freundin und Ihre Mutter mitzählt.“

Oh Gott! Was hatte das zu bedeuten?

Holden sprach ungerührt weiter. „Ich gehe davon aus, dass Maureen McPherson das erste Opfer war. Der nächste Mord geschah zwei Jahre später, bis zum Jahr 2006 regelmäßig jeden November. Dann war eine Pause von fünf Jahren. 2011 ging es wieder los.“

Ich schluckte. Mein Hals brannte noch immer und mir schwirrte der Kopf. „Glauben Sie … das ist immer der gleiche Mörder?“

Er zuckte mit den Schultern. „Ich nehme es an. Es könnte auch ein Nachahmungstäter darunter sein. Aber eines weiß ich: Ich will das Monster, das meine Schwester ermordet hat, finden und sollte das die einzige Aufgabe für den Rest meines Lebens sein!“ Seine Augen glühten und seine blassen Wangen röteten sich.

Er merkte, dass ich ihn fassungslos anstarrte und seine Miene glättete sich. „Verzeihen Sie“, sagte er, nun wieder ganz der beherrschte Gentleman.

„Schon gut. Aber was erwarten Sie eigentlich von mir? Sie haben hier bestimmt auch die Akte meiner Mutter.“ Ich wies mit dem Finger auf den Stapel und spürte, wie das Grauen am Rand meines Bewusstseins kratzte, als er stumm nickte.

„Wenn Sie die Unterlagen aufmerksam gelesen haben, wissen Sie, dass ich mich an nichts erinnern kann. Ich kann Ihnen nicht helfen.“

Er legte die Akten zu einem ordentlichen Stapel zusammen. „Ich hoffte, wir könnten miteinander die Wahrheit herausfinden.“

Ich lachte bitter. „Dachten Sie, Sie könnten eine Art Therapie mit mir machen? Hypnose? Kognitive Befragung? Konfrontationstherapie? – Vergessen Sie es! Das habe ich alles hinter mir. Es hat überhaupt nichts gebracht. Etwas in mir will sich einfach nicht erinnern und das hat bestimmt seinen guten Grund.“

„Sie wollen also nicht wissen, wer Ihre beste Freundin ermordet hat? Oder Ihre Mutter?“

Ich lachte noch einmal, es klang wie das heisere Bellen eines Hundes, der sich vergeblich um Aufmerksamkeit bemüht hatte. „Meine Mutter? Aber das weiß ich doch. Ich dachte, Sie hätten die Akte gelesen? Es war Brian. Brian Connolly, ihr Lebensgefährte.“

Der Mann, den ich bewunderte, den ich mir als Vater wünschte.

Ich brach in Tränen aus.

Schmetterlingstränen

Подняться наверх