Читать книгу Schmetterlingstränen - Karin Kehrer - Страница 5

03. Portree, Isle of Skye, April 1996

Оглавление

Als ich an diesem Morgen aufwachte, fiel mein Blick zuallererst auf das Buch auf dem Nachtkästchen. Der abgegriffene dunkelrote Ledereinband und die teilweise schon abgeschabte Goldprägung vermittelten mir die Vorstellung von etwas Altem und Kostbarem. Sonnenlicht flirrte durch einen Spalt des Vorhangs und tauchte das Buch in magisches Licht, von Staubkörnchen umtanzt. Ich hielt den Finger in den Lichtstrahl und nun leuchtete auch meine Haut. Ich stellte mir vor, wie es wäre, von diesem Strahl aufgesogen und in das Buch gezogen zu werden. Ich hatte es vor zwei Tagen von meiner Mutter zu meinem zehnten Geburtstag bekommen und es erschien mir wie das kostbarste Geschenk in meinem ganzen Leben.

Ich nahm es in die Hand, fuhr vorsichtig über das narbige Leder, schnupperte daran. Es roch nach Lavendelseife, altem Papier, Abenteuer, nach Herzklopfen und nach heimlichen Tränen. Ein Band mit Gedichten der englischen Romantik.

Unsere Nachbarin, Mrs. Phibbs, rollte mit den Augen, als ich es aus dem hellroten Geschenkpapier schälte, das mit grünen Blättern bedruckt und mit einer ebenfalls grünen Schleife umwickelt war. „Herrje, Maureen“, sagte sie zu meiner Mutter. „Ist die Kleine nicht noch ein wenig zu jung dafür?“

Mum schüttelte den Kopf und lächelte mich an. Wie immer widersetzten sich ihre schwarzen, langen Haare jeglicher Bändigung, vorwitzige Kringel hatten sich aus der silberfarbenen Spange gelöst und fielen ihr in die Stirn. Ich hatte ihre Locken und auch ihre Haarfarbe geerbt, ebenso wie die intensiv blauen Augen. Wenn wir uns manchmal den Spaß gönnten, in ähnlicher Kleidung aufzutreten, kam ich mir immer wie eine Miniatur-Maureen vor und glaubte zu wissen, wie sie selbst als Kind gewesen war.

„Nein, das ist genau richtig für mein Mädchen“, erklärte sie mit sanfter Stimme. Sie wusste um meine liebste Beschäftigung, die darin bestand, auf dem abgewetzten Sofa im Laden zu sitzen und in alten Gedichtbänden zu schmökern. Sie fuhr jeden Morgen mit dem uralten, klapprigen Van von unserem Cottage am Südufer des Loch Fada in die Stadt, um mich bei der Schule abzusetzen und dann zur Arbeit zu gehen. Ihr Laden hieß The Unicorn. Nach dem Unterricht ging ich dorthin und wartete, bis sie fertig war, um mit ihr wieder nach Hause zu fahren. Ich verbrachte Stunden mit dem Geruch von alten Büchern und Schafwolle in der Nase, denn sie verkaufte neben vielerlei Krimskrams für Touristen auch selbstgestrickte Pullover, Schals und Mützen, die sie an den langen Wintertagen, wenn der Laden geschlossen war, anfertigte.

Aus der Küche im Erdgeschoss hörte ich das Klappern von Geschirr und wenig später zu meinem Erstaunen eine männliche Stimme. Wer mochte so früh schon zu Besuch sein?

Ich legte das Buch zur Seite und schlüpfte aus dem Bett, schauderte kurz, als ich die Kühle des Frühlingsmorgens an den bloßen Füßen spürte, angelte nach den Pantoffeln und schlich zur Zimmertür, drückte die Klinke vorsichtig nieder. Die Tür knarrte und ich hielt erschrocken inne, im Glauben, vorzeitig auf mich aufmerksam gemacht zu haben.

Dann hörte ich Mum lachen – nein, es war eher ein Kichern, fast so wie das meiner Freundinnen in der Schule, wenn sie nach den Murphy-Jungs guckten, die von allen angehimmelt wurden – auch von mir.

Ich schlich die Treppe hinunter, schnupperte. Speck und Bohnen zum Frühstück? Es war doch nicht Sonntag!

Leises Flüstern drang an mein Ohr, dann wieder Gelächter. Diesmal eindeutig männliches. Was war da nur los?

Ich schob den Kopf durch die angelehnte Küchentür und erstarrte. Am Herd stand ein Pirat.

Mein Pirat.

Er drehte sich um, wahrscheinlich hatte ich vor Aufregung gekiekst.

„Hi Prinzessin.“ Er winkte mit dem Pfannenwender. Ich starrte ihn mit offenem Mund an. Natürlich war er nicht wirklich ein Pirat. Es war Brian. Ich kannte ihn seit einer Ewigkeit. Mein Blick fiel auf seine nackten, dunkel behaarten Beine und ich konnte nicht mehr wegschauen.

„Wo hast du deine Manieren gelassen, Kind? Steh hier nicht herum und geh dich anziehen.“ Meine Mutter sah mich streng an.

„Guten Morgen, Brian“, sagte ich gehorsam und dann machte ich kehrt, stürmte aus der Küche, die Treppe hinauf, in mein Zimmer und warf mich auf das Bett. Mein Herz klopfte zum Zerspringen und eine heiße Welle raste durch mein Inneres.

Es war – Wahnsinn!

Brian hat bei uns übernachtet!, sang mein Herz. Es musste so sein, ich war ja nicht dumm und kein Baby mehr. Was hätte er sonst in Boxershorts und T-Shirt in unserer Küche gemacht, noch schlaftrunken und mit wuscheligen Haaren. Gut, die hatte er immer. Und auch diesen Dreitagesbart. Darum war er in meinen Träumen ja auch ein Pirat, ein verwegener Held, so wie ich mir meinen Vater vorstellte. Vielleicht hatte schon vor längerer Zeit Brian das Bild meines Vaters ersetzt, den ich nie kannte. Er ist auf dem Meer geblieben, wie Mrs. Phibbs immer erklärte, mit einer Mischung aus Mitleid und Respekt. Meine Mutter war gerade einmal eineinhalb Jahre mit ihm verheiratet gewesen und ich ein Baby von fünf Monaten, als sich herausstellen sollte, dass er nicht mehr zurückkam.

„April? Nun komm schon, du musst zur Schule!“ Die Stimme meiner Mutter unterbrach meine Träumerei.

Schule! Als ob das jetzt, in diesem Moment wichtig war! Andererseits – heute hatte ich endlich einmal etwas wirklich Aufregendes zu erzählen!

Ich schlüpfte schnell in den dunkelblauen Rock und die weiße Bluse, die ich jeden Tag, sobald ich nach Hause kam, sorgfältig auf den Kleiderbügel hängen musste, zog die Kniestrümpfe an und hüpfte die Treppe hinunter. Mein Herz sprang wie ein Gummiball mit.

War Brian noch da? Hatte ich es mir am Ende nur eingebildet? Ja, er war es! Er saß jetzt am Tisch, einen Teller vor sich, darauf ein Berg von Speck, Bohnen und Rührei. Mum holte gerade zwei Scheiben Brot aus dem Toaster. Er wartete, bis wir beide uns setzten. Ich beäugte Mum vorsichtig. Ja, sie sah richtig glücklich aus, hatte so ein Strahlen im Gesicht, das von innen kam. So hatte sie schon lange nicht mehr ausgesehen – oder nein, eigentlich noch nie!

Auch Brian strahlte irgendwie. Ich gluckste vergnügt.

„Was ist so lustig, Prinzessin?“ Brian zwinkerte mir zu. Er machte das auf eine richtig coole Art, indem er das linke Auge ganz lange zukniff und erinnerte umso mehr an einen Piraten.

Brian war Künstler und schon deshalb aufregend und interessant. Er war vor einigen Jahren nach Portree gekommen, ich wusste nicht so genau, woher. Ich glaube, er erzählte auch nicht gerne etwas darüber, was er vorher gemacht hatte. Er schmiedete riesige Metallfiguren. Mum und ich waren einmal bei ihm zu Besuch gewesen und ich fand es faszinierend, in der Schmiede zu stehen, die Hitze zu spüren, Brian zu beobachten, wie er unermüdlich auf das glühende Metallstück einschlug, mit nacktem, schweißbedecktem Oberkörper. Irgendwelche reichen Leute bestellten seine Arbeiten, für die er lange brauchte und deshalb auch nicht viele davon verkaufte. Deshalb musste er noch mit etwas anderem Geld verdienen. Er bastelte Schmuck aus Silberdraht und meine Mutter bot ihn in ihrem Laden an. Ich liebte Brians Broschen, Anhänger, Ringe, kunstvoll verschlungen, mit winzigen Steinen darin, in allen Farben. Hauptsächlich Tiere wie Schmetterlinge, Libellen und Käfer, aber auch Vögel. Meiner Mutter hatte er schon einige geschenkt. Sie bewahrte sie in einer kleinen, mit rosa Seidenpapier ausgeschlagenen Schachtel auf, und wenn ich besonders brav war, durfte ich sie manchmal ansehen.

„Trödel nicht, April. Iss deinen Porridge.“ Mum schob mir die Schüssel hin.

„Hmmm.“ Brian schnupperte genießerisch und seine braunen Augen blitzten. „Porridge mit Honig. Den hätte ich auch gerne.“ Er grinste mich frech an.

Ich zog die Schüssel zu mir. „Auf keinen Fall“, platzte ich heraus. „Das ist meiner. Du kannst von mir aus Eier, Speck und Schinken und sogar meine Mutter haben, aber meinen Porridge kriegst du nicht, du Pirat!“

Für einen Moment herrschte Stille. Mir wurde heiß und die Röte schoss mir ins Gesicht. Doch bevor ich ein Wort der Entschuldigung herausbrachte, fing Brian an zu lachen. Er lachte und lachte, bis Tränen über sein Gesicht liefen, steckte meine Mutter an und schließlich auch mich.

So fing unser kurzes Glück an. Es versank ein paar Monate später im November zuerst in einem Meer von Horror, Schmerzen und Tränen und danach in bodenloser, grausiger Finsternis. Einer Finsternis, die mich niemals mehr loslassen sollte. Seit damals wusste ich, dass die Hölle von einer unendlichen Kälte sein musste.

Schmetterlingstränen

Подняться наверх